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Aufsatz zum Themenschwerpunkt

Sprachliche Herausforderungen und Bedürfnisse aus Sicht von Lernenden im Kontext der generalistischen Pflegeausbildung – Einblicke in das erste Ausbildungsjahr

Abstract

Sprache spielt in der Pflegeausbildung eine besondere Rolle, da Kommunikation eine pflegerische Intervention darstellt. Der Beitrag thematisiert die Notwendigkeit einer Ausrichtung der Pflegeausbildung auf die – nicht nur migrationsbedingt – steigende sprachliche Heterogenität der Auszubildenden. Auf Basis eines Verständnisses von Sprache und Sprachaneignung als sozialer Praxis und der daraus resultierenden Notwendigkeit einer multiperspektivischen und rekonstruktiven Bedarfsanalyse werden exemplarisch erste Ergebnisse aus mit der Dokumentarischen Methode analysierten Fokusgruppeninterviews mit Auszubildenden zu sprachlichen Herausforderungen und Bedürfnissen vorgestellt. Es zeigt sich ein erster Orientierungsrahmen, der weniger die sprachlichen Anforderungen als Hindernis für einen erfolgreichen Ausbildungsabschluss sieht, sondern vielmehr den fehlenden sprachbewussten Umgang der Lehrenden damit.

Language challenges and needs from a learnersʼ perspective in the context of generalistic nursing training – insights into the first year of training
Language plays a special role in nursing training as communication is a nursing intervention. The article addresses the necessity of orienting nursing training towards the increasing linguistic heterogeneity in the group of trainees – not only due to migration. Based on an understanding of language and language acquisition as social practice and the resulting necessity of a multiperspective and reconstructive needs analysis, first results from focus group interviews with trainees analysed with the documentary method on linguistic challenges and needs are presented as examples. An initial orientation framework emerges, which sees less the linguistic requirements as an obstacle to successful completion of training, but rather the lack of language-conscious handling of these by the teachers.

Keywords: Mehrsprachigkeit, Pflegeausbildung, Sicht der Lernenden, Rekonstruktive Forschung, multilingualism, nursing training, learners’ perspectives, reconstructive research

How to Cite:

Daase, Andrea & Fleiner, Micha (2024): Sprachliche Herausforderungen und Bedürfnisse aus Sicht von Lernenden im Kontextder generalistischen Pflegeausbildung – Einblicke in das erste Ausbildungsjahr. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 29: 1, 43–64. https://doi.org/10.48694/zif.3901.

1 Einleitung

Sprache1 hat für den Zugang zu und die Teilhabe an Ausbildung und Beruf eine zentrale Bedeutung. Für pflege- und gesundheitsorientierte Ausbildungs- und Berufskontexte gilt dies aufgrund der herausgehobenen Bedeutung von Kommunikation im Pflegeprozess in besonderer Weise. Zudem sind diese Ausbildungsgänge angesichts der Diversifizierung von Bildungskontexten in der Migrationsgesellschaft sowie eines akuten Fachkräftemangels und der damit einhergehenden Anwerbung von Auszubildenden aus dem Ausland von sprachlicher Vielfalt geprägt. Pflegeausbildungsinteressierte mit eigenen Migrationserfahrungen und nichtdeutscher Erstsprache erleben in Deutschland jedoch mitunter erschwerte Zugangs- und Teilhabemöglichkeiten, was u.a. mit unzureichenden Deutschkenntnissen in Verbindung gebracht wird (vgl. Braeseke/Rieckhoff/Engelmann/Lingott/Dean/Pörschmann-Schreiber 2020). Seit der Einführung der generalistischen Pflegeausbildung zum 01.01.2020 sind zwar niedrigere Abbruchquoten zu verzeichnen, belastbare Zahlen stehen aber noch aus. Zudem wird aus der Praxis von erhöhten (sprachlichen) Anforderungen berichtet, da sich die Prüfungsfrequenz erhöht hat und die Komplexität der Ausbildungsinhalte durch das Zusammenlegen der drei bisherigen Pflegefachberufe zugenommen hat, was sich auch in den sprachlichen Anforderungen bemerkbar macht. Umso erstaunlicher ist es, dass dieser Bereich bis auf wenige Ausnahmen (vgl. Amorocho 2018) bislang kaum Beachtung in der DaZ-Forschung erhalten hat.

Unser Beitrag fokussiert auf sprachliche Herausforderungen unter besonderer Berücksichtigung des ersten Ausbildungsjahres der generalistischen Pflegeausbildung, mit denen insbesondere, aber nicht ausschließlich, Auszubildende mit nichtdeutscher Erstsprache und eigenen Migrationserfahrungen konfrontiert sind. In Kapitel 2 wird zunächst ein Blick auf die Pflegeausbildung in der Migrationsgesellschaft und ihren Umgang mit sprachlicher Heterogenität geworfen und die Anforderung an eine sprachbewusste Ausrichtung herausgearbeitet. Mit den Grundlagen für diese Anforderung beschäftigt sich ein Teilprojekt in einem Forschungs- und Entwicklungsprojekt zu Übergängen in der Pflege, welches in Kapitel 3 vorgestellt wird. Basierend auf einem Verständnis von Sprachaneignung als soziale Praxis und Subjektivierungsprozess wird vor allem die Perspektive der Lernenden in den Blick genommen, indem exemplarisch erste vorläufige Ergebnisse aus Fokusgruppeninterviews mit Auszubildenden präsentiert werden, die mit der Dokumentarischen Methode analysiert wurden. Diskutiert werden neben sprachlichen Herausforderungen auch Fragen nach möglichen Präventionsstrategien in Bezug auf drohende Ausbildungsabbrüche auf Basis der Bedürfnisse der Auszubildenden.

2 Die Pflegeausbildung in der Migrationsgesellschaft

Bildungspolitisch ist der Komplex Bildung und Migration seit den 1970er Jahren ein Thema, seit mit dem Anwerbestopp viele damalige Gastarbeiter*innen ihre Familien nachholten und Migration von Kindern und Jugendlichen zur Herausforderung eines darauf unvorbereiteten Bildungssystems wurde. 50 Jahre und zahlreiche innovative Projekte und Initiativen später wird Migration in Bildungsinstitutionen von dort tätigem pädagogischem Personal nicht selten immer noch als Herausforderung betrachtet und verweist darauf, dass das Bildungssystem noch nicht ausreichend auf (nicht nur) sprachlich heterogene Lernende vorbereitet und ausgerichtet ist. Der Themenkomplex spielt damit auch in wissenschaftlichen Arbeiten und Forschungsprojekten nach wie vor eine große Rolle, was zum einen als wichtige Bearbeitung von Herausforderungen in der Praxis gesehen werden kann. Andererseits bleibt durch die andauernde diskursive Rahmung als Herausforderung die Konstitution von Migration als Abweichung von der Norm erhalten.

Da in Deutschland Bildungserfolg nach wie vor eng mit dem Elternhaus und der Herkunft verknüpft ist, kann dieser diskursive Rahmen auch zur Reproduktion und Verstärkung von sozialer Ungleichheit beitragen. So wird z.B. in kulturwissenschaftlichen und poststrukturalistischen Zugriffen mittlerweile davon ausgegangen, dass Schüler*innen „in Bildungsverhältnissen innerhalb von migrationsgesellschaftlichen Zugehörigkeitsordnungen erst als Andere hervorgebracht werden“ (Khakpour 2023: 14). Durch ein solches Othering (vgl. Said 1978; Spivak 1985) wird – bezogen auf den Bildungskontext bzw. im hier interessierenden Kontext die Pflegeausbildung – die Individualität von Schüler*innen negiert und sie mit von außen bzw. von Angehörigen der sogenannten Mehrheitsgesellschaften vergebenen Kategorien wie mit Migrationshintergrund, ausländische Auszubildende oder Flüchtlinge zu einer Gruppe homogenisiert, der negative Eigenschaften im Gegensatz zum positiven Vergleichshorizont von Schüler*innen/Auszubildenden ohne diesen Hintergründen zugeschrieben werden (Riegel 2016). Diese Eigenschaften beziehen sich oft auf den sprachlichen und/oder kulturellen Hintergrund, der per se als anders und damit problematisch konstruiert wird.

Eine Art der sprachlichen „Verbesonderung“ (Dirim/Pokitsch 2017) erfolgt auch durch isolierte sprachliche Förderangebote, bei denen Sprache mit Deutsch gleichgesetzt wird, wie dies z.B. in Vorkursen oder Willkommensklassen/Internationalen Klassen, aber auch in vom BAMF finanzierten Berufssprachkursen der Fall ist. Bei Letzteren gibt es seit einiger Zeit auch sogenannte Azubi-Kurse (vgl. BAMF 2022), welche aber wenig nachgefragt werden. Der Grund dafür mag in der strukturellen Inkompatibilität der Kurse mit der Pflegeausbildung liegen.

Da die Gruppe der Auszubildenden – nicht ausschließlich – migrationsbedingt sprachlich immer heterogener wird und die besondere Sprachverwendung in Bildungskontexten (vgl. Gogolin/Duarte 2016; Ohm/Daase/Köker/Spiekermeier Gimenes/Lemmrich i. Dr.) im Allgemeinen und in der Pflege im Besonderen für viele Auszubildende eine erhebliche Herausforderung darstellt, andererseits Bildungsabbrüche insbesondere angesichts des vorhandenen und prognostizierten steigenden Fachkräftemangel gesenkt oder vermieden werden sollen, steht die Pflegeausbildung vor der Herausforderung, sich in der Migrationsgesellschaft neu aufzustellen und der Normalität von Mehrsprachigkeit angemessen zu begegnen. Dafür muss sie sich in das Konzept der durchgängigen Sprachbildung (vgl. Lange/Gogolin 2010) eingliedern, um unter Einbezug aller beteiligten Personen und Institutionen mehrsprachigkeitssensibel und sprachbildend gestaltet werden zu können. Damit käme man der Anforderung der durchgängigen Sprachbildung, die gesamte Bildungsbiografie einzubeziehen (vgl. ebd.), einen Schritt näher.

Dieses aus den Bildungswissenschaften stammende Konzept kann aus zweitsprachaneignungstheoretischer und ‑didaktischer wie auch pflegewissenschaftlicher und -didaktischer Perspektive angereichert werden. Wir gehen von jenem dem DaZKom-Modell2 (Ohm et al. i. Dr.) zugrundliegenden, auf Maas (2008: 23) zurückgehendem Verständnis von Sprache im Sinne der „Nutzung und Entfaltung der (menschlichen) Sprachfähigkeit“ aus, welches „von der besonderen Ausformung (Idiomatisierung) [unterschieden wird], die Sprache im sozialen Raum (als eine von vielen Sprachen) erhält“. Sprache bzw. Sprachentwicklung im Sinne eines Ausbaus in fachliche Register (vgl. Ohm et al. i. Dr.) ist konstitutiv für das Fachlernen (vgl. Ohm 2017; Schmölzer-Eibinger 2013) und kann – wenn didaktisch entsprechend gestaltet, wie dies zum Beispiel durch das Unterrichtsprinzip Scaffolding (vgl. Gibbons 2015) möglich ist – durch Letzteres angeregt werden. Die künstliche Trennung fachlicher Qualifizierung in der Ausbildung und berufssprachlicher Entwicklung3 in isolierten Kursen entspricht daher nicht aktuellen zweitsprachaneignungstheoretischen und -didaktischen Erkenntnissen, zumal Sprache ihre spezifische Bedeutung immer im jeweiligen Kontext erhält. Das gilt insbesondere für berufliche Kontexte (siehe Kapitel 3) und vor allem für die Pflege, die immer Beziehungsarbeit (Zegelin 2018: 51) darstellt und in der Kommunikation als pflegerische Intervention verstanden wird (Büker/Lademann 2019; Haider 2010). Besonders deutlich wird dies z.B. in der sogenannten verrichtungsbegleitenden Kommunikation z.B. beim Waschen von Patient*innen, in der während der Pflegetätigkeit den zu Pflegenden mitgeteilt wird, was die pflegende Person gerade tut, und parallel dazu Sprache zur Beziehungspflege mit den zu Pflegenden eingesetzt wird – eine sprachliche Praktik, wie sie in anderen beruflichen Kontexten deutlich weniger oder gar nicht zu finden ist. Hinzu kommt, dass in der Pflege Dienstleistungen in kommunikativen Aushandlungsprozessen immer an die subjektiven Bedürfnisse der zu Pflegenden angepasst werden müssen (Darmann 2000), was sicher auch in anderen beruflichen Bereichen relevant, aufgrund der sensiblen Situation in der Pflege aber besonders zu beachten ist. Eine Vermittlung der entsprechenden sprachlich-kommunikativen Kompetenzen (vgl. Efing 2017) und der registersensible Sprachausbau (vgl. Ohm et al. i. Dr.) kann daher in von der Anwendungspraxis isolierten Kurssettings lediglich tentativ vorbereitend erfolgen (Daase 2021a, 2021b).

3 Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt TiP-regio

Das über das Bundesinstitut für Berufliche Bildung (BIBB) finanzierte, zweijährige Forschungs- und Entwicklungsprojekt Transitionen in die Pflege – individuelle und regionale Ressourcen stärken (TiP-regio) der Verbundpartner Hochschule Esslingen (HE), Universität Bremen Campus GmbH (UBC) und dem Forschungsinstitut Berufliche Bildung (fbb), Nürnberg, nimmt den Übergang zwischen schulischer und beruflicher Bildung in den Blick. Ziel ist es, ausbildungsinteressierte Menschen bedarfsorientiert anzusprechen und pädagogisch von der Berufsorientierung bis hin zum ersten Ausbildungsjahr zu begleiten. Dafür werden Konzepte und Handlungsempfehlungen entwickelt, um einerseits Auszubildende für den Pflegeberuf zu gewinnen und ihnen andererseits einen gelingenden Ausbildungseinstieg zu ermöglichen. Die Gruppe der Auszubildenden mit Migrationshintergrund oder auch eigenen Migrationserfahrungen stand bei der Antragsstellung und zu Beginn des Forschungsprozesses nicht im Fokus des Gesamtprojektes. Allerdings wurde der Umgang mit (migrationsbedingter) Heterogenität in vielen Befragungen mit unterschiedlichen Zielgruppen und verschiedenen Fragestellungen und Methoden der einzelnen Teilprojekte immer wieder thematisiert und insbesondere die Bedürfnisse zugewanderter Jugendlicher, vor allem solchen mit Fluchterfahrungen, gerieten zunehmend in den Blick (vgl. Daase/Bauer/Willaredt 2023) und sorgten für einen thematisch ungeplanten, aber anregenden und fruchtbaren Austausch. Auch diese Erfahrung zeigt, dass migrationsbedingte Heterogenität als generisches Thema in der Pflegeausbildung und in auf diese bezogenen Forschungsprojekten noch nicht angekommen ist und entsprechend integriert werden muss, ohne aber wiederum zu additiven Verbesonderungen zu führen.

Ziel des Bremer Teilprojektes Sprachsensibler Fachunterricht zur Unterstützung von Auszubildenden mit Deutsch als Zweitsprache ist die Entwicklung von Eckpunkten eines Konzepts des sprachsensiblen Fachunterrichts für die Pflegeausbildung, das als erster Schritt gesehen werden kann, den Pflegefachunterricht4 didaktisch mehrsprachigkeits- und registersensibel auszurichten. Das bedeutet zum einen, ein monolinguales Verständnis von (Aus-)Bildung und damit eine alleinige Ausrichtung auf das Deutsche hinter sich zu lassen und die individuelle Mehrsprachigkeit der Auszubildenden als Ausgangspunkt im Unterricht und Ressource für das fachliche Lernen zu nutzen, aber auch ihre Mehrsprachigkeit weiter auszubauen und die jungen Menschen in ihrem sprachlichen Selbstverständnis wahrzunehmen und zu unterstützen. Zum anderen muss der Unterricht den Sprachausbau in die notwendigen Fachregister, also die „typischen sprachlichen Strukturen und deren Funktion für das fachliche Lernen“ (Ohm 2018: 75) im Rahmen der Pflegeausbildung wie auch für die spätere Ausübung der Berufstätigkeit anregen und unterstützen. Theoretische Grundlagen sind gängige Konzepte des sprachbewussten Fachunterrichts, v.a. das Scaffolding (vgl. u.a. Derewianka/Jones 2018; Gibbons 2015) auf Basis der Funktionalen Grammatik (Derewianka/Jones 2018; Halliday 1978; Schleppegrell 2004).

Die Fragestellungen, mit denen sich das Teilprojekt auseinandersetzt, lauten

  • Wie nehmen Fachlehrkräfte in der theoretischen Pflegeausbildung die sprachlichen Anforderungen (produktorientierte Bedarfe) in der Ausbildung in Theorie und Praxis sowie diesbezügliche Unterstützungsbedarfe der Auszubildenden wahr?

  • Inwiefern sehen sie sich in diesem Zusammenhang als Fachlehrkraft in der Verantwortung? Welche Unterstützung brauchen sie für die Verantwortungsübernahme?

  • Welche Wahrnehmung haben die Auszubildenden insbesondere zu Beginn der Ausbildung von den sprachlichen Anforderungen einerseits und ihren individuellen deutschsprachlichen Kompetenzen andererseits? Welche subjektiven Unterstützungsbedürfnisse lassen sich ausmachen? Wie erleben sie den Unterricht dahingehend?

  • Welche sprachsensiblen Unterstützungsmaßnahmen und -angebote sind im Unterricht zu beobachten?

  • Welche Möglichkeiten eines sprachsensiblen Fachunterrichts bietet das situationsbasierte und kompetenzorientierte Curriculum für die generalistische Pflegeausbildung?

Dafür werden auf Basis einer mehrperspektivischen Bedarfsanalyse durch Fokusgruppeninterviews mit Fachlehrenden einerseits und Auszubildenden zu Beginn ihrer Ausbildung andererseits sowie Unterrichtsbeobachtungen in Pflegeschulen und der linguistischen Analyse zweier Lernfelder aus dem Curriculum der generalistischen Pflegeausbildung in einem Eckpunktepapier Perspektiven und Potenziale für einen sprachbewussten Pflegeunterricht in der Migrationsgesellschaft anhand von Beispielen aufgezeigt.

Im Fokus dieses Beitrags steht ausschließlich die Perspektive der Lernenden, der bislang aus unserer Sicht im Forschungsbereich zu sprachlichen Herausforderungen in Ausbildung und Beruf noch zu wenig Aufmerksamkeit zugekommen ist.

3.1 Der emische Blick auf sprachliche Herausforderungen und Unterstützungsbedarfe in der Pflegeausbildung

3.1.1 Sprachaneignung als soziale Praxis und Subjektivierungsprozess

Ein Verständnis von Sprache als sozialer Praxis findet sich bereits seit der Jahrtausendwende in wissenschaftlich begleiteten Projekten zur Aneignung des Deutschen als Zweitsprache für den Beruf oder am Arbeitsplatz von erwachsenen zugewanderten Menschen (vgl. Daase 2021a: 108–110) und wurde in den letzten Jahren insbesondere von soziokulturell verorteten Projekten weiterentwickelt (vgl. u.a. Daase 2018; 2021a, 2021b; Wernicke 2020) sowie in ersten Arbeiten auf (Zweit-)Sprachaneignung in der Schule übertragen (vgl. Knappik 2022; Ohm 2022). Sprache wird in diesen Arbeiten nicht als ein neutrales Zeichensystem verstanden, das Lernende sich in kognitiven Lernprozessen als neues Wissen aneignen müssen, sondern als eingebettet in komplexe soziale Kontexte, in denen Bedeutung im (sprachlichen) Handeln konstituiert wird, welches gleichermaßen die situativen Kontexte sowie die sozialen Ordnungen, in die es eingebettet ist, rekonstituiert und verändert (Daase 2021a; Knappik 2022; Ohm 2022). Damit geht es nicht allein um intentionale Handlungen einzelner Individuen und das ihnen bewusst zugängliche Wissen als Basis dieser Handlungen, wie es z.B. dem handlungsorientierten Zweit- und Fremdsprachenunterricht zugrunde liegt. Menschliches (sprachliches) Handeln verweist immer auf ein von den Mitgliedern einer Gemeinschaft geteiltes implizites und inkorporiertes Wissen und ist gleichermaßen vom jeweiligen Kontext bedingt, wie es diesen auch selbst gestaltet (vgl. Hasan 2007: 68; Nicolini 2012: 138).5

Dementsprechend muss auch Sprachaneignung für die und in der Ausbildung als soziale Praxis verstanden und gestaltet werden: Kompetenz ergibt sich aus der zunehmenden Partizipation an Praktiken. Zwar stellen isolierte Deutschkurse für neu zugewanderte Auszubildende ohne oder mit nur geringen Deutschkenntnissen eine wichtige, aber noch lange keine hinreichende sprachliche Grundlage für einen erfolgreichen Ausbildungsverlauf dar. Lediglich situiertes Lernen kann eine Einsozialisierung in die jeweiligen Praktiken und damit eine zunehmende Partizipation an ihnen gewährleisten (vgl. Daase 2021b: 676). Damit unterliegt Sprachaneignung immer ermöglichenden, aber auch einschränkenden Bedingungen, in denen sich das lernende Subjekt befindet. Ein solcher Zugang impliziert ein Verständnis von Sprachaneignung, das einerseits über einen rein kognitiven Prozess hinausgeht und andererseits gleichermaßen einen Subjektivierungsprozess darstellt, als Subjektivität sich in und durch (sprachliche) Praktiken konstituiert und Sprach(en)lernende im Kontakt mit Vertreter*innen der Zielsprache nicht lediglich Informationen austauschen – „they are constantly organizing and reorganizing a sense of who they are and how they relate to the social world“ (Norton Peirce 1995: 18). In Bildungskontexten und insbesondere in der Ausbildung als besondere Zeit des Emergierens der eigenen Subjektivität (siehe Kap. 2) ist dies von besonderer Bedeutung.

3.1.2 Datenerhebung: Fokusgruppeninterviews

Im Sinne der didaktischen Prinzipien Bedarfs-, Handlungs- und Lernendenorientierung, wie sie für berufsbezogene Kurse für Deutsch als Zweitsprache erarbeitet wurden (vgl. Beckmann-Schulz/Kleiner 2011) und auch einer sprachbildenden Berufsausbildung zugrunde liegen sollten, stellt eine Bedarfserhebung eine entscheidende Grundlage für jedwede sprachliche Unterstützungsangebote dar, zumal sie auch im Unterrichtsprinzip des Scaffolding (vgl. Gibbons 2015; Hammond/Gibbons 2005) angelegt ist. Dort wird sie allerdings in erster Linie im Sinne einer funktionalen sprachlichen Analyse (vgl. Derewianka/Jones 2018) von Texten, Aufgaben und weiteren, im Unterricht eingesetzten Materialien verstanden. Neben einem Verständnis von Sprachaneignung als soziale Praxis und als Subjektivierungsprozess gehen wir von Ansätzen einer kritischen Bedarfsanalyse (vgl. Haider 2008: 14–18) aus, welche im Gegensatz zu einem deskriptiven Vorgehen auch sprachlich vermittelte Hierarchien und Machtbeziehungen in den Blick nimmt: „Im besten Fall […] führt eine derartige Sprachbedarfserhebung zur Veränderung der Sprachverwendung in einer Institution und zu sozialem Wandel“ (Haider 2010: 53). In diesem Sinne wurde im Projekt auch die Perspektive der Auszubildenden einbezogen, welche den Fokus des vorliegenden Textes darstellt.

Zur Erhebung von subjektiven Sprachbedürfnissen (im Gegensatz zum objektiven Sprachbedarf) schlägt Weissenberg (2012: 17–18) teilstandardisierte Interviews zu den Themenbereichen Sprache, Beruf und Motivation (ebd. 46–50) vor, welche auch sprachbiographische Aspekte erheben und inhaltlich ausgewertet werden.6 In (teil-)strukturierten Leitfadeninterviews können die Lernenden ihre eigene subjektive Relevanz allerdings nicht ausreichend herstellen. Dennoch wird in wissenschaftlichen Arbeiten über solche Datenerhebungen und ‑auswertungen oft der mehr oder weniger unzutreffende Eindruck erweckt, dass Lernende befragt und ihre Perspektiven adäquat erfasst worden seien.

Auf Basis der dargelegten theoretischen Grundlagen wie auch dem Anspruch, nicht nur eine deskriptive Erhebung vorzunehmen, aus der Hinweise zu Herausforderungen auf der sprachlichen Oberfläche oder hinsichtlich Sprachhandlungen abzuleiten sind, wurde die Entscheidung für eine offenere Datenerhebung getroffen. Zwar ging es darum, die Perspektiven der Lernenden einzuholen, dabei standen aber nicht individuelle Perspektiven im Fokus, um eine Basis für die Gestaltung des Unterrichtes für eine bestimmte Gruppe bzw. spezifische Individuen zu haben, sondern die Sicht der Gruppe der Auszubildenden im Sinne der sie verbindenden Erfahrungen. Zudem war uns nicht allein das bewusst zugängliche Wissen wichtig, sondern es brauchte – basierend auf einem Verständnis von Sprache und Sprachaneignung als sozialer Praxis – Daten, anhand derer auch implizites Wissen und von der Gruppe geteilte Orientierungen bezogen auf das Thema Sprache in der Pflegeausbildung rekonstruiert werden konnten (siehe 3.1.3). Die Wahl fiel daher auf Fokusgruppeninterviews im Sinne von „Diskussionen in moderierten Gruppen […], in denen über ein festgelegtes Thema zielgerichtet gesprochen wird“ (Bär/Kasberg/Geers/Clar 2020: 208), die in der partizipativen Forschung im Gesundheitsbereich häufig zum Einsatz kommen (ebd.).7 Das Vorgehen basierte einerseits auf wenigen sehr offen formulierten, aber durchaus fokussierten Fragen (siehe 3.2), ließ aber gleichwohl ausreichend Raum und Zeit für eigene Relevanzsetzungen der Teilnehmenden und Bezügen untereinander, die eine Abgrenzung von Gruppenbefragungen darstellen und damit einen analytischen Zugriff im rekonstruktiven Sinne ermöglichten.

3.1.3 Datenanalyse: Dokumentarische Methode

In Forschungsprojekten, die auf einem Verständnis von Sprache als sozialer Praxis beruhen, stellen rekonstruktive Verfahren das Mittel der Wahl dar (vgl. Daase/Falkenstern 2020). Im Gegensatz zu oben angedeuteten, in vielen Sprachbedarfsanalysen verwendeten Verfahren, die „auf der Ebene des common sense, der Ebene des artikulierbaren, theoretischen Wissens, des subjektiven Sinns der Akteur*innen […] verbleiben“ (ebd. 43), besteht das Ziel der Dokumentarischen Methode darin, das implizite oder praktische Wissen der Handelnden (siehe 3.1.1), das „grundlegend kollektiv konzipiert“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2021: 357) ist, zu rekonstruieren, indem sie einen „Wechsel der Analyseeinstellung […] vom Was zum Wie“ (Bohnsack 2005: 73) vornimmt. Sie hebt somit nicht auf individuelle, sondern kollektive Erfahrungen ab, die nicht zwangsläufig von der Gruppe unmittelbar zusammen gemacht wurden, sondern als strukturähnliche Erfahrungen in gleichartiger Handlungspraxis gefasst werden (Bohnsack 2017: 51–52; Przyborski 2004: 48), wofür Mannheims Begriff des konjunktiven Erfahrungsraums steht. Dieser wird durch die Unterscheidung verschiedener Sinnebenen, einerseits dem bewusst zugänglichen kommunikativ generalisierten bzw. propositionalen und andererseits dem dokumentarischen bzw. performativem Sinngehalt (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2021: 349) rekonstruiert. Diese theoretische Unterscheidung, die sich im methodischen Vorgehen der Dokumentarischen Methode in den Analyseschritten der formulierenden und der reflektierenden Interpretation widerspiegelt, beruht auf der Annahme, dass unsere (sprachlichen) Handlungen weder allein auf der einen noch auf der anderen Wissensart basieren, sondern im Spannungsfeld zwischen beiden Logiken stattfinden, die einander nicht entsprechen: „Die Regelhaftigkeit des kommunikativen Wissens mit ihrer propositionalen Logik geht […] niemals in der performativen Logik der Praxis auf“ (Bohnsack 2017: 108).

Um beide Wissensarten in einer analytischen Trennung zu erfassen, werden die Diskursdaten zunächst einer formulierenden Interpretation unterzogen, in deren Rahmen der immanente oder kommunikativ-generalisierte Sinngehalt zusammenfassend reformuliert wird, um die thematische Struktur des Textes zu erfassen (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2021: 370). Die darauffolgende reflektierende Interpretation hat den latenten oder dokumentarischen Sinngehalt im Blick (Przyborski 2004: 55). Dieser Schritt zielt auf die Rekonstruktion der Handlungsorientierungen oder Sinnmuster, die in einzelnen Passagen „die unterschiedliche[n] (einzelne[n]) Handlungen strukturieren, hervorbringen“ (ebd.; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2021: 371). Um festzustellen, „in welcher Weise ein Orientierungsgehalt unter interagierenden Personen geteilt ist, bedarf es der Betrachtung von mindestens drei Sinneinheiten“ (Przyborski 2004: 59, Hervorh. i. Orig.): der Proposition, der Elaboration und der Validierung, die sich jeweils in unterschiedlichen Spielarten präsentieren können (vgl. ebd. 59–76). Diese auf Basis der Diskursmodi herausgearbeiteten „homologen Sinnstrukturen bzw. Orientierungsrahmen“ werden daraufhin im selben Datum, aber auch in anderen Fällen gesucht bzw. mit jenen kontrastiert und kompariert und zu Orientierungen abstrahiert (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2021: 380).

3.2 Erste Ergebnisse

Im Folgenden wird exemplarisch anhand einer Passage aus einer Fokusgruppe mit sechs Auszubildenden im ersten Lehrjahr ein erster tentativer Orientierungsrahmen für das Thema Sprache im schulischen Teil der Pflegeausbildung gezeigt. An dem Gespräch haben fünf Frauen und ein Mann im Alter von 18 bis 22 Jahren teilgenommen. Sie hatten sich nach den Hospitationen des Projektmitarbeiters, bei denen sie von dem Projekt erfahren hatten, für die Teilnahme an der Fokusgruppe entschieden, die somit freiwillig und ohne unsere Vorauswahl stattfand. Als Zielgruppe für die Fokusgruppen wurden bewusst nicht explizit zugewanderte Auszubildende oder solche, die sich das Deutsche zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihres Lebens als Zweitsprache angeeignet hatten, angesprochen. Damit wollten wir nicht zu dem in Kapitel 2 thematisierten Othering beitragen. Zudem fanden wir es auch nicht uninteressant, wie sich eine bezüglich der Sprachbiographien heterogene Gruppe hinsichtlich unserer Fragestellung verhält.

Zusätzlich haben die Teilnehmenden Fragebögen zu ihrer Sprachbiographie ausgefüllt. Die Hälfte der Gruppe war in Deutschland geboren, einsprachig Deutsch aufgewachsen und hatte die komplette Schullaufbahn in Deutschland durchlaufen. Zwei der Auszubildenden waren knapp vier bzw. neun Jahre vor dem Gespräch eingewandert und hatten Deutsch in entsprechenden Kursen und in der Schule gelernt. Eine in Deutschland als Kind eingewanderter Eltern geborene Person ist bilingual aufgewachsen, nach eigenen Angaben ohne Deutsch. Die Frage nach der Art der Deutschaneignung, wenn diese nicht Erstsprache ist, wurde allerdings nicht ausgefüllt, sodass anzunehmen ist, dass Deutsch mit Eintritt in eine Bildungsinstitution des Elementarbereichs und im weiteren Verlauf im Primarbereich integrativ erworben wurde.

Das Fokusgruppeninterview begann mit der Frage nach den in der Gruppe gesprochenen Sprachen, benannte dies als Beispiel für Mehrsprachigkeit in der Pflegeausbildung und leitete von da zur Frage nach der Rolle von Sprache für die Anwesenden im Unterricht. Des Weiteren wurde nach sprachlich schwierigen Situationen und nach Unterstützungswünschen gefragt, die weiteren Fragen des Interviewers waren immanenter Art. Das Interview dauerte ca. 42 Minuten.

Im Folgenden wird zunächst der grobe thematische Verlauf des Gesprächs dargestellt8, bevor eine Passage, die als Fokussierungsmetapher ausgewählt wurde, genauer betrachtet wird:

Tab. 1: Thematischer Verlauf Fokusgruppeninterview

Zeit Thema der Passage und Oberthemen
00:05 Einführung
00:27 Impuls: Wie viele und welche Sprachen?
01:49 Unterricht: Rolle von Sprache allgemein im Unterricht?
  • zwei Sprachen in Pflege: Latein und Deutsch

  • Verständnisschwierigkeiten

  • Kursabbrüche wegen Sprachbarrieren

  • Erklärungen im Unterricht

  • Texte im Unterricht

  • Zeitmangel

  • Mehrsprachigkeit im Unterricht

  • Zeitmangel

09:34 Herausforderungen: Weitere schwierige Situationen?
  • Fachwortschatz

  • Unterstützung bei sprachlichen Schwierigkeiten

  • Fragenformulierungen in Prüfungen

  • Kommunikation in Pflegepraxis

  • Prüfungen

  • Diskriminierung

  • Fachwortschatz

23:35 Ressourcen: Was tun Sie, wenn Sie im Unterricht etwas nicht verstanden haben?
  • Smartphone

  • mündlich nachfragen

  • Wörterbuch

  • Umgang mit Verständnisschwierigkeiten in Prüfungen

  • Online-Hilfen

  • häufig genutzte Ausbildungsmaterialien

  • Organisation untereinander

33:57 Unterstützung im Unterricht?
  • kein Fokus auf sprachlicher Korrektheit bei mündlichen Beiträgen

  • sprachliche Fehler in der Zweitsprache Deutsch keine Aussage über Intelligenz

  • Geschwister und Familie

  • kein Auslachen bei sprachlichen Fehlern in der Klasse

  • wichtig, dass sich alle wohlfühlen

36:30 Wunsch nach Unterstützung?
  • Texte in anderen Sprachen

  • mehr Erklärungen

  • gemeinsamer Fokus auf schwierige Wörter

  • Nachhilfe, sprachlich und thematisch

  • mehr Zeit und Erklärungen

  • Nachhilfe

  • Gruppenarbeit

  • Erklärvideos

  • Nachhilfe

42:01 Abschlussfrage: Abschließende Ergänzungen?
42:31 Dank für Gespräch und Hinweis auf Ende der Aufnahme

Auffallend ist, dass das Thema Diskriminierung in allen Fokusgruppeninterviews sowohl mit Auszubildenden als auch mit den Lehrenden aufkam. Die Rekonstruktion der entsprechenden Orientierungen steht noch aus, aber die Tatsache, dass dieses Thema ohne explizite Nachfrage in einem Gespräch zu sprachlichen Herausforderungen in der Pflegeausbildung in allen Erhebungen zur Sprache kam, spricht zum einen für die Art der Datenerhebung, in der eigene Relevanzsetzungen vorgenommen werden konnten. Zum andern zeigt dies die starke Verzahnung von Sprache mit Machtverhältnissen, insbesondere in beruflichen Kontexten.

Die nun im Rahmen der reflektierenden Interpretation betrachtete Passage beginnt in Minute 15:09.9 Nachdem das Thema Prüfungen und in diesem Zusammenhang Schriftlichkeit in Prüfungen im Vergleich zur mündlichen Kommunikation im Unterricht als Unterthema bearbeitet wurde, fragte die moderierende Person nach Beispielen für schwierige Situationen in Prüfungen:

A5 beginnt die Passage mit einer einführenden Erzählung, einer Situation mit Bezug auf die Prüfung zum Injektionsschein, in die sie gut vorbereitet und damit „voll stolz und selbstbewusst […] reingegangen“ (Z. 5–6) ist und in diesem Sinne alles in ihrer Macht stehende Notwendige getan hat. Die folgende Elaboration im Modus einer Divergenz erfolgt nicht mehr als Erzählung in der ersten Person, sondern mittels des unpersönlichen Pronomens „man“, das eine verfremdende und distanzierende Funktion hat und damit ihre persönliche Erfahrung hin zu einer allgemeinen Aussage öffnet: Aufregung in Prüfungen führt dazu, dass man alles vergisst, weil der Druck zu groß ist. A1 bestätigt die Aussage des Moderators („ja:“) und leitet mit „also“ direkt zu einer Transposition über, einer Konklusion, „in […] [der] zugleich ein neues Thema aufgeworfen und die Orientierung in ihrem Grundgehalt mitgenommen wird“ (Przyborski 2004: 76), was insbesondere durch „auch“ verdeutlicht wird: Letztlich sollten Prüfungen das abprüfen bzw. Inhalte so abprüfen, wie sie im Unterricht vermittelt und damit gelernt wurden.

Es folgt eine Elaboration im Modus der Exemplifizierung: Es werden die Ursachen (wahrscheinlich eines Krankheitsbildes oder von Symptomen) im Unterricht vermittelt, in den Prüfungen ist die Frage aber so formuliert, dass nicht deutlich wird, dass es um eben jene Ursachen geht, was er mit „das ist so wo für mich so schwierig“ (Z. 20) im Sinne einer Zwischenkonklusion bewertet („Konklusion im Modus einer Validierung einer Orientierung“, ebd.: 75). Es folgt eine Elaboration dieser Bewertung im Modus einer Argumentation – mit neuen Wörtern verweist er auf unbekannte Wörter, die entsprechend nicht gelernt werden konnten, womit das mangelnde „Enaktierungspotential“ (Bohnsack 1989: 28) zur Darstellung kommt, die Wahrnehmung von Möglichkeiten des Agierens, was mit einer Elaboration im Modus einer Exemplifizierung und damit gleichermaßen einem Gegenhorizont veranschaulicht wird: Weder sind Hilfsmittel erlaubt – was von A6 mit „ich schwöre“ (Z. 24) validiert wird –, noch sind hilfreiche Hinweise von den Lehrenden zu erwarten. Die Exemplifizierung wird von einer Argumentation unterbrochen: Die Lehrenden glauben, dass die Auszubildenden nach wirklicher Hilfe im Sinne einer Antwort auf die Prüfungsfrage bitten würden. Darauf wird die Elaboration im Modus einer Exemplifizierung fortgesetzt: Es geht gar nicht darum, die Antwort auf die Frage vorgesagt zu bekommen, sondern die Frage selbst zu verstehen, um in der Lage zu sein, das eigene Wissen im Sinne einer Antwort zur Anwendung zu bringen. Auch hier wird wieder der Gegenhorizont dargestellt und gleichermaßen das fehlende Enaktierungspotential, das Ausgeliefertsein in dieser Situation. Es folgt eine weitere Exemplifizierung mit dem Hinweis, dass sich die Wörter von jenen aus dem Unterricht unterscheiden („ganz andere wörter“) (Z. 33). An dieser Stelle wechselt die Erzählperson in die wörtliche Rede, was die „metaphorische Dichte“ dieser ausgewählten „Fokussierungsmetapher“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2021: 124) veranschaulicht. Während in vielen Fällen die Lehrenden einfach die Prüfungsfrage wiederholen, führt die Erzählperson mit weiteren Elaborationen im Modus der Differenzierung wiederum einen Gegenhorizont auf: Ein Synonym oder eine Erklärung, was mit der Frage gemeint ist, würde helfen, was mit „dann=dann weiß ich“ validiert wird und mit einer Konklusion („aber das ist schwierig“, Z. 39) fast schon resignierend abgeschlossen wird.

Eine immanente Nachfrage des Moderators führt zu einer weiteren Elaboration im Modus einer Argumentation: Ein Vorlesen oder eine Wiederholung der Frage ist weder notwendig noch hilfreich, sondern „ich will einfach nur eine erklärung so anders formuliert die frage“ (Z. 45–47), was mit einer Elaboration im Modus einer Exemplifizierung, hier als Erzählung, veranschaulicht wird und von A6 validiert wird („is so is so is wirklich so“, Z. 54). Damit dokumentiert sich, dass die Erwartung an die Lehrperson besteht, die für die Auszubildenden schwierige Prüfungssituation abzufedern, also aktiv zu werden, das ihnen zustehende Enaktierungspotential zu nutzen und das Verständnis zu unterstützen, damit die Auszubildenden das vorhandene Wissen auch zum Ausdruck bringen können. Eine solche Unterstützung wird nicht als Hilfestellung und damit als Verstoß gegen die Prüfungsregelungen verstanden, sondern als Herstellung von (Bildungs-)Gerechtigkeit – im Gegensatz zur Gleichbehandlung aller Auszubildenden.

Als Zwischenergebnis der Rekonstruktion eines Orientierungsrahmens könnte man mit dieser Passage festhalten, dass sich ein Orientierungsrahmen andeutet, der nicht – wie zunächst in der formulierenden Interpretation und damit in der propositionalen Logik dargestellt – die sprachlichen Schwierigkeiten in der Ausbildung im Allgemeinen und Prüfungen im Besonderen veranschaulicht, sondern die fehlende Übereinstimmung der sprachlichen Gestaltung von Unterrichtsinhalten und deren Überprüfung und damit die Machtlosigkeit und das Ausgeliefertsein der Auszubildenden. In der Passage dokumentiert sich, dass sie die Aufgabe, dieses Problem zu lösen, mangels vorhandenem Enaktierunspotentials von sich weisen, sondern die Verantwortung bei den Lehrpersonen sehen. Dadurch wird Ohnmacht und Stärke gleichermaßen zur Darstellung gebracht. Nicht die Tatsache, dass sie sich das Deutsche als Zweitsprache angeeignet haben oder eine mangelnde Vorbereitung auf die Prüfung, führt zu sprachlichen Problemen, sondern die mangelnde sprachliche Sensibilisierung der Lehrenden und deren Unvermögen, auf berechtigte Fragen der Auszubildenden angemessen reagieren zu können. Somit kommt in diesem sich andeutenden Orientierungsrahmen die starke Verzahnung von Sprache und Macht zur Darstellung, der die Auszubildenden einerseits ausgeliefert sind – andererseits können sie durch rekonstruktive Verfahren in die Lage versetzt werden, Sprache zu nutzen, um solche Missstände zur Darstellung zu bringen. Dies wiederum verweist auf die Macht und Möglichkeiten von Forschung und Forschenden (vgl. Karasz/Wodak 2017), insbesondere durch rekonstruktiv-interpretative Verfahren mit ihren sinnverstehenden Analysen Orientierungen von Lernenden zum Gegenstand in der Forschung und diesbezügliche Erkenntnisse als Grundlage für pädagogisch-didaktische Planungen zur Verfügung zu stellen.

4 Fazit und Ausblick

Während verschiedene Expert*innen-Interviews im Rahmen einer explorativen Vorstudie zum Projekt immer wieder auf die Wichtigkeit unseres Vorhabens aufgrund der sprachlichen Herausforderungen in der Pflegeausbildung und der damit einhergehenden Überforderungen eines erheblichen Teils der Auszubildenden wie auch dem Wunsch der Lehrenden nach (einfachen) Lösungen abhoben, zeigt sich, dass die Lernenden zwar im thematischen Verlauf aller Fokusgruppeninterviews ebenfalls wiederholt die sprachlichen Schwierigkeiten – insbesondere auf der Wortebene – verhandeln, ein erster Orientierungsrahmen auf diese sprachlichen Schwierigkeiten aber eine ganz andere Sicht zeigt. So sind es nicht in erster Linie die sprachlichen Besonderheiten in der Pflege, die als Heraus- oder auch Überforderung gesehen werden. Vielmehr hat die sprachliche Gestaltung von Prüfungen im Vergleich zum Pflegeunterricht und auch zur Pflegepraxis ihre ganz eigene Logik und birgt damit eine besondere Herausforderung, welcher die Auszubildenden machtlos ausgeliefert sind. Des Weiteren sehen die Auszubildenden eine Schwierigkeit in der Überforderung der Lehrenden, ihnen z.B. in Prüfungssituationen durch entsprechende Hinweise in dem Maße weiterzuhelfen, dass sie in der Lage sind, ihr – durchaus auch sprachlich – vorhandenes Fachwissen entsprechend zur Anwendung zu bringen. Dass die Auszubildenden bereits konkrete Vorstellungen haben, wie eine solche Hilfe aussehen kann, zeigt einerseits die Produktivität des gewählten forschungsmethodologischen Vorgehens und verweist andererseits grundsätzlich darauf, dass Lernende selbst viel stärker als Expert*innen ihrer Lernwege und diesbezüglicher Bedürfnisse in die Planung und Organisation von Bildungsangeboten einbezogen werden sollen.

Im weiteren Verlauf des Forschungsprozesses steht nun der Vergleich mit den noch zu rekonstruierenden Orientierungen der Lehrenden an. Als Ausblick soll ein Datenausschnitt dienen, in dem das Thema ebenfalls zur Darstellung kommt, sich aber eine andere Orientierung anzudeuten scheint:

(-) wir können nur (---) das FACHliche, das pflege_FACHliche, beibringen wir können NICHT <<dim> die spr!A!che, beibringen> (---)

Während sich bei den Auszubildenden die Orientierung andeutet, dass sie es als Aufgabe der Lehrenden sehen, sie in dieser Prüfungssituation angemessen unterstützen zu können, zeigt die Aussage der Lehrenden eher, dass diese sich entweder aus der Verantwortung ziehen oder sich nicht in der Lage sehen zu unterstützen. Die Rekonstruktion, worin dieses „wir können nicht“ besteht, steht noch aus und stellt eine wichtige Grundlage für Fortbildungen für Lehrende in der Pflegeausbildung dar.

Notes

  1. Wir bedanken uns bei Maria Bringmann, Stephanie Falkenstern und Sina Spiekermeier Gimenes für wertvolle Hinweise bei der gemeinsamen Diskussion des Datenmaterials. [^]
  2. Das Strukturmodell für DaZ-Kompetenz für (angehende) Fachlehrpersonen (vgl. Ohm 2018) wurde in den BMBF-Projekten DaZKom und DaZKom Video theoretisch und empirisch fundiert ausgearbeitet und in der letzten Projektlaufzeit DaZKom Transfer mit Praxispartner*innen verschiedener Hochschulen bundesweit kritisch reflektiert und basierend darauf überarbeitet (vgl. Ohm et al. i. Dr.). [^]
  3. Zur kritischen Diskussion des Niveaus B2 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens als Voraussetzung für Pflegepersonal siehe Funk und Kuhn (2021). [^]
  4. Das Konzept der durchgängigen Sprachbildung ernst zu nehmen, bedeutet, nicht nur den schulischen Pflegefachunterricht mit einzelnen Komponenten sprachbildend zu gestalten, sondern auch die Pflegepraxis während der Ausbildung in den Blick zu nehmen. Dies stellt das Vorhaben eines vom BMBF geförderten Folgeprojektes dar (siehe http://www.stepsprojekt.de). [^]
  5. Ein solches Verständnis liegt damit an der Grenze zwischen Sprach- und Sozialwissenschaften. Zu den Unterschieden und gegenseitigen Ergänzungen beider Disziplinen in der linguistic ethnography vgl. Knappik 2022. [^]
  6. Weissenberg (2012) thematisiert die Analyse der erhobenen Daten nicht, sodass von einer rein inhaltlichen Auswertung ausgegangen werden kann. Damit werden die Antworten der befragten Personen als im wörtlichen Sinne übernommene Propositionen und Antworten auf die Forschungsfrage verstanden und nicht ins Verhältnis der jeweiligen Kontexte gesetzt. Auch der Aspekt der sozialen Erwünschtheit wird damit nicht einbezogen. [^]
  7. Im deutschsprachigen Forschungsdiskurs findet sich einerseits eine deutliche Unterscheidung zu Gruppendiskussionen (vgl. u.a. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2021: 171–172), andererseits werden beide Begriffe auch immer wieder synonym verwendet (vgl. Bär et al. 2020: 210). Insbesondere mit Verweis auf die Weiterentwicklung und Verwendung von focus groups in der angloamerikanischen Forschung, die ursprünglich aus der Marktforschung und damit quantitativen Zugriffen stammen, mittlerweile aber auch in der qualitativen Forschung eingesetzt werden (vgl. u.a. Carey 2015), kann nach Pokitsch (2022: 145–146) die abgrenzende Einordnung als noch nicht abgeschlossen angesehen werden. [^]
  8. Aus Platzmangel sehen wir von einer detaillierten Übersicht aller Unterthemen ab, die Tabelle dient vielmehr der Veranschaulichung, in welchen Kontext der folgende Ausschnitt eingebettet ist. [^]
  9. Transkriptionskonventionen siehe Anhang. [^]

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Zegelin, Angelika (2018): Die Zeit des Schweigens muss vorbei sein. Die Schwester/Der Pfleger 10, 50–52.

Anhang

Transkriptionskonventionen nach GAT 2 Basistranskript (Hagemann/Henle 2021; Selting et al. 2009)

sequenzielle Struktur/Verlaufsstruktur

[ ] Überlappungen und Simultansprechen [ ]

Ein- und Ausatmen

°h / h° Ein- bzw. Ausatmen von ca. 0.2-0.5 Sek. Dauer
°hh / hh° Ein- bzw. Ausatmen von ca. 0.5-0.8 Sek. Dauer
°hhh / hhh° Ein- bzw. Ausatmen von ca. 0.8-1.0 Sek. Dauer

Pausen

(.) Mikropause, geschätzt, bis ca. 0.2 Sek. Dauer
(-) kurze geschätzte Pause von ca. 0.2-0.5 Sek. Dauer
(--) mittlere geschätzte Pause von ca. 0.5-0.8 Sek. Dauer
(---) längere geschätzte Pause von ca. 0.8-1.0 Sek. Dauer
(0.5) gemessene Pausen von ca. 0.5 bzw. 2.0 Sek. Dauer
(2.0) (Angabe mit einer Stelle hinter dem Punkt)

sonstige segmentale Konventionen

und_äh Verschleifungen innerhalb von Einheiten
äh öh äm Verzögerungssignale, sog. „gefüllte Pausen“

Lachen und Weinen

haha hehe hihi silbisches Lachen
((lacht)) ((weint)) Beschreibung des Lachens
<<lachend> > Lachpartikeln in der Rede, mit Reichweite
<<:-)> soo> „smile voice“

Rezeptionssignale

hm ja nein nee einsilbige Signale
hm_hm ja_a zweisilbige Signale nei_ein nee_e
ʔhmʔhm, mit Glottalverschlüssen, meistens verneinend

sonstige Konventionen

((hustet)) para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse
<<hustend> > sprachbegleitende para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse mit Reichweite
( ) unverständliche Passage ohne weitere Angaben
(xxx), (xxx xxx) ein bzw. zwei unverständliche Silben
(solche) vermuteter Wortlaut
(also/alo) (solche/welche) mögliche Alternativen
((unverständlich, ca. 3 Sek.)) unverständliche Passage mit Angabe der Dauer
((…)) Auslassung im Transkript
Verweis auf im Text behandelte Transkriptzeile

Kurzbio

Prof. Dr. Andrea Daase ist Professorin für Deutsch als Zweit-/Fremdsprache an der Universität Bremen. Zu ihren Forschungsinteressen gehören Deutsch im Kontext von Mehrsprachigkeit in Schule, Ausbildung und Beruf, Professionalisierung von pädagogischem Personal in Bildungskontexten und rekonstruktiv-interpretative Zweitsprachaneignungsforschung.

Dr. Micha Fleiner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Germanistik – Deutsch als Zweitsprache/Fremdsprache an der Universität Bremen. Zu seinen Interessenschwerpunkten gehören Mehrsprachigkeit im Kontext von Schule, Ausbildung und Beruf, Sprachbildender Unterricht und Performative Didaktik.

Anschrift:

Prof. Dr. Andrea Daase

Universität Bremen

Fachbereich 10 Sprach- und Literaturwissenschaften

Deutsch als Zweit-/Fremdsprache

Universitäts-Boulevard 13

28359 Bremen

adaase@uni-bremen.de

Authors

  • Andrea Daase orcid logo (Universität Bremen)
  • Micha Fleiner (Universität Bremen)

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Themenschwerpunkt: (Mehr-)Sprachen-Bildung in beruflichen Kontexten

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