Das Kurdische ist eine schon immer durch Migration stark geprägte Sprache und kann mit ihren verschiedenen Dialekten und Varietäten1 als in sich mehrsprachig betrachtet werden. Gleiches gilt für ihre Sprecher*innen; sie sind meist mehrsprachig, sie sprechen unterschiedliche Dialekte und Varietäten des Kurdischen (beispielsweise Kurmancî) und oft (eine) weitere Sprache(n). Dieser Vielfältigkeit steht konträrer Weise oft eine geopolitische und auf die Sprachbiografie eines Teils der Sprecher*innen des Kurdischen Einfluss nehmende Entwicklung gegenüber: das Verschweigen und nicht Weitergeben des Kurdischen als einer in der Familie (meistens gesprochenen) präsenten Sprache (vgl. Brizić 2007: 39).2 Es stehen sich somit beim Kurdischen interessanterweise häufig zwei einflussreiche Dynamiken gegenüber: ‚sprachliche Vielfalt‘ vs. ‚sprachliches Schweigen‘. Mindestens dieser Gegensatz macht das Kurdische zu einem spannenden wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand für viele wissenschaftliche Disziplinen. Jedoch gehört das Kurdische beispielsweise in der deutschsprachigen Mehrsprachigkeitsforschung oder Spracherwerbsforschung (trotz der in den letzten Jahren stetig steigenden Sprecher*innenzahlen in Deutschland) zu den Sprachen, die im Vergleich zu anderen Migrationssprachen weniger erforscht ist. Innerhalb der Mehrsprachigkeitsforschung versucht Yaşar Kırgız mit seiner longitudinal angelegten empirischen Fallstudie „Mehrsprachigkeit im Kontext des Kurmancî-Kurdisch und des Deutschen“ diesem Desiderat für den elementaren (Bildungs-)Spracherwerb gerecht zu werden.
Die Monografie von Kırgız geht der Frage nach, „wie sich [in acht Monaten] die Sprachkompetenz der sechs ausgewählten Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren in Kurmancî-Kurdisch und in Deutsch [der Berliner Kindertagestätte Pîya] entwickelt“ (S. 19). Nach einer Einleitung (Kapitel 1) werden Forschungsziel, -fragen und -hypothesen generiert. Der Untersuchung liegen vier Forschungsfragen und acht daraus abgeleitete Hypothesen zugrunde. Die Forschungsfragen gehen der erzählgenerierten Sprachkompetenz der Studienkinder und ihrer Entwicklung im Erhebungszeitraum (1), den grammatischen Merkmalen in den sprachlichen Daten (2), der Sprachkompetenz in weiteren Sprachen (3) und der Rolle der Kindertagestätte (Kita) Pîya beim Erwerb des Kurdischen und des Deutschen (4) nach. Mit den aus den Forschungsfragen generierten Hypothesen geht Kırgız in zwei zentralen Bereichen verschiedenen Desiderata nach:
I. Dokumentation des Spracherwerbs und Ermittlung der Sprachkompetenzen der Studienkinder (Schwerpunkt der Studie) und
II. Einflussfaktoren (Kita Pîya und Familien der Studienkinder) auf diese.
Der theoretische Teil der Arbeit umfasst zunächst eine kontrastiv angelegte linguistische Analyse der Sprachen Kurmancî-Kurdisch und Deutsch der Reihe nach auf phonologischer, morphologischer und syntaktischer Ebene. Diese Analyse bildet die theoretische Grundlage für den Bereich I. Der Analyse des Kurmancî-Kurdisch werden geografische und soziolinguistische Besonderheiten vorgeschaltet. Dass die Sprachen der Reihe nach kontrastiv analysiert werden, führt zu Redundanzen, die der Autor durch eine andere Systematisierung hätte vermeiden können. So wird beispielsweise die Komplexität der Silbenstruktur von Wörtern analysiert; erst für das Kurmancî-Kurdische (Kapitel 4.1.4.1), anschließend für das Deutsche (Kapitel 4.2.1). Beide Kapitel stellen unter Rückbezug zur anderen Sprache die Besonderheiten dar, sodass ebendann Redundanzen entstehen.
Nach der Sprachanalyse widmet sich Kırgız dem Diskurs um Mehrsprachigkeit und Spracherwerb und bezieht sich dabei insbesondere auf den Spracherwerb im frühkindlichen Alter und damit der Erzählkompetenz und der mehrsprachigen Sprachkompetenz. Auch wird, zwar sehr kurz, auf die Bedeutung des mehrsprachigen frühkindlichen Spracherwerbs in der Kita eingegangen (Bereich II). Dass dies sehr knapp behandelt wird und eher den Charakter einer Bestandsaufnahme hat, ist dem Umstand geschuldet, dass es sich bei diesem Bereich um einen eher neuen Diskurs handelt, der noch viele Desiderata aufweist (vgl. Montanari/Panagiotopoulou 2019). Für seine Untersuchung prognostiziert Kırgız im Theorieteil auch für das im Rahmen dieser Studie untersuchte Forschungsfeld – Kita Pîya – mögliche Herausforderung für die Erwerbskonstellation Kurmancî-Deutsch, die er durch die Ergebnisse bestätigt. Dabei zeigt sich, dass das Angebot der Kita zum Kurdischen von den Studienkindern weniger als das Angebot zum Deutschen (unabhängig vom familiären sprachlichen Umfeld) angenommen wurde.
Der methodische Teil der Arbeit umfasst die Beschreibung des Forschungsfelds, das konkrete Vorgehen und die Beschreibung sowie die Wahl der Instrumente und die biografische Beschreibung der Studienkinder. Die Auswahl der Instrumente orientiert sich an der Sprachenvielfalt der Studienkinder. Das Instrument MAIN (Multilingual Assessment Instrument for Narratives) nach Gagarina/Klop/Kunnari/Tantele/Väliaa/Balčiūnienė/Bohnacker/Walters (2012) wird für die Ermittlung der Sprachkompetenzen in Kurmancî und Deutsch zu drei Erhebungszeitpunkten (EZP) und das Instrument LiSe-DaZ (Linguistische Sprachstandserhebung – Deutsch als Zweitsprache) nach Schulz und Tracy (2011) für die Ermittlung der Sprachkompetenzen in Deutsch zu zwei EZP eingesetzt. Weiterhin nutzt Kırgız das Instrument HAVAS 5 (Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstandes bei Fünfjährigen) nach Reich/Roth (2004) in Kombination mit einer Lexikonabfrage für die Erhebung der Sprachkompetenzen in weiteren Sprachen. Für den Bereich II führt der Autor Leitfadeninterviews (Entwicklung in Anlehnung an Brizić 2022) und teilnehmende Beobachtungen mit dem Personal der Kita und den Eltern der Studienkinder durch.
Mit dem Instrument MAIN zeigt Kırgız Hinweise zur Makro- und Mikrostruktur des Sprachgebrauchs der Studienkinder im Kurdischen und Deutschen im Vergleich zu Befunden in der Spracherwerbsforschung auf. So zeigt sich für die Makrostruktur, dass sich die Elaboration der Erzählkompetenz der Studienkinder im Laufe der MZP erhöht (S. 198), aber immer auch ein sprachliches Niveau für das Erzählen einer Geschichte in einer Sprache erreicht sein muss, selbst wenn in einer anderen Sprache das sprachliche Niveau höher ist (vgl. Bohnacker 2016). Damit schließt Kırgız seine Ergebnisse an Befunde von u.a. Bohnacker (2016) und Maviş/Tunçer/Gagarina (2016) an, die den Sprachgebrauch von Kindern mit anderen (Erst-)Sprachen erforscht haben. Für die Mikrostruktur konstatiert Kırgız, dass die Studienkinder im Deutschen „mehr kommunikative Einheiten bilden“ (S. 201) und führt dies auf die sprachsystematischen Unterschiede zwischen dem Kurdischen und Deutsch hinsichtlich der Typen-Token-Relation zurück. Zum anderen leitet Kırgız die mögliche Dominanz des Deutschen im Sprachgebrauch daraus ab, dass durch die Übernahme deutscher Wörter ins Kurdische die Erzählung im Kurdischen unterstützt wird. Weiterführend geht er in einem Unterkapitel (7.3.3) vertiefend auf „Ad-hoc-Entlehnungen und Codeswitching“ ein, die die Dominanz des Deutschen in den Erzählungen bestätigen.
Die Ergebnisse aus LiSe-DaZ zum Sprachverständnis und zur Sprachproduktion im Deutschen verdeutlicht die Dynamik im Spracherwerb des Deutschen mehrsprachiger Kinder und der Spracherhebung im Deutschen anhand normorientierter Instrumente. Auch wenn zum ersten MZP die Studienkinder morphosyntaktische Diskrepanzen im Vergleich zu Vergleichsgruppen aufweisen, entwickeln sich die meisten Kinder im Laufe der Erhebung auf das Niveau der Vergleichsgruppe; auch wenn die Studienkinder bezüglich der Kategorien Erwerbsbeginn, -alter und -bedingungen Unterschiede zu Vergleichsgruppen aufweisen.
Die Ergebnisse mittels HAVAS 5 und einer Lexikonabfrage verdeutlichen, dass Studienkinder ihre weiteren Sprachen kaum produktiv nutzen und diese somit kaum bis keinen Einfluss auf die Sprachen Kurmancî und Deutsch haben.
In der Arbeit fällt immer wieder die Verwendung von Kategorien wie ‚Kurd*innen‘ oder ‚kurdische Kinder‘ auf. Auch wenn der Autor an vielen Stellen seiner Arbeit auf die sprachpolitische Besonderheit des Kurdischen eingeht, wäre ein kritischer Umgang mit Zuschreibungen wünschenswert gewesen, um die Bedeutung von Mehrsprachigkeit unter den Bedingungen der Migrationsgesellschaft für den Spracherwerb von Sprachen hervorzuheben (vgl. Dirim/Knappik/Thoma 2018: 51–62). Weiterhin fällt die Aussage auf, dass „die meisten Kurd*innen die Migration zweisprachig antreten“ (S. 208). Besonders die soziolinguistisch angelegte Studie von Brizić (2007) zeigt, dass insbesondere in aus der Türkei nach Österreich migrierten Familien die Weitergabe der Erstsprache der Eltern (hier Kurdisch) nicht immer stattfindet, eher eine durch Zwangsassimilation rudimentäre Varietät des Türkischen als Zweitsprache weitergegeben wird.
Bei der Auswahl der Instrumente fällt auf, dass das monolingual normorientierte Eruieren von Sprachkompetenzen und somit ein für die entsprechende Sprache festgelegter Standard fokussiert wird. Es stellt sich allerdings angesichts der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit der Studienkinder die Frage, ob diese Form von Studien nicht Instrumente benötigen, die auch das Erheben von durch Migration geprägten sprachlichen Varietäten ermöglichen. Besonders für das Kurdische, das in sich eine hohe Dynamik aufzeigt, wäre die Entwicklung eines Analyseinstrumentes geeignet gewesen, das ebendiese dynamische Struktur des Kurdischen wie auch migrationsbedingte sprachliche Dynamiken mitdenkt. LiSe-DaZ ermöglicht zwar separate Normwerte für sog. Deutsch als Zweitsprachensprecher*innen und erweitert somit die Spracherhebung hinsichtlich der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit (vgl. Lemmer/Voet Cornelli/Schulz 2021: 206). Jedoch wird mit diesem Instrument die Sprachkompetenz ausschließlich in der deutschen Sprache erhoben. Der Mehrsprachigkeitsdiskurs braucht Instrumente, die die Sprachkompetenzen von mehrsprachigen Sprecher*innen als „variationsreiches Gebilde“ (Lengyel 2022: 8) erheben. Für frühkindliche sprachliche Aktivitäten haben die Forscherinnen Dirim, Lengyel, Savaç und Demir (2022) das Instrument ELA (Erfassung früher literaler Aktivitäten) für das Sprachenpaar Deutsch-Türkisch entwickelt. Es berücksichtigt die Erhebung von Sprachkompetenzen in beiden Sprachen unter den Bedingungen migrationsbedingter Mehrsprachigkeit und stellt damit fest, dass der sprachdiagnostische Mehrsprachigkeitsdiskurs u.a. eine variationslinguistische Ausrichtung braucht.
Für die Erforschung des Kurdischen im Kontext der mehrsprachigen Sprach(en)erwerbsforschung im elementaren Bildungskontext stellt Kırgız Arbeit einen Meilenstein dar. Mit seinen Ergebnissen erweitert Kırgız die Erkenntnisse der Spracherwerbs- und Mehrsprachigkeitsforschung (vor allem für den Sprachenerwerb des Kurdischen). Besonders interessant sind die Deutungen der Ergebnisse, da hier insbesondere die Dynamik von Spracherwerbsprozessen und der Erwerbskonstellationen der Sprecher*innen deutlich werden, die sich durch Migration ergeben. Auf Grundlage der Ergebnisse dieser Arbeit kann auch die relevante Frage abgeleitet werden, dass es Sprachdiagnoseinstrumente braucht, die deutlich stärker Spracherwerbskonstellationen unter den Bedingungen der Migrationsgesellschaft forcieren.
Notes
- Zur Diskussion um den Versuch der Kategorisierung mit den Begriffen Dialekt, Varietät und Sprache siehe u.a. Skubsch 2002: 265–266. [^]
- Auch wenn aktuell nicht von einem Kurdisch-Verbot offiziell gesprochen werden kann, ist die Wirkmacht des über Jahre hinweg existierenden Sprachverbots auch heute noch in den Sprachbiografien von Menschen zu beobachten. [^]
Literatur
Bohnacker, Ute (2016): Tell me a story in English or Swedish: Narrative production and comprehension in bilingual preschoolers and first graders. Applied Psycholinguistics 37: 1, 19–48.
Brizić, Katharina (2007): Das geheime Leben der Sprachen. Gesprochene und verschwiegene Sprachen und ihr Einfluss auf den Spracherwerb in der Migration. Münster: Waxmann.
Brizić, Katharina (2022): Der Klang der Ungleichheit. Biografie, Bildung und Zusammenhalt in der vielsprachigen Gesellschaft. Münster: Waxmann.
Dirim, İnci; Knappik, Magdalena & Thoma, Nadja (2018): Sprache als Mittel der Reproduktion von Differenzordnungen. In: Dirim, İnci & Mecheril, Paul (Hrsg.): Heterogenität, Sprache(n) und Bildung. Eine differenz- und diskriminierungstheoretische Einführung. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, 51–62.
Gagarina, Natalia; Klop, Daleen; Kunnari, Sari; Tantele, Koula; Väliaa, Taina; Balčiūnienė, Ingrida; Bohnacker, Ute & Walters, Joel (2012): MAIN. Multilingual Assessment Instrument for Narratives. ZAS Papers in Linguistics 56. http://doi.org/10.21248/zaspil.56.2019.414
Lemmer, Rabea; Voet Cornelli, Barbara & Schulz, Petra (2021): Warum Sprachdiagnostik bei Mehrsprachigkeit von besonderer Bedeutung ist. Praxis Sprache 4, 204–210.
Lengyel, Drorit (2022): Erfassung früher türkisch-deutscher Literalität – ELA (Kurz-)Vorstellung des Instruments. Vortragsfolien im Rahmen der Vorstellung des Diagnoseinstruments ELA am 05.10.2022 an der Universität Wien. https://kommm.phwien.ac.at/wp-content/uploads/2022/10/ELA-_Lengyel.pdf (07.02.2023).
Maviş, İlknur; Tunçer, Müge & Gagarina, Natalia (2016): Macrostructur components in narrations of Turkish-German bilingual children. Applied Psycholinguistics 37: 1, 69–89.
Montanari, Elke G. & Panagiotopoulou, Julie A. (2019): Mehrsprachigkeit in Bildung und Kitas und Schulen. Tübingen: Narr.
Reich, Hans H. & Roth, Hans-Joachim (2004): Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstandes bei 5-Jährigen (HAVAS-5). Auswertungshinweise. Hamburg: Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung.
Schulz, Petra & Tracy, Rosemarie (2011): LiSe-DaZ. Linguistische Sprachstandserhebung – Deutsch als Zweitsprache. Göttingen: Hogrefe.
Skubsch, Sabine (2002): Kurdische Migration und deutsche (Bildungs-)Politik. Münster: Unrast.
Dr. Tülay Altun, Universität Paderborn