1 Einleitung
Nehmen1 wir an, Herbert ist Hobbybäcker. Jede Woche backt er mindestens ein Hefeteigbrot, gerne auch für einen geselligen Sonntagsbrunch. Herbert benutzt nur erstklassige lokale und biologisch angebaute Zutaten. Früher knetete er den Teig – zweimal, zwischen zwei Aufgehphasen – von Hand, seit ein paar Monaten macht er das mit einer KitchenAid Maschine, die er liebevoll Kimberley nennt. Auslöser für den Maschinenkauf war, dass er wegen einer hartnäckigen Sehnenscheidenentzündung am rechten Handgelenk nicht kneten konnte. Die Sehnenscheidenentzündung ist mittlerweile weg, Kimberley ist geblieben. Herbert lässt sie jede Woche für deutlich längere Zeit den Teig kneten als er das von Hand getan hatte. Er muss sich eingestehen, dass das Brot seither noch luftiger geworden ist. Die Brunchgäste sind ebenfalls glücklich und loben Herberts Backkünste noch mehr als vor der Anschaffung von Kimberley. Herbert gilt, seit Kimberley in sein Leben getreten ist, nicht als weniger kompetenter Hobbybäcker, eher im Gegenteil, denn jetzt fabriziert er noch häufiger und auch mehr unterschiedliches Gebäck als zuvor. Niemand verübelt ihm das Hinzuziehen einer Maschine. Die kompetente Verwendung von der Aufgabe angepassten Werkzeugen wird akzeptiert, ist eventuell gar erwünscht, da das Produkt sich verbessert.
Im Vergleich dazu wird im Sprachenbereich das Hinzuziehen von Werkzeugen unterschiedlich bewertet: Einerseits betonen viele zeitgenössische didaktische Modelle den wichtigen Stellenwert von Strategien, sowohl im metasprachlichen wie auch im metakognitiven, das eigene Lernen fokussierenden Bereich. Das Hinzuziehen von Werkzeugen, die mit geringem sprachlich-kognitiven Aufwand zwischen Sprachen übersetzen (helfen), und so in gewisser Weise Kommunikationsprobleme direkter lösen (helfen), wird hingegen weniger positiv wahrgenommen. Im pädagogischen Bereich sind sie gar oft explizit verboten. Viele von uns verwenden jedoch automatische Übersetzungstools, wenn wir in weniger gut beherrschten Sprachen schriftlich kommunizieren müssen oder wollen. In der Regel löschen wir jedoch etwas verschämt den Vermerk „traduit avec www.DeepL.com/ Translator“ am Schluss des übersetzten Textes, bevor wir die E-Mail abschicken.
Der Rückgriff auf solche digitale Werkzeuge im sprachlichen Bereich wird also, anders als in Herberts Hobbybackstube, nicht immer als legitim und als Ausdruck von Kompetenz bewertet, obwohl auch hier der Prozess oder das Resultat der (sprachlichen) Handlung – normalerweise – verbessert wird. DeepL und ähnliche Werkzeuge werden zumeist eher als Instrumente wahrgenommen, die helfen, fehlende Kompetenz zu kompensieren. In einer kürzlich durchgeführten Umfrage (Udry/Berthele, in review) haben wir danach gefragt, inwiefern Lehrpersonen und Lernende es unehrlich finden, digitale Übersetzungstools zu verwenden, da Kompetenzen, die gar nicht vorhanden sind, vorgetäuscht werden können (Abb. 1). Es zeigt sich, dass besonders Lehrpersonen im postobligatorischen Bereich (Gymnasium und Berufsbildung) die Toolbenutzung als unehrlich empfinden. Die Lernenden dagegen haben deutlich weniger Skrupel.
Der sprachpädagogische Bereich zeichnet sich durch seinen positiven, ressourcenorientierten Blick auf Mehrsprachigkeit aus. Einsprachige, puristische Normen werden hinterfragt und von ihnen abweichende Sprachverwendung wird als normale, legitime Form sprachlichen Handelns betrachtet. Es geht um funktionale Mehrsprachigkeit, um das Handeln-Können in verschiedenen Sprachen, und nicht um Perfektion. Darf dieses Handeln aber auch mit punktuellem oder systematischem Einbezug von digitalen Werkzeugen stattfinden?
In deutschen und schweizerischen Bildungskontexten sind die Lernziele (teilweise in Form von Bildungsstandards) in Fremdsprachen zu einem beträchtlichen Teil als Beschreibungen von sprachlichen Handlungen formuliert. Im vorliegenden Beitrag möchten wir untersuchen, inwiefern gängige, frei zugängliche elektronische Hilfsmittel das Ausführen dieser Handlungen ermöglichen, entweder ganz ohne Sprachlernbedarf oder mit nur minimalem Lernaufwand. Dies tun wir nicht mit der Intention, zu zeigen, wie obsolet Fremdsprachenunterricht (FSU) im digitalen Zeitalter sei, sondern im Gegenteil mit dem Ziel, besser zu verstehen, welche sinnvolle Rolle dem FSU in einer Welt zukommen soll, in der Smartphones gratis und innert Sekunden (sogar mit Schweizer Akzent) gesprochenes Deutsch in korrektes gesprochenes Slowakisch übersetzen können.
2 Lernziele und Referenzrahmen
Es ist hier weder möglich noch nötig, die ‘Kompetenzorientierung’ im schulischen Bereich umfassend zu diskutieren und zu problematisieren (vgl. Bronckart/Dolz 1999; Klieme 2003 für vertiefende Diskussionen des Kompetenzbegriffs). Für den sprachlichen Bereich können wir festhalten, dass in Europa sowohl auf supranationaler wie auch auf nationaler Ebene durchwegs ähnlich gefasste Definitionen und Zielsetzungen anzutreffen sind. So wird beispielsweise in einem Dokument der EU die „Multilingual Competence“ folgendermassen umschrieben (Beispiel 1):
1. This competence defines the ability to use different languages appropriately and effectively for communication. [… I]t is based on the ability to understand, express and interpret concepts, thoughts, feelings, facts and opinions in both oral and written form (listening, speaking, reading and writing) in an appropriate range of societal and cultural contexts according to one’s wants or needs. Languages [sic] competences integrate a historical dimension and intercultural competences. It relies on the ability to mediate between different languages and media, as outlined in the Common European Framework of Reference. (Directorate-General for Education 2019: 7)
Der Verweis auf den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (GER/CEFR) (Europarat 2001) ist kein Zufall, dieses Dokument und seine zahlreichen Satellitentexte prägen in bemerkenswerter Weise seit gut 20 Jahren die institutionellen Konzeptionen des Lernens und Benutzens von Sprachen (zumindest in Westeuropa). Im kürzlich erschienenen Begleitband wird diese Handlungsorientierung noch einmal deutlich (Beispiele 2 und 3).
2. The methodological message of the CEFR is that language learning should be directed towards enabling learners to act in real-life situations, expressing themselves and accomplishing tasks of different natures. Thus, the criterion suggested for assessment is communicative ability in real life, in relation to a continuum of ability (Levels A1-C2). (Council of Europe 2020: 29)
3. Above all, the action-oriented approach implies purposeful, collaborative tasks in the classroom, the primary focus of which is not language. (Council of Europe 2020: 30)
Formulierungen von Lernzielen, etwa die der deutschen Kultusministerkonferenz (KMK) oder der schweizerischen Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK), übernehmen diese Ausrichtung und verweisen oft auch auf den Referenzrahmen (Beispiele 4 und 5).
4. Dabei zielt der Fremdsprachenunterricht auf den Erwerb grundlegender kommunikativer Fähigkeiten und Fertigkeiten, die kontinuierlich entwickelt werden, sowie elementarer sprachlicher Mittel, die die Schülerinnen und Schüler in lebensnahen und kindgerechten Situationen erproben und festigen können. Ziel sind die Anbahnung und der Aufbau einer interkulturellen kommunikativen Handlungsfähigkeit. (KMK 2013: 4)
5. Ausgangspunkt ist der handlungsorientierte Ansatz, welcher die Sprachverwendung zu Zwecken der mündlichen und schriftlichen Kommunikation im Zentrum hat. (EDK 2011: 5)
Diese Kompetenzorientierung legt also den Fokus nicht auf sprachliche Mittel und lernersprachliche Entwicklungsmodelle, wie sie etwa in der Zweitspracherwerbsforschung untersucht werden (vgl. Dimroth 2019), sondern auf die Handlungen, die mit (nicht weiter spezifizierten) sprachlichen Mitteln ausgeführt werden können. Beschrieben werden Teilkompetenzen, die bestimmten Skills oder Kommunikationsmodi zugeordnet werden können (etwa Lesen, Schreiben, Sprechen, Hören, Sprachmittlung).2 Zusätzlich werden sowohl im Referenzrahmen wie auch in den von ihm beeinflussten sprachpädagogischen Rahmendokumenten metakognitive (Strategien), metasprachliche, interkulturelle und politische Komponenten mitformuliert, letztere beispielsweise im Sinne einer „European Citizenship“ (z.B. Council of Europe 2020: 27). Alle diese Komponenten sind Teil des (handlungsorientierten) Gesamtprogramms, das auch soziokonstruktivistische Ansätze einbezieht (siehe beispielsweise das in Piccardo/North 2019 formulierte Programm). Für unser Erkenntnisinteresse scheint uns wichtig, zwischen der Handlungsorientierung im engeren Sinn (rezeptive und produktive Skills), die jeweils prioritär in den Lernzielen und Bildungsstandards behandelt werden, und den übrigen, integrativen Komponenten zu unterscheiden.
Verschiedene Aspekte dieses ambitiösen Gesamtprogramms werden von didaktischer Seite in Frage gestellt (vgl. Maurer 2011) sowie von soziolinguistischer Seite kritisch aufgearbeitet (vgl. Sokolovska 2021). Auch die neueste Entwicklung, nicht nur sprachliche Skills wie Lesen oder Sprechen zu skalieren, sondern auch eine ‚Kulturskala‘ für Unterricht und Evaluation vorzuschlagen, wird von Seiten der Evaluationsforschung mit gemischten Gefühlen aufgenommen (vgl. Studer 2020).
3 Was sollen Schülerinnen und Schüler am Ende der Sekundarstufe I können?
Zur Beantwortung unserer Frage nach dem Verhältnis von handlungsorientierten Kompetenzbeschreibungen und den Möglichkeiten elektronischer Hilfsmittel fokussieren wir auf die Lernziele, die in Deutschland und der Schweiz für Fremdsprachen formuliert werden. Um den Aufwand nicht explodieren zu lassen, konzentrieren wir uns auf die Lernziele, die für das Ende der Sekundarstufe 1 formuliert werden. In Deutschland kann man hierzu die Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss heranziehen (KMK 2003), in der Schweiz die HarmoS-Bildungsstandards, die für das 11. Schuljahr formuliert werden (EDK 2011).3
Es ist für unseren Zusammenhang sinnvoll, primär zwischen dem schriftlichen und dem mündlichen Medium zu unterscheiden. Für das schriftliche Medium wird die Handlungsorientierung mit typischen Kannbeschreibungen wie in 6–9 erfasst. Die Deskriptoren in der Schweiz (6 und 7) gelten für die 1. und die 2. Fremdsprache, in der deutschsprachigen Schweiz je nach Region zuerst Englisch und dann Französisch oder umgekehrt:
6. Die Schülerinnen und Schüler können in kürzeren einfachen Texten über Menschen und vertraute Erfahrungsbereiche schreiben. Sie können kurz und einfach über persönlich relevante Ereignisse und Erfahrungen berichten und können ganz einfache Geschichten erzählen. Sie können kurze, einfache Notizen und Mitteilungen schreiben, um persönliche Bedürfnisse zu kommunizieren, und können ganz einfache persönliche Briefe schreiben. (EDK 2011: 27)
7. Die Schülerinnen und Schüler können kürzere Texte zu vertrauten Themen lesen, um wichtige Informationen zu finden und zu verstehen sowie die Hauptaussagen zu erfassen – vorausgesetzt die Texte sind in alltags- oder schulbezogener Sprache geschrieben. (EDK 2011: 24)
Die entsprechenden Deskriptoren im deutschen Kontext sind in 8 und 9 wiedergegeben.
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8. Englisch: Die Schülerinnen und Schüler können weitgehend selbstständig verschiedene Texte aus Themenfeldern ihres Interessen- und Erfahrungsbereiches lesen und verstehen (B1+).
Französisch: Die Schülerinnen und Schüler können verschiedene unkomplizierte Texte aus Themenfeldern ihres Interessen- und Erfahrungsbereiches lesen und verstehen (B1). (KMK 2003: 12)
9. Die Schülerinnen und Schüler können zusammenhängende Texte zu vertrauten Themen aus ihrem Interessengebiet verfassen (B1). (KMK 2003: 13)
In den beiden Kompetenzbereichen Lesen und Schreiben können Programme wie DeepL, MicrosoftTranslate oder GoogleTranslate für die gängigen Sprachen (wie Englisch, Französisch, Deutsch) qualitativ gute Übersetzungen zwischen der beherrschten und nicht beherrschten Sprache anfertigen, vorausgesetzt sie werden sachgemäss benutzt (d.h. es werden z.B. nicht Einzelwörter, sondern ganze Sätze oder Textabschnitte eingegeben).4
In der Mündlichkeit sind die Verhältnisse weniger klar. Wir diskutieren im Folgenden vor allem die Standards der deutschen Kultusministerkonferenz, da diese höher sind als ihr schweizerisches Gegenstück und somit potenziell herausfordernder für elektronische Hilfsmittel. Für Englisch und Französisch als Fremdsprachen werden die folgenden Lernziele formuliert (Beispiele 10 und 11):
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10. Die Schülerinnen und Schüler können Erfahrungen und Sachverhalte zusammenhängend darstellen, z. B. beschreiben, berichten, erzählen und bewerten (B1).
Die Schülerinnen und Schüler können
a) mit einfachen Mitteln Gegenstände und Vorgänge des Alltags beschreiben, z. B. Rezepte, Wegbeschreibungen, Spielregeln, Bedienungsanleitungen (A2),
b) eine vorbereitete Präsentation zu einem vertrauten Thema vortragen, wobei die Hauptpunkte hinreichend präzise erläutert werden (B1),
c) für Ansichten, Pläne oder Handlungen kurze Begründungen oder Erklärungen geben (B1). (KMK 2003: 13)
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11. Die Schülerinnen und Schüler können unkomplizierte Sachinformationen über gewöhnliche alltags- oder berufsbezogene Themen verstehen und dabei die Hauptaussagen und Einzelinformationen erkennen, wenn in deutlich artikulierter Standardsprache gesprochen wird (B1+).
Die Schülerinnen und Schüler können (Englisch und Französisch)
a) im Allgemeinen den Hauptpunkten von längeren Gesprächen folgen, die in ihrer Gegenwart geführt werden (B1),
b) Vorträge verstehen, wenn die Thematik vertraut und die Darstellung unkompliziert und klar strukturiert ist (B1+),
c) Ankündigungen und Mitteilungen zu konkreten Themen verstehen, die in normaler Geschwindigkeit in Standardsprache gesprochen werden (B2),
d) vielen Filmen folgen, deren Handlung im Wesentlichen durch Bild und Aktion getragen wird (B1). (KMK 2003: 11)
Die Schweizer Standards sind insgesamt etwas tiefer (in der Regel Niveau A2.2), auch hier werden aber in der Mündlichkeit interaktive Kompetenzen formuliert (Beispiel 12).
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12. Die Schülerinnen und Schüler können sich mit etwas Hilfe recht gut an Gesprächen beteiligen – vorausgesetzt es handelt sich um eine strukturierte Gesprächssituation im vertrauten Rahmen.
Sie können in Gesprächen über vertraute Themen das Wesentliche und wichtige Einzelinformationen verstehen, wenn man mit ihnen deutlich artikuliert spricht und wenn sie nachfragen und um Erklärungen bitten können.
Sie können sagen, dass sie nicht verstehen und den Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin auf einfache Weise um Hilfe bitten sowie fragen, ob der Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin verstanden hat.
Sie können mit einfachen Sätzen und Wendungen Informationen und Gedanken zu vertrauten Themen austauschen und sich in routinemässigen Situationen verständigen. (EDK 2011: 25)
Wenn elektronische Hilfsmittel wie beispielsweise automatische Live-Übersetzung in Videokonferenzen (etwa mit Microsoft Teams oder Zoom) als Option herangezogen werden (ein solches Tool ist beispielsweise elitr.eu – European Live Translator), so ist es im Prinzip möglich, eine Präsentation in einer Sprache (dominante Sprache oder ‚Muttersprache‘) zu halten, während die Übersetzung in die Zielsprache in Form von Text (Untertitel oder auf einer Webseite) angezeigt wird (Beispiel 10b). Umgekehrt kann man somit auch eine Präsentation in einer Fremdsprache verstehen (Beispiel 11b), wenn diese automatisch untertitelt/übersetzt wird. Wir haben in den Pandemiejahren verschiedentlich an Konferenzschaltungen teilgenommen, in denen ein solcher Dienst angeboten wurde. Unser Eindruck war, dass die Qualität der automatischen Übersetzungen stark variierte, wobei sie besonders von der Qualität des gesprochenen Originaltextes abhing. Aber auch Gespräche unter TeilnehmerInnen wurden nach unserer Beobachtung recht akkurat untertitelt (Beispiel 11a). OptimistInnen werden wohl anmerken, dass die Qualität dieser automatischen Übersetzungen sich angesichts des technologischen Fortschritts rasch verbessern wird. Sowohl die Kompetenzen aus Beispielen 10a und 10c können durch Smartphone-Applikationen (wie beispielsweise (SayHi Translate: Voice Translation for iOS and Android) bereits jetzt übernommen werden, auch mit weniger geläufigen Sprachen als Englisch, Französisch und Deutsch. Somit ist auch Beispiel 11c abgedeckt. Beispiel 11d bedarf Übersetzung durch z.B. Untertitelung, was im Moment nach unserem Wissensstand noch nicht automatisch möglich ist, wohl aber in vielen Streamingdiensten in einer zunehmenden Zahl von Sprachen verfügbar ist.5
Teilnahme an Gesprächen, die in Präsenz und nicht via Online-Plattformen stattfinden, wie sie in Beispiel 12 erfasst werden, scheint uns im Moment mit digitalen Tools nur durch umständliches Dazwischenschalten von Smartphone-Übersetzungen und damit nur als Notlösung praktikabel. Wenn man an berufliche Handlungsfelder denkt, auf die schulisches Sprachenlernen vorbereiten kann, so ist insbesondere im Fall von direktem Kundenkontakt wohl bis auf Weiteres mündliche Interaktionskompetenz in den Zielsprachen relevant. Sobald jedoch das zeitliche Intervall zwischen produktiven und rezeptiven Komponenten zunimmt, können computer- oder smartphonebasierte Applikationen in die Lücke springen.
Im Bereich der Sprachmittlung werden in beiden nationalen Kontexten ebenfalls Kompetenzen formuliert (Beispiele 13 und 14).
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13. Die Schülerinnen und Schüler können mündlich in Routinesituationen und schriftlich zu vertrauten Themen zusammenhängende sprachliche Äußerungen und Texte sinngemäß von der einen in die andere Sprache übertragen.
Die Schülerinnen und Schüler können
a) in Alltagssituationen sprachmittelnd agieren,
b) persönliche und einfache Sach- und Gebrauchstexte sinngemäß übertragen. (KMK 2003: 14)
14. SPRACHMITTLUNG MÜNDLICH – MÜNDLICH (GER A2.2) (wechselseitig aus einer Fremdsprache in eine zweite Fremdsprache – informelles Dolmetschen) Die Schülerinnen und Schüler können in einem einfachen Gespräch zwischen einer Person, die nur die erste Fremdsprache, und einer Person, die nur die zweite Fremdsprache spricht und versteht, einfache, kurze Fragen und Informationen zur Person (z.B. Herkunft, Hobbys) oder zu alltäglichen Situationen wechselseitig sinngemäss wiedergeben, sofern die fremdsprachigen Personen jeweils in deutlich artikulierter Standardsprache sprechen und bereit sind zu helfen; das begrenzte Spektrum sprachlicher Mittel in der Fremdsprache kann zu Formulierungsschwierigkeiten führen. (EDK 2011: 9)
Vorausgesetzt, dass ein gewisses zeitliches Intervall zwischen Rezeption und Produktion akzeptiert wird, kann aus dem oben Gesagten geschlossen werden, dass digitale Hilfsmittel solche Sprachmittlungshandlungen ganz übernehmen oder gut und effizient unterstützen können.
4 Abdeckung der Lernziele durch digitale Übersetzungstools
Die Lernziele für Fremdsprachen am Ende der Sekundarstufe I in Deutschland und in der Schweiz sind nicht identisch, aber nach analogen Grundsätzen formuliert. In beiden Kontexten werden Englisch und Französisch angesprochen, jedoch ist der institutionelle Status unterschiedlich: In der deutschsprachigen Schweiz ist Französisch eine obligatorische Fremdsprache, je nach Region ist es die erste (ab der 3. Klasse – neue Zählung, die mit der Kindergartenstufe beginnt, ist 5H) oder die zweite (ab der 5. Klasse, neu 7H). In Deutschland ist Englisch typischerweise die erste Fremdsprache (es gibt jedoch an verschiedenen Schulen auch die Folge mit Französisch als erster und Englisch als zweiter Fremdsprache) und Französisch optional.
Die Analyse der handlungsorientierten Lernzielbeschreibungen zeigt, dass eine Mehrheit der Handlungsbeschreibungen mit den gängigen, in der Regel gratis zur Verfügung stehenden digitalen Hilfsmitteln abgedeckt sind. Ausnahme ist die Mündlichkeit: Insbesondere die lebendige, relativ schnelle und spontane Interaktion zwischen SprecherInnen kann realistischerweise (noch) nicht technikvermittelt stattfinden. Behelfsmässig jedoch kann auch mündliche Interaktion mit digitaler Unterstützung von statten gehen, etwa mittels der Smartphone-App „sayHi“ (Amazon 2022). Dies ist zumindest aus aktueller Sicht jedoch eher eine Notlösung, die längerfristig durch eigenständigen Sprachgebrauch ersetzt werden sollte. Ein Argument für das Trainieren (und Evaluieren) von nicht-assistierter, spontaner mündlicher Sprachverwendung könnte entsprechend sein, dass das Verwenden von digitalen Werkzeugen die Kommunikation unnatürlich oder nicht-authentisch macht. Was jedoch als authentisch empfunden wird und was nicht, ist durchaus auch kulturellem Wandel unterworfen. Heute ist es vollkommen normal, dass sich Menschen durch den öffentlichen Raum bewegen, während sie lautstark via Mobiltelefon an einer Videokonferenz teilnehmen oder aus anderen Beweggründen auf ihren portablen Bildschirm starren – Verhaltensweisen, die noch vor wenigen Jahrzehnten vollkommen unbekannt waren. Wir können also nicht ausschliessen, dass es in Zukunft durchaus ‚authentisch‘ sein wird, sich auch in Gesprächen via Smartphone zu unterhalten.
Wenn auch Handlungsorientierung im Sinne von sprachlichen Skills dominiert, so werden doch in beiden analysierten nationalen Kontexten zusätzliche Lernziele vorgegeben, die über reine Handlungskompetenzen hinausgehen. Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz werden, wiederum im Sinne der Vorgaben des Referenzrahmens (Europarat 2001), interkulturelle und metakognitive Aspekte angesprochen (Beispiele 15 und 16):
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15. Interkulturelle Kompetenzen
• soziokulturelles Orientierungswissen
• verständnisvoller Umgang mit kultureller Differenz
• praktische Bewältigung interkultureller Begegnungssituationen
• Methodische Kompetenzen
• Textrezeption (Leseverstehen und Hörverstehen)
• Interaktion
• Textproduktion (Sprechen und Schreiben)
• Lernstrategien
• Präsentation und Mediennutzung
• Lernbewusstheit und Lernorganisation (KMK 2003: 8)
16. Der Unterricht in der ersten Fremdsprache entwickelt systematisch interkulturelle Kompetenzen; dabei orientiert er sich an dem Leitziel, bei den Schülerinnen und Schülern – auf der Basis eines Orientierungswissens zu exemplarischen Themen und Inhalten – Interesse und Verständnis für andere kulturspezifische Denk- und Lebensweisen, Werte, Normen und Lebensbedingungen auszubilden. Sie können eigene Sichtweisen, Wertvorstellungen und gesellschaftliche Zusammenhänge mit denen englisch- bzw. französischsprachiger Kulturen tolerant und kritisch vergleichen. Hiermit verbunden ist das Leitziel der Stärkung der eigenen Identität. (KMK 2003: 9–10)
Methodische Kompetenzen werden auch im Schweizer Kontext formuliert (Beispiel 17):
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17. Für Fremdsprachenfächer spezifische methodische Kompetenzen können sein:
• Die Fähigkeit, Hilfsmittel zum Nachschlagen und Lernen (z.B. ein Wörterbuch oder eine Lernergrammatik) selbständig zu nutzen.
• Die Kenntnis verschiedener Lernstrategien und die Bereitschaft und Fähigkeit, eine Auswahl davon gezielt anzuwenden.
• Die Fähigkeit, die Fremdsprache mit anderen Sprachen zu vergleichen, in der schon Kenntnisse erworben wurden, Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen und die in einer Sprache verfügbaren Kenntnisse einzusetzen, um eine Fremdsprache zu verstehen. (EDK 2011: 12)
Die in 15–17 umrissenen interkulturellen und metakognitiven/metalinguistischen Kompetenzen können aus prinzipiellen Gründen nicht an eine Maschine delegiert werden können, da Maschinen kein menschliches Bewusstsein haben. Sie können bestenfalls mittels künstlicher Intelligenz menschliches Denken und Handeln simulieren. Zumindest metakognitive Kompetenzen jedoch kann man auch entwickeln, ohne eine (neue) Sprache zu lernen. (Sie sind aber auch kein automatisches Ergebnis des Fremdsprachenlernens.)
5 Erreichen der Lernziele ohne elektronische Hilfsmittel
Ob die unterschiedlich hoch gesteckten Ziele am Ende der Sekundarstufe I auch wirklich erreicht werden, ist für unser Erkenntnisinteresse insofern wichtig, als das systematische Nicht-Erreichen der gesteckten Ziele potenziell die Kritik an den aktuellen Curricula befeuern kann. Mit anderen Worten: Wenn die angezielten Handlungskompetenzen in der öffentlichen Schule mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht oder nur schlecht erreicht werden, dann wird fast notgedrungen bald die Frage gestellt werden, ob sich denn der Aufwand lohnt, wo doch immer effizientere elektronische Hilfsmittel die Handlungsfähigkeit ohne grösseren Lernaufwand ermöglichen.
Die Englischkompetenzen am Ende der Sekundarstufe I (oder später) hängen nur marginal davon ab, wann der Unterricht genau beginnt (vgl. Baumert et al. 2020; Pfenninger/ Singleton 2017). Im Jahr 2015 erreichten gut 40 % der deutschen SuS den Regelstandard im Leseverstehen Englisch am Ende der Sekundarstufe I (vgl. Stanat et al. 2016: 156), im Hörverstehen sind es ungefähr 44 %. In der Schweiz (eine Evaluationsstudie der Region Zentralschweiz ist z.B. Peyer et al. 2016: 48) erreichen im Leseverstehen etwa 60 % der SuS die Basisstandards. Der Trend für die Englischkompetenzen scheint nach oben zu zeigen, wenn man beispielsweise die Veränderungen in den verschiedenen Evaluationsstudien des IQB-Instituts betrachtet. In einem unserer Projekte (Berthele/Udry 2021) mit neueren Daten als die zitierte Evaluationsstudie hatten wir im Kanton Zürich sogar bereits in der 4. Primarschulklasse (6H) eine beträchtliche Anzahl SuS mit Maximalpunktzahl in einem Englisch-Test, der Niveau B1 abtestet (Oxford University Press 2013) – der Basisstandard am Ende der 9. Klasse in der Schweiz ist A2 für die meisten Fertigkeiten. In belgischen Flandern, wo ähnlich wie in der westlichen Deutschschweiz zuerst Französisch und dann Englisch (ab Sekundarstufe I) unterrichtet wird, wurde festgestellt, dass die Englischkompetenzen zumindest rezeptiv bei vielen SuS bereits auf Niveau B1 sind, bevor auch nur eine einzige Lektion Englisch unterrichtet wurde (vgl. De Wilde/Eyckmans 2017). Es ist anzunehmen, dass ganz generell ausserschulisches Lernen von Englisch einen wichtigen Beitrag zu Englischkompetenzen leistet – je nach Perspektive in Konkurrenz oder im Zusammenspiel mit dem schulischen FSU. Dies kann auch am Befund abgelesen werden, dass geschlechtstypische Aktivitäten wie online-Spielen nachweislich mit Englischkompetenzen zusammenhängen, was den sonst weitverbreiteten Geschlechtsunterschied im schulischen Fremdsprachenlernen zugunsten der Mädchen zusammenschmelzen lässt (Peters et al. 2019: 20).
Für Französisch jedoch sieht es in der Schweiz anders aus. So zeigen etwa Evaluation aus der Region Zentralschweiz (Französisch ist 2. Fremdsprache, Peyer et al. 2016) und in der westlichen Deutschschweiz (Französisch ist 1. Fremdsprache, Wiedenkeller/Lenz 2019), dass die Lernziele der Basisstandards (maximal auf Niveau A2) von einer beträchtlichen Anzahl von SuS nicht erreicht werden. Die Motivation, Französisch zu lernen, ist generell tiefer, und zwar unabhängig davon, ob die SuS an der Sprachgrenze oder weiter davon entfernt lernen (vgl. Steiner 2021). Auch hier lohnt sich der Vergleich mit Flandern, wo die Französischkompetenzen trotz dem Status als Landessprache und der curricularen Bevorzugung enttäuschend tief sind, wie unterschiedliche Evaluationen und Studien zeigen (z.B. Verhaegen 2018). Um Missverständnissen vorzubeugen, möchten wir hier festhalten, dass wir nicht der Meinung sind, dass der Französischunterricht (oder anderer schulischer FSU in anderen Sprachen als Englisch) folglich wertlos ist – es könnte beispielsweise durchaus der Fall sein, dass der FSU mittel- oder langfristig positive Auswirkungen auf gewisse Kompetenzdimensionen hat. Es geht hier einzig darum, festzustellen, dass die als Basisstandards formulierten, handlungsorientierten Kompetenzniveaus für das Ende der Sekundarstufe I von beträchtlichen Proportionen der SuS nicht erreicht werden. Dies wiederum scheint uns angesichts des diskutierten Potenzials digitaler Hilfsmittel ein bedenkenswerter (oder bedenklicher) Befund.
6 Diskussion: Was bleibt?
Wie die in diesem Artikel zitierten Lernziel- und Kompetenzbeschreibungen zeigen, ist Handlungsorientierung die dominante Maxime im aktuellen Fremdsprachenunterricht. Das Lernen von sprachlichen Mitteln steht im Dienst des Erreichens von Handlungsfähigkeit. Die in unseren Breitengraden üblichen Bildungsstandards beschreiben, welche Handlungen in welchen Sprachen ausgeführt werden sollen. Die Ambition ist, im Sinne des Referenzrahmens, mehrsprachige europäische BürgerInnen auszubilden, und Sprachen sind nicht das Ziel an sich, sondern Sprache ist ein „vehicle for opportunity and success in social, educational and professional domains“ (Council of Europe 2020: 27). Welche sprachlichen Mittel notwendig sind, um bestimmte Handlungen ausführen zu können, wird in den einschlägigen Dokumenten nicht spezifiziert. Gewisse sprachdidaktische Handreichungen, etwa Profile Deutsch (Glaboniat et al. 2002), ordnen Vokabular und Redemittel den GER-Niveaus zu, jedoch ohne dass genau ersichtlich wird, auf welcher Datenbasis diese Zuordnung stattfindet.
Der handlungsorientierte Ansatz deckt wie eingangs angesprochen auch interkulturelle sowie metakognitive und metasprachliche Ziele ab. Dies im Einklang mit der Grundhaltung im Referenzrahmen, dass (lebenslanges) Sprachenlernen und eine sich ständig entwickelnde Mehrsprachigkeit individuell, aber auch kollektiv-gesellschaftlich vorteilhaft sind. Während junge LernerInnen in unseren Ländern für Englisch wenig äussere Motivationsstimulation brauchen, scheint die Situation für andere Fremdsprachen, auch wenn diese Landessprachen sind wie in der Schweiz, komplizierter. Angesichts der lebhaft geführten Debatten rund um den Sinn und Zweck des (sog. frühen) Fremdsprachenunterrichts (vgl. Pfenninger/Singleton 2017) scheint es wichtig, die sich ständig verbessernden digitalen Hilfsmittel nicht aus der Debatte auszuklammern. Es ist nicht riskant, zu prognostizieren, dass angesichts der eher bescheidenen Kompetenzniveaus, etwa in den anderen Landessprachen in der Schweiz oder Belgien, die Frage nach dem Sinn und der Effizienz dieses Unterrichts auftaucht.
Der vorliegende Beitrag wird mit der Absicht geschrieben, auf solche zukünftigen Debatten vorzubereiten. Es ist nicht auszuschliessen, dass Fremdsprachenunterricht im Rahmen solcher Debatten ganz grundsätzlich in Frage gestellt werden wird, denn das zentrale Ziel des kommunikativen Handelns mit Anderssprachigen kann auch via Übersetzungsmaschinen erfolgen. In diesem Sinne möchten wir abschliessend diskutieren, was denn der FSU, insbesondere in anderen Fremdsprachen als Englisch, ausser der im Moment dominierenden Handlungsorientierung kann oder soll.
Es ist davon auszugehen, dass in einer stark internationalisierten Wirtschaft und Kultur fremdsprachliche Kommunikation, zumindest für Nicht-Anglophone, weiterhin eine Rolle spielen wird. Fremdsprachenkompetenz ist als Kulturtechnik zu begreifen, die kulturelle und soziale Teilhabe ermöglicht. Die Vermittlung von (wenigstens elementaren) Kenntnissen in einer (oder mehreren) Fremdsprachen bleibt somit ein relevantes Bildungsziel. Ebenfalls scheint klar, dass sich digitale Übersetzer als kommunikative Hilfsmittel bereits breit etabliert haben und dass sie qualitativ immer besser werden. Die Frage stellt sich, und sie sollte in Lernzielbeschreibungen mitbedacht werden, in welchen Kontexten Fremdsprachen künftig digital unterstützt oder eigenständig verwendet werden können und sollen.
Wir haben gesehen, dass sprachliche Handlungskompetenz, insbesondere wenn es um Schriftlichkeit oder ‚planbare‘ Mündlichkeit geht, inzwischen recht effizient mit maschinellen Hilfsmitteln abgedeckt werden kann. Wenn es also nur um das Handeln, durchaus auch im Sinne des gegenseitigen Verstehens in vielsprachigen Ländern oder Regionen geht,6 so haben wir technische Lösungen zur Hand, die wenig oder gar kein Sprachenlernen mehr erfordern. Kritiker der Handlungsorientierung in der Didaktik zitieren gerne Dürrenmatt: „[d]ie menschliche Bestimmung liegt im Denken, nicht im Handeln. Handeln kann jeder Ochse“ (Dürrenmatt 1987: 40). Ochsen sind heute eher rar geworden, aber treten an ihre Stelle im sprachlichen Bereich Maschinen wie DeepL? Wie oben ausgeführt können diese elektronischen Ochsen nicht alle sprachlichen und sprachbezogenen Felder pflügen: Handlungsfelder wie die spontane Mündlichkeit sowie die übrigen Komponenten wie Interkulturalität und Metakognition entziehen sich ihrem Zugriff.
Eine (teilweise) Verknüpfung mit dem eingangs erwähnten Bereich der Sprachmittlung ist ebenfalls denkbar. Tatsächlich übernehmen digitale Übersetzer in gewisser Weise eine Mediatorenrolle: Sie ermöglichen Kommunikation zwischen zwei oder mehr Parteien, die nicht direkt miteinander kommunizieren können, oder sich aus unterschiedlichen Gründen nicht verstehen. Die Tools erfüllen zwar effizient den sprachlichen Aspekt der Sprachmittlung, nicht aber den sozial-kulturellen und Lernprozess-bezogenen Teil (vgl. Council of Europe 2020: 35–36) einer gelungenen Vermittlung zwischen den Gesprächsteilnehmenden. Verständnis für unterschiedliche soziolinguistische Sichtweisen und Konventionen, oder der Umgang mit soziokulturellen oder soziolinguistischen Missverständnissen können (aktuell) von der Maschine nicht vermittelt werden. Für die Verbindung von kulturellem Wissen (das wie oben ausgeführt auch ohne Sprache erworben werden kann) mit sprachlichem Wissen (das wie oben ausgeführt durchaus auch mit Übersetzungstools erworben werden kann) bedarf es der menschlichen Reflexionsfähigkeit.
Aus dem Gesagten könnte man also schlussfolgern, dass der FSU vor allem Interkulturalität und Metasprachliches/Metakognitives behandeln sollte. Während man ersteres auch ganz ohne Sprachunterricht im traditionellen Sinn machen kann, bedarf insbesondere Metasprache einer sprachlichen Basis. Wie der erste hier schreibende Autor anderswo argumentiert (Berthele 2011), kann man Metasprache, etwa im didaktisch äusserst populären Bereich der verwandten Wörter über Sprachen hinweg, nur dann sinnvoll entwickeln, wenn man zuerst einmal sprachliches Material gelehrt/gelernt hat. Wir halten deshalb eine allzu einseitige Ausrichtung auf die Metaebene in Form von Interkomprehension insbesondere im 'frühen' FSU als wenig zielführend.
Ein mögliches Szenario, um das ‚Problem‘ der immer leistungsfähigeren Werkzeuge zu entschärfen, wäre demnach, den Fokus im Sprachunterricht genau auf die Bereiche zu legen, die die Werkzeuge nicht oder nur schlecht abdecken können.
Als erstes könnte der FSU beispielsweise die Schwächen der digitalen Werkzeuge fokussieren. Zum in den Lernzielen genannten Metawissen gehört heute auch die Fähigkeit, mit digitalen Übersetzern umgehen zu können, um ein effizientes Suchverhalten zu entwickeln, aber auch die Korrektheit des Outputs interpretieren zu können. Evaluationsfähigkeit setzt ein gewisses Mass an (meta)sprachlichem Wissen voraus, das weiterhin im FSU vermittelt wird. Es ist durchaus möglich, dass diese Notwendigkeit, die Qualität des Outputs der Programme einschätzen zu können, mit der Perfektionierung der Tools abnehmen wird.
Wir haben oben angesprochen, dass die spontane mündliche Interaktion (noch) nicht zu den Domänen gehört, die die digitalen Werkzeuge problemlos abdecken können. Dies könnte für den FSU bedeuten, mündliche Interaktionskompetenzen stark zu priorisieren, und die Schriftlichkeit (produktiv und rezeptiv) stark zu reduzieren, da diese wie gesehen von den Werkzeugen übernommen werden kann.7 Da jedoch von Anfang an mit schriftlichem Material gearbeitet wird (z.B. in Form von in Lehrmitteln aufbereiteten Wortschatzlisten oder Aufgaben), wäre eine altersgemässe Thematisierung und Festigung der Graphem-Phonem Entsprechungen nötig, um das Dekodieren des Sprachmaterials, den Aufbau von Wortschatz und schliesslich auch die Entwicklung der Aussprache zu begünstigen (vgl. Dherbey-Chapuis/Berthele 2020). Eine solche Einführung in grapho-phonemische Aspekte der Zielsprachen wird nach unserem Kenntnisstand im frühen FSU momentan nur am Rande praktiziert. Im Moment, das zeigen die Evaluationen (Wiedenkeller/Lenz 2019: 3), ist insbesondere die Fertigkeit Sprechen im Französischen nicht auf einem Niveau, das auch nur mündliche Interaktion über Sprachgrenzen hinweg garantieren würde.
Auch in Szenarien, in denen der FSU weniger grundsätzlich auf die digitale Innovation reagieren soll, scheint es uns wichtig, dass die digitalen Hilfsmittel im FSU zumindest berücksichtigt und integriert werden. Wir machen an anderer Stelle (https://digitalvocabulary.wordpress.com)8 detaillierte Vorschläge, wie dies geschehen könnte. Hier sollen nur einige wenige allgemeine Bemerkungen genügen: In zukünftigen Versionen von Bildungsstandards und Lernzielbeschreibungen sollten die digitalen Tools angesprochen und integriert sein. In den von uns ausgewerteten Dokumenten sind sie dies nicht, was teilweise mit dem Zeitpunkt der Redaktion zu tun hat (die oben diskutierten normativen Vorgaben der EDK und der KMK wurden zwischen 2003 und 2013 veröffentlicht, als die Tools offensichtlich noch nicht den Stellenwert hatten, den sie heute haben). Bezüglich des eingangs angesprochenen erweiterten Blicks auf Handlungsorientierung und Werkzeuge, scheint es uns wichtig, die hier fokussierten digitalen Tools nicht einfach nur als Problem und Bedrohung zu betrachten, sondern ihr metalinguistisches Potenzial anzuerkennen: Input und Output von automatischen Übersetzungsprogrammen können im Unterricht und beim autonomen Lernen zur Sprachbetrachtung herangezogen werden. Insofern können sie durchaus in lern-relevanter Weise zur Erweiterung des Werkzeugkastens der SprachlernerInnen beitragen. Wir sind auch überzeugt, dass die digitalen Werkzeuge durchaus eine Entlastung bieten können, wenn es darum geht, nicht nur kommunikativ effizient, sondern auch korrekt zu formulieren. Simply playing the ostrich will not help in the long run.9
Notes
- Wir danken Thomas Studer für seine hilfreichen und wichtigen Kommentare zu einem Entwurf dieses Beitrags. [^]
- In den neuen Kompetenzbeschreibungen des 2020 erschienenen Companion volume zum GER/CEFR (Council of Europe 2020) wird der Fokus weniger auf solche Skills, sondern auf sogenannte Kommunikationsmodi gelegt (Rezeption, Produktion, Interaktion, Sprachmittlung). Die Lernzielbeschreibungen und Bildungsstandards, die unten diskutiert werden, sind noch der traditionelleren Skills-Sichtweise verpflichtet, weshalb wir mit letzteren operieren. An der grundsätzlichen Natur unserer Argumentation ändert sich durch die terminologische Neuerung nichts. [^]
- Analoge Analysen für andere Bildungsstufen sind möglich. Unser Eindruck ist, dass sie grundsätzlich ähnliche Ergebnisse zu Tage fördern würden. [^]
- In der Literatur zur Qualität der maschinellen Übersetzung spielen Qualitätsprobleme bei Phraseologismen und Kollokationen eine gewisse Rolle, hier scheinen die Systeme am ehesten Unverständliches zu produzieren; vgl. z.B. Bestgen (2022). [^]
- Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis automatische Untertitelung sowohl in der Originalsprache (Captions) als auch in Übersetzung (Subtitles) auf vielen Plattformen möglich wird. Es gibt heute bereits automatische, interaktive Untertitelung für MigrantInnen von schwedischsprachigen Programmen, vgl. Språkkraft/Språkplay, Carlsson 2022. [^]
- In der Schweiz kommt immer wieder die Frage auf, inwiefern die nationale Kohäsion durch tatsächliche oder vermeintliche Mängel in den Sprachkompetenzen gefährdet ist. Als Beispiel können hier markante Aussagen des Journalisten José Ribeaud dienen: „Warum sollen wir unsere Vetter – im alemannischen oder im lateinischen Sprachbereich – noch besuchen, wenn wir nicht im Stande sind, ihre Muttersprache zu verstehen?“ (Ribeaud 1998: 41) [^]
- Ein solcher Fokus erscheint besonders sinnvoll in mehrsprachigen Ländern wie der Schweiz, etwa für das Französische in der deutschen Schweiz oder für das Deutsche in der französischen Schweiz. [^]
- Die frei zugänglichen Unterrichtsmaterialien thematisieren Vor- und Nachteile von online Übersetzungshilfen und bieten konkrete Übungsmöglichkeiten für eine sinnvolle Nutzung im Fremdsprachenunterricht. [^]
- (badly) translated with www.DeepL.com/Translator (free version), und zwar am 18.7.2022. [^]
Literatur
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Kurzbio
Raphael Berthele ist Linguist und arbeitet als Professor für Mehrsprachigkeitsforschung an der Universität Freiburg/Fribourg (Schweiz), wo er auch studiert hat. Er lernte und lehrte ausserdem an den Universitäten Tübingen, Berkeley und Bern. Er forscht zu kognitiven und soziolinguistischen Aspekten des Lernens und Gebrauchens mehrerer Sprachen und Dialekte.
Isabelle Udry forscht und lehrt am Institut für Mehrsprachigkeit der Uni Freiburg (CH) und an der PH Zürich. Sie interessiert sich für individuelle Unterschiede im Spracherwerb, kognitive Prozesse der Mehrsprachigkeit und Digitalisierung im Fremdsprachenunterricht. In einem aktuellen Projekt untersucht sie mit dem Erstautor die Rolle von online Übersetzungshilfen beim Lernen von Fremdsprachen.
Anschrift:
Raphael BERTHELE
Institut de Plurilinguisme
Rue de Rome 1
CH-1700 Fribourg/Freiburg