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Aufsatz zum Themenschwerpunkt

Die Samstagsschule als außerschulische Bildungsinstitution: Formen der herkunftssprachlichen Förderung bei Kindern und Jugendlichen mit russischsprachigem Migrationshintergrund

Abstract

Der vorliegende Beitrag widmet sich Einrichtungen zur Förderung des Russischen als Herkunftssprache, die sich außerhalb des schulischen Unterrichts etabliert haben. Sie werden zunächst als Institution beschrieben, um auf der Basis von Interviews sowie transkribierten Mitschnitten von Unterrichtsinteraktionen zu zeigen, wie in ihnen die Bedarfe der Aktuere aufgegriffen und umgesetzt werden. Dabei steht in diesem Beitrag zunächst die Perspektive der Eltern im Vordergrund, deren Erwartungen an die Institution mit der tatsächlichen Umsetzung abgeglichen werden sollen. Es zeigt sich dabei eine sehr spezifische Gemengelage, die einerseits die positive Einschätzung russischsprachiger Eltern und andererseits deren Verifizierung durch die Institution selbst aufzeigt.

The Saturday School as an Extracurricular Educational Institution: Formsof Heritage Language Support for Children and Adolescents with aRussian-Speaking Migrant Background

This following contribution is devoted to organizations promoting Russian as heritage language that have been established beyond school-based teaching of the heritage languages. After an institutional analysis, on the basis of interviews and transcribed recordings of classroom interactions, it is described, how the needs of the actors are addressed and implemented in them. The focus of this article is first of all on the parents' perspective, whose expectations of the institution are to be compared with the actual implementation. A very specific situation emerges, which on the one hand shows the positive assessment of Russian speaking parents and on the other hand their verification by the institution itself.

Школа выходного дня как учреждение дополнительного образования: формыподдержки родного языка детей с русскоязычным происхождением 

Эта статья посвящена учреждениям, занимающимся продвижением русского как унаследованного языка. Kак правило, они действуют за пределами общеобразовательных школ стран, где они работают. Сначала эти учреждения будут описаны как институции, чтобы показать на основе интервью и отрывка записи хода урока, как учитываются и реализуются нужды участников этих учреждений. В центре внимания будет находиться перспектива родителей, их представления об учреждении, которые в последующеем будут сравнены с фактической реализацией обучающего процесса на занятиях. Возникает весьма специфическая ситуация, которая, с одной стороны, свидетельствует о положительной оценке русскоязычных родителей, а с другой – об их проверке самим учреждением.

Keywords: Russich als Herkunftssprache, Agency, Unterrichtsinteraktion, Samstagsschule, Russian as a heritage language, classroom interaction, Saturday Schools, Русский как язык происхождения, субъективность, коммуникация на уроке, субботняя школа, школа выходного дня

How to Cite:

Kreß, Beatrix & Roeder, Katsiaryna (2022):
Die Samstagsschule als außerschulische Bildungsinstitution: Formen der herkunftssprachlichen Förderung bei Kindern und Jugendlichen mit russischsprachigem Migrationshintergrund.
Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 27: 2, 145–163.
https://doi.org/10.48694/zif.3515

1 Einleitung

Neben dem herkunftssprachlichen Unterricht nach Rahmenlehrplänen Herkunftssprache im Schulcurriculum einzelner Bundesländer haben sich zahlreiche Formen des herkunftssprachlichen Unterrichts in parallelen Formaten herausgebildet (vgl. Brehmer/Mehlhorn 2018: 71). Gegenstand des folgenden Beitrags sind Einrichtungen, die meist auf Elterninitiativen zurückgehen und auf Vereinsbasis spracherhaltende und -fördernde Maßnahmen anbieten (vgl. ebd.). Mit einer akteurszentrierten Perspektive wird im Beitrag gezeigt, wie die Motive für die Etablierung und den Erhalt dieser Einrichtungen mit Vorstellungen von Bildung und Wissenserwerb interagieren. Dabei wenden wir uns zunächst den Elternperspektiven zu. Eltern sind insofern besonders relevante Akteure, da sie einerseits oft als Initiatoren gelten können, andererseits aber im weiteren Verlauf auch entscheidend darauf einwirken, dass der Institution Schülerinnen und Schüler (SuS) zugeführt werden. Selbstverständlich muss aber auch die Perspektive der Lehrkräfte und der SuS selbst berücksichtigt werden. Wir werden in einem zweiten Schritt eine Interaktionsanalyse anschließen, die konkrete Vermittlungsszenarien zwischen Lehrenden und SuS in den Blick nimmt. Ziel ist es, zu zeigen, dass die vorliegende Institution zur Förderung der Herkunftssprache auch interaktional Erwartungen realisiert, die Eltern in diese Konstellation setzen. Hintergrund der vorliegenden Überlegungen und Analysen ist eine Skepsis gegenüber der schulischen Unterrichtspraxis – und in der Folge wohlmöglich gegenüber einem herkunftssprachlichen Unterricht – in der Regelschule, die in informellen Gesprächen mit Beteiligten immer wieder deutlich wurde. Konkret geht es also darum zu zeigen, was Eltern (mit russischsprachigem Hintergrund) für ,gute Schule‘ halten, die ihren eigenen Bildungsaspirationen entgegenkommt und deswegen geeignet scheint, die Herkunftssprache (und andere Kompetenzen) zu fördern, und wie die tatsächliche Vermittlungspraxis hier wohlmöglich genau den Erwartungen entspricht.

2 Samstagsschulen als Institution

Samstagsschulen sind Bildungseinrichtungen, die deutschlandweit existieren und die keineswegs nur an Samstagen Unterrichtsangebote erbringen. Sie bieten Unterricht in Herkunftssprachen an, zum Teil werden aber auch Bereiche, etwa im musischen Spektrum (Zeichenunterricht, Theaterarbeitsgruppen u.ä.), angesprochen.

Im vorliegenden Beitrag stammen die Daten aus einer Einrichtung, die sich an einen russischsprachigen Personenkreis wendet, in einer niedersächsischen Großstadt, die als exemplarisch bzw. prototypisch erachtet werden kann. Sie organisiert sich als Verein und ist, wie viele andere Organisationen dieser Art, aus einer Elterninitiative heraus entstanden. Für das Programm und die Absicherung der Lern-Lehr-Prozesse sind russischsprachige Lehrkräfte zuständig, die ihre Ausbildung in weiten Teilen in Russland erhalten haben.

Als Institution zur Bearbeitung und Regelung gesellschaftlicher Zwecke zählt die Samstagsschule zu den Institutionen der Erziehung (vgl. Ehlich/Rehbein 1980: 340; 1994: 318). Im Vergleich zur Schule hat sie jedoch eine andere, eingeschränkte Reichweite (vgl. Ehlich/Rehbein 1994: 319). Ebenso wie bei Schulen ist einer der zentralen Zwecke die Weitergabe und Festigung gesellschaftlichen (sprachlichen, kulturellen, habituellen) Wissens an die und bei der nächste/n Generation. Während aber die Schule nahezu jeden betrifft (vgl. ebd.), geht es bei der Samstagsschule nur um Teile der Gesellschaft; auch das in ihr vermittelte Wissen ist in Geltung und Reichweite eingeschränkt. In der funktionalen Dimension nach Fend (1980, 2006) kann sie nur zwei von vier Funktionen als Bildungseinrichtung gewährleisten: Die Samstagsschule qualifiziert, sie vermittelt allerdings nur Metaqualifikationsfunktionen (wie bspw. Kommunikationsfähigkeit) – und dies auch mit eingeschränkter gesellschaftlicher Relevanz. Sie selegiert und legitimiert nicht, dazu fehlt ihr die institutionelle Ausstattung. Zentral ist die Enkulturationsfunktion als Reproduktion und Vermittlung eines kulturellen Systems, das hier aber nicht das der hegemonialen Gesellschaft ist. Die fehlenden Funktionen hängen vor allem mit Ausstattung und Organisation der Institution zusammen. So lehnt man sich teilweise an Vorgaben des russischen Bildungsministeriums an und erhält auch Förderungen durch Organisationen der Russischen Föderation, diese sind aber nicht kontinuierlich und insgesamt muss mit einer strukturellen Unterausstattung umgegangen werden. Prüfinstrumente und eigene Zertifizierungen fehlen ebenso. Um den SuS einen Nachweis ihrer Kenntnisse in Aussicht zu stellen, muss man sich an externe Anbieter wenden.

3 Handelnde und Handlungsmöglichkeiten

Vor dem Hintergrund der bisher geschilderten institutionellen Ausstattung bzw. des „Handlungsraums“ Samstagsschule (Ehlich/Rehbein 1994: 319) sind auch die Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen Interaktanten zu sehen. Da Samstagsschulen häufig auf die Initiative von Eltern zurückgehen, die ihren Kindern eine herkunftssprachliche Aneignung ermöglichen wollen, soll im Folgenden auf deren Agency, also ihre Handlungsermächtigungen durch die selbst initiierte Institution geblickt werden. Trotz aller Vagheit, die dem Konzept der Agency innewohnt (vgl. Emirbayer/Mische 1998: 962), ist es doch gerade in diesem Kontext relevant, da aus der mit ihr verknüpften Frage nach Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbeschränkungen des Individuums durch gesellschaftliche Strukturen das Entstehen von Samstagsschulen und ihre Funktionalitäten erklärt werden kann.

Ein zentraler Punkt ist zunächst der Verweis auf deliberative Anteile der Agency (vgl. u.a. Emirbayer/Mische 1998: 997–998) und dem daraus entspringenden unternehmerischem Geist („institutional entrepreneurship“, Abdelnour/Hasselbladh/Kallinikos 2017: 1776). Im Unterschied zur Schule, wo zumindest im Hinblick auf Eltern und Lehrende die Agenten-Klienten-Rollen und die damit einhergehenden Handlungsmöglichkeiten und Einschränkungen recht klar verteilt sind, spricht einiges dafür, dass sich dies in Samstagsschulen etwas anders verhält, gehen sie doch in der Regel auf das Betreiben von Eltern zurück, die dann auch späterhin aktiv in die Institution – als Akteur_innen – eingebunden sind.

Dieser Punkt ist sicher zu verknüpfen mit Präferenzen für diese Institution gegenüber der Bewertung der Regelschule. Eltern zeigen sich häufig sehr positiv im Hinblick auf ihre Erwartungen und Einschätzungen der Samstagsschule zuungunsten der umgebungssprachlichen Bildungseinrichtungen. Im Folgenden werden einige Auszüge aus Interviews mit Eltern vorgestellt und im Hinblick auf die sich dort zeigende Agency untersucht. Dabei spielt die Handlungsermächtigung selbst, aber auch die damit einhergehende Repetition kultureller Muster, die die Befragten in der Institution (eher) wiederfinden können als in der Regelschule. Schließlich zeigt sich auch die Bedeutung von Netzwerken und sozialen Beziehungen, die für die Herstellung von Handlungsermächtigung zentral sind (vgl. Abdelnour et al. 2017: 1777).

Die Eltern (tatsächlich: Mütter) wurden befragt hinsichtlich ihrer Motivation, ihre Kinder in der Samstagsschule anzumelden. Damit geht es um das Handlungsmuster des Begründens, dem Ehlich/Rehbein (1986: 90) als fremdsprachliche Entsprechung das Motivieren zuordnen. So fragt die Interviewerin:

mhm °h ähhh tak vot marina i dima oni chodjat u vas ahh vdvoëm v [nazvanie školy] da? i ja chotela by uznat’ ähhh počemu vy rešili otdat’ marinu i dimu na zanjatija v [nazvanie školy] to est’ kakaja vaša motivacija byla?

mhm °h ähhh so Marina und Dima sie besuchen ahh zu zweit [Name der Schule] ja? und ich möchte wissen ähhh, warum ihr entschieden habt, Marina und Dima in [Name der Schule] anzumelden, also, wie war eure Motivation?

Die Interviewerin bringt selbst Russisch als erste Sprache mit. So ist das Begründen, das hier elizitiert wird, zwar auf eine Wissensveränderung bei der Interviewerin ausgerichtet, dennoch geht es nur bedingt um die „Umformung“ (Ehlich/Rehbein 1986: 98) der Einstellung der Adressatin zum Zwecke eines Weiterbestehens des gemeinsamen Handlungssystems. Es geht um eine Handlungsbegründung, die Befragten müssen aber keine (negative oder positive) Einstellung beim Gegenüber erwarten, die ggf. zu einem Abbruch des gemeinsamen Handelns führen könnte. Allerdings hat die Interviewerin durch ihre Frage ein Interesse an der Handlungsbegründung geäußert, dass die Sprecherinnen befriedigen möchten. Vorauszusetzen ist aufgrund der Annahmen über einen geteilten Wissensraum im Hinblick auf Mehrsprachigkeit sowie die russische Sprache, dass die Sprecherin (S) von einer (eher) positiven Einstellung und dem Vorhandensein zentraler Wissensbestände bei der Interviewerin im Hinblick auf die zur Rede stehende Institution und deren Nutzen ausgeht. Auch wenn hier also eine bestimmende Handlungsweise – als Erziehungsberechtigte Kinder in der Samstagsschule anmelden – begründet wird, steht das elizitierte Begründungshandeln doch dem kognitiven Begründen, das auf Verstehen ausgerichtet ist, nahe (vgl. Ehlich/Rehbein 1986: 112; Trautmann 2004: 127).

Zunächst zeigt sich die Bedeutung der Netzwerke für die eigenen Akteur_innen selbst als bedeutend. Dies entspricht theoretischen Annahmen, zeigt aber auch die Bedeutung einer Verankerung von Institutionen innerhalb von Gemeinschaften für deren Annahme und Funktionieren. Auf die Frage nach ihrer Entscheidung (počemu ty rešila) [Warum hast du entschieden] für die Samstagsschule, die ganz unmittelbar auf Handlungsmacht verweist, beruft sich die Sprecherin zweifach auf den Rat einer zur Gemeinschaft gehörigen Person. Deren positive Einschätzung wird dabei begründend (0037) eingebracht und der offenbar nicht eindeutig positiven Einstellung des Kindes gegenübergestellt.

0033 I mhm °h äähmmm tak ty skazala čto tut tvoj mladšij artëm chodit v [nazvanie školy] (.) mhm °h äähmmm so du hast gesagt, dass dein Kleiner, Artjom, [Name der Schule] besucht (.)
0034 ähmmm ja chotela uznat’ počemu ty rešila ego otdat’ vot v ėtu školu (---)
ähmmm ich möchte wissen, warum du entschieden hast, ihn in dieser Schule anzumelden (---)
0035 M1 nuu natal’ja posovetovala pro [nazvanie školy] ja slyšala kogda moj
naa Natalja hat es empfohlen über [Name der Schule] habe ich gehört, als mein
0036 ähh staršij rodilsja °h no my počemu to ne rešili ego tuda otdat’ aa (--)
ähh Großer geboren wurde, °h aber wir haben uns aus irgendeinem Grund nicht entschieden, ihn da anzumelden aa (--)
0037 potom kogda kak raz ((smeëtsja)) natal’ja posovetovala skazala čto tam
und dann, als ((lacht)) Natalja es empfohlen hat, sie sagte, dass da
0038 ähmm chorošo dlja detej čto prepodajut (.) i my poprosilis’ (neponjatno) (--)
ähmm Kinder gut unterrichtet werden (.) und wir haben angefragt (unverständlich) (--)
0039 nam ((smeëtsja)) očen’ ponravilos’ chotja malen’kij to chočet to ne chočet chodit’
uns ((lacht)) hat es sehr gefallen, obwohl der Kleine mal will, mal will er nicht dahin gehen
0040 no ėto tak deti da? čto chotjat lučše poigrat’sja a vot pozanimat’sja no vsë ravno (.)
aber das sind doch Kinder ja? sie wollen lieber spielen anstatt lernen, aber trotzdem (.)
0041 no kogda on zanimaetsja emu ėto nravitsja
wenn er lernt, dann gefällt es ihm

Der ausschlaggebende Rat kommt von einer Akteurin, die entsprechende Kompetenzen zur Beurteilung von Bildungsinstitutionen mitbringt:

0027 M2 da ähhh pedagogičeskij universitet
ja ähhh die pädagogische Universität
0028 [nazvanie universiteta i gorod]
[Name der Universität und die Stadt]
0029 v dve tysjači ähhhhh a podoždi
2000 ähhhhh ah warte
0030 ja postupila v devjanosto četvërtom
ich habe angefangen 1994 zu studieren
0031 devjanosto vos’mom da? s devjanosto četvërtogo po tysjača devjat’sot devjanosto vos’moj
1998 ja? von 1994 bis 1998
0032 ja učilas’ ja
habe ich studiert ich

An dem Interview mit ihr zeigt sich besonders eindrücklich die Bedeutung der Samstagsschule als Institution aus der ,eigenen Handlungsmacht‘ als ein Rückgewinn an Souveränität. Zunächst ist die eigene Kompetenz von Bedeutung, die als Grundlage der Urteilsfähigkeit über das, was ,gute Bildung‘ ist, sofort und als Erstes eingebracht wird, nachdem nach Begründung und Motivation gefragt wird:

0043 I to est’ kakaja vaša motivacija byla?
also, wie war eure Motivation?
0044 M2 (---) no tak kak ja sama učitel’ anglijskogo jazyka,
(---) da ich selber Englischlehrerin bin
0045 prekrasno ponimaju čto ähhh
verstehe ich sehr gut, dass ähhh
0046 vladenie jazykom tol’ko ustnoj ego čast’ju ėto tol’ko pol jazyka
die alleinige Beherrschung der mündlichen Sprachkompetenzen nur ein Teil der Sprache ist
0047 a vladenie čteniem i pis’mom ono takže važno kak i umenie govorit’
und das Lesen und Schreiben sind genauso wichtig wie das Sprechen
0048 esli ty umeeš’ govorit’ no ne umeeš’ pisat’ (.)
wenn du sprechen kannst, aber nicht schreiben kannst (.)
0049 to ty i v principe možno skazat’
dann beherrschst du im Prinzip, kann man sagen,
0050 ähhh ne znaeš’ eščë jazyk na sto procentov da?
ähhh die Sprache noch nicht hundert Prozent ja?
0051 poėtomu tak kak russkij jazyk on tože odin iz samych složnych
insofern da das Russische auch eine der schwierigsten Sprachen ist
0052 on i ne takoj prostoj i ähhhh (.)
es ist nicht so einfach und ähhhh (.)

Die Befragte bezieht sich auf ihr fachliches Wissen, das sie im Hinblick auf das Offensichtliche steigert (prekrasno ponimaju)[verstehe ich sehr gut] und durch den Verweis auf die Komplexität des Russischen wird dies noch einmal spezifiziert und gesteigert, obwohl sie selbst ja Englischlehrerin ist.

Die Bedeutung der eigenen Kompetenzen für das Nachfragen der Institution Samstagsschule sowie der damit einhergehenden spezifischen Ausarbeitung der Agency soll noch am folgenden Auszug aus dem Interview, der sich unmittelbar anschließt, gezeigt werden:

0053 M2 esli rebënok izučaet ėto v detstve, togda eščë osobenno vot naprimer marina pošla v pervyj klass
wenn das Kind das im Kleinkindalter lernt, dann ist noch besonders z.B. Marina wurde eingeschult
0054 vsego ej bylo pjat’ let ona daže ne byla v škole ona byla polnost’ju svobodnym rebënkom
sie war nur fünf Jahre alt sie besuchte keine Schule sie war ein absolut freies Kind
0055 ona očen’ legko vyučila vse bukvy ona v principe uže znala bukvy ona uže nemnogo (.)
sie hat sehr leicht alle Buchstaben gelernt, im Prinzip kannte sie Buchstaben, sie hat ein bisschen
0056 ähhhh čitala po slogam ona očen’ bystro osvoila čtenie i pis’mo
ähhhh Silben gelesen, sie hat sehr schnell das Lesen und Schreiben erlernt
0057 vot sejčas my prosto uže izučaem ähmmmmm (.)
also momentan lernen wir einfach ähmmmmm (.)
0058 pis’mennye pravila da? tam razvivaem (.) reč’ bol’še (.)
Rechtschreibregeln ja? vertiefen (.) mehr das Sprechen (.)
0059 izučaem bol’še russkich takich (.) ähmm slov skazok da? to čto, to čto my doma naprimer ne čitaem (.)
lernen mehr solche russischen (.)ähmm Wörter, Märchen ja? Das, was, das was wir zu Hause z. B. nicht lesen (.)
0060 vot sejčas u mariny v ėtom plane chorošoe razvitie (.) no i plus eščë russkaja škola dala očen’ chorošuju podgotovku (.)
also aktuell hat Marina diesbezüglich eine gute Entwicklung (.)aber auch die russische Schule hat sie sehr gut vorbereitet (.)
0061 k ähhhh osnovnoj škole obyčnoj obrazovatel’noj nemeckoj škole
für ähhhh die deutsche Regelschule
0062 potomu čto v nemeckoj škole ähmm v detskom sadike deti ne učatsja pisat’
weil an der deutschen Schule ähmm im Kindergarten die Kinder kein Schreiben lernen
0063 absoljutno nikak ne učatsja ne delajut nikakich zadanij podgotovitel’nych (.) vot
sie lernen absolut nicht, sie machen keine Vorbereitungsübungen (.) oder so
0064 pritom čto v škole aaaa nado uže pisat’ načinat’
wobei in der Schule muss man schon anfangen zu schreiben
0065 i u mnogich detej aaa est’ problemy s pis’mom
und viele Kinder aaa haben Probleme mit dem Schreiben
0066 u menja voobšče ne bylo nikakich problem s pis’mom
ich hatte gar keine Probleme mit dem Schreiben
0067 marina vsegda očen’ krasivo pisala i eë chvalili govorili ona lučše v klasse vsech pišet (.)
Marina hat immer schön geschrieben und sie wurde gelobt und uns wurde gesagt, dass sie die Beste in der Klasse, was schreiben angeht, ist(.)
0068 chotja ona levša (.) levše ėto namnogo složnee tože no u neë sejčas zamečatel’nyj podčerk i ona ähhh (--)
obwohl sie Linkshänderin ist (.)für Linkshänder_innen ist das schwerer, aber sie hat eine wunderschöne Handschrift und sie ähhh (--)
0069 pišet bystro akkuratno i krasivo
schreibt schnell, sauber und schön
0070 ja sčitaju čto éto tože zasluga [nazvanie školy] potomu čto oni zanimalis’
ich glaube, dass das [Name der Schule] zu verdanken ist, dass sie geübt haben
0071 ona s četyrëch let zanimalas’ vot to est’ v ėtoj škole podgotovok kak i dima sejčas
sie besuchte, seitdem sie vier ist, diese Vorbereitungsschule, diese besucht auch Dima jetzt

Die Sprecherin verankert zunächst ihre Ausführungen in einem entwicklungspsychologischen Wissensbestand, der das späte Kleinkindalter als besonders fruchtbar für den Lese- und Schreiberwerb voraussetzt, was in diesem Fall aber mit als Sentenz (vgl. hierzu Ehlich/ Rehbein 1977: 54) zur Verfügung stehendem und damit allgemeingültigem Wissen übereinstimmt (im Sinne eines „Früh übt sich, wer ein Meister sein will“, „Чем раньше, тем лучше“, „Упорный труд мастера рождает“). Auch die folgenden begründungsrelevanten Wissensbestände entstammen tendenziell fachlichem Wissen (Silbenlesen, čitala po slogam). Der Übergang zu Erlebniswissen ist dann markiert durch eine Veränderung der Personaldeixis. Zunächst wird von der Tochter gesprochen, die sich im Allgemeinen im Hinblick auf Lesen und Schreiben gut entwickelt, bevor der Wechsel zu einem inklusiven my [wir] und der Verbform in der 1. Pers. Pl. in 0057 und 0058 den Erwerb des Russischen zu einer Familiensache macht. Dabei ist der Übergang zur institutionellen Unterstützung dieses Erwerbs durch die Samstagsschule in Fläche 0059 fließend gestaltet: izučaem bol’še russkich takich (.) ähmm slov skazok da? to čto, to čto my doma naprimer ne čitaem (.) [wir lernen mehr solche russischen ähmm Wörter, Märchen ja? Das, was, das was wir zu Hause z.B. nicht lesen]. Die Institution bringt hier offenbar unterstützend eine Textgattung ein, die nicht den Lesegewohnheiten der Familie entspricht. In 0060 ist die Sprecherin dann vollständig in der Institution angekommen, die eine gute Vorbereitung für die Einrichtung Regelschule bietet. Durch die enge Verzahnung von Familie, russischer Sprache und russischsprachiger Institution, wie sie dieser Komplex bietet, wird die Kontrastierung zur nun folgenden, als Maxime – ein „handlungsleitende(s) Destillat(e) aus vorgängiger Erfahrung“ (Ehlich/Rehbein 1977: 58) – formuliert, noch deutlicher hervorgehoben. Die deutsche Institution Kindergarten bietet keine – und zwar absoljutno [absolut] (0063) keine Vorbereitung für die deutsche Institution Schule. Es folgen weitere Maximen, die dieses Dilemma bzw. diese Diskrepanz stützen (z.B. 0064 pritom čto v škole aaaa nado uže pisat’ načinat’) [wobei in der Schule muss man schon anfangen zu schreiben] sowie ebenfalls stützende Bewertungen, die den Schulerfolg der Tochter trotz Widrigkeiten – wie etwa die Veranlagung zu einer Dominanz der linken Hand – herausstellen. Abgeschlossen wird die erste Begründungssequenz mit einer positiven Einschätzung der konkreten Samstagsschule, die auf einer kausalen Verknüpfung zwischen den guten Leistungen der Tochter in der Schule mit der Vorbereitung durch das parallele Unterrichtsangebot beruht.

Die Gegenüberstellung zwischen Samstagsschule und den regulären Bildungseinrichtungen Kindergarten und Schule ist mit der Frage nach Handlungsmacht eng verknüpft. Die eigenen Beurteilungskompetenzen werden als relevant erachtet und von der Samstagsschule beantwortet. Die Institutionen der Umgebungsgesellschaft bleiben dies schuldig und werden so als unzureichend wahrgenommen und negativ eingeschätzt. Daher kann Handlungsmacht genutzt werden, um zusätzliche Angebote einzuholen. Dies entspricht dem Wilful Actor (Abdelnour et al. 2017: 1781), der in der Institutionsanalyse durch die Betrachtung von Agency Einzug gehalten hat. Die Relevanz dieser Konstellation zeigt sich auch im weiteren Verlauf dieses Interviews und wiederholt sich auch in anderen Interviews, die hier aus Gründen des Umfangs des Beitrags nicht eingehend diskutiert werden.

Gründe für die Samstagsschule resultieren also aus einer kompetenten (Rück-)Gewinnung von Handlungsmacht und Sozialbeziehungen, in die die Kompetenzen beratend eingebracht werden.

Schließlich verweisen aber die Arbeiten zur Agency wie auch die Betrachtung von Institution auf die Rolle kultureller Muster. Institutionen sind kulturelle Skripte und damit normative und regulative Säulen (vgl. Barley/Tolbert 1997; Abdelnour et al. 2017: 1778). In den Interviews zeigt sich, dass die Sprecherinnen relativ präzise Vorstellungen davon haben, nicht nur, was die Institution leisten soll, sondern auch, wie sie ganz konkret gestaltet und welche sehr konkreten Ergebnisse dadurch erzielt werden sollen:

i dima ähhhh ne chotel brat’ pravil’no karandaš’ n ne deržal ničego pravil’no (.) i on tol’ko na prošloj nedele porazil menja tem čto on vypolnil složnoe pis’mennoe zadanie nužno bylo vot (.) ähh vot ähhh vot ne otryvaja ruki risovat’ ähhh zigzagi raznogo vida (.) on napisal kak vzroslyj (.) kak vzroslyj!

Und Dima ähhhh wollte nicht richtig den Stift halten, nichts hielt er richtig (.) und erst letzte Woche überraschte er mich, indem er eine schwierige Schreibaufgabe erledigt hat, man musste also (.) ähh also ähhh ohne die Hand wegzunehmen, unterschiedliche Arten von Zickzack malen (.) er hat wie ein Erwachsener (.) wie ein Erwachsener geschrieben!

Diese sehr präzisen Zielvorstellungen – wie wird Wissen ausgebildet und welches Wissen wird vermittelt? – werden von der Samstagsschule offensichtlich in befriedigender Weise erfüllt. Dabei ist natürlich der Blick in die Institution selbst, in die konkrete Wissensvermittlung, notwendig, um zu verstehen, wie der Spracherwerb verläuft. Indem die Institution und die dort vollzogene Wissensvermittlung untersucht werden, kann auch nachvollzogen werden, inwiefern die Form der Vermittlung mit der Vorstellung der Wilful Actors – also der Eltern – zusammenlaufen.

4 Sprachbetrachtung und Wissenskonsolidierung

Die Wissensvermittlung in der Schule konstituiert sich zum größten Teil durch Sprache. Dabei wird die Sprache in ihrer epistemischen, wissens- und denkensbildenden Funktion, eingesetzt (vgl. Ehlich 2007a, 2013). Prozesse der Wissenskonstituierung in der Unterrichtsinteraktion können je nach Art und Weise des zu vermittelnden Wissens unterschiedlich vonstattengehen. Einerseits wird das diskursiv im gemeinsamen Handlungsraum zusammen entwickelt, andererseits ist es möglich, dass das neue Wissen individuell angeeignet wird, ohne eine Hilfeleistung durch die Lehrkraft. Sehr oft kommt es in der Unterrichtspraxis vor, dass die Phasen des Wissensausbaus und der -festigung an das schülerseitige Vorwissen anknüpfend ausgeführt werden können (vgl. Wagner/Krause/Uribe/Prediger/Redder 2022). Um die Breite der Möglichkeiten der Sprachbetrachtung im Unterricht abzudecken, benötigt die Lehrkraft ein Konglomerat an diversen Verfahren oder Taktiken. Eine gängige Praxis der diskursiven Wissenskonsolidierung in der betrachteten außerschulischen Bildungseinrichtung ist die verstärkte Implementierung der Lehrerfrage, die mentale Prozesse bei SuS zwecks der Evozierung fehlender Wissenselemente für den gemeinsamen Vollzug der Wissensaneignung aktiviert (vgl. Ehlich 1981/2007c, Ehlich/Rehbein 1986).

4.1 Handlungsqualität der Lehrerfrage

Die Lehrerfrage stellt eine spezifische Form des Fragens dar, die einigen institutionellen Modifizierungen unterzogen wird. Diese Art der „funktionalisierte[n] Anwendung“ (Redder/Thielmann 2015: 343) der Lehrerfrage wird als „Taktik“ bezeichnet (vgl. Ehlich/Rehbein 1977: 70, Ehlich 1981/2007c: 148). So wird sie initiiert, nicht weil der Sprecher, in diesem Fall die Lehrkraft, ein Wissensdefizit im Moment des Fragens aufweist, sondern der eigentliche Zweck der Lehrerfrage liegt im Anregen mentaler operativer Prozesse auf der Seite der SuS. Ehlich (vgl. Ehlich 1981/2007c: 147) geht davon aus, dass die verwendete Lehrerfrage nicht die Freisetzung des vorhandenen Wissens im mentalen Bereich der SuS anstrebt, sondern dass gesuchte Wissenselemente, die mittels der Frage in das Unterrichtsgeschehen eingeführt werden, in die bereits bestehenden Wissensbestände der SuS aufs Neue integriert werden sollten. Dazu soll die versprachlichte Frage aufzeigen, „in welcher Domäne dieses Wissensdefizit liegt“ (ebd.; Hervorhebung im Original). Der Unterschied der Lehrerfrage zu einer normalen Frage, die in anderen außerschulischen Konstellationen anwendbar sein kann, besteht u.a. darin, dass der in der Frage enthaltene propositionale Gehalt in Form diverser Wissenselemente den SuS zur Verfügung gestellt wird zwecks anschließender Überprüfung des eigenen Nicht-Wissens. Die SuS identifizieren einerseits durch die angebrachte Lehrerfrage das eigene Wissensdefizit und sind andererseits aufgefordert, dieses zu nivellieren (vgl. ebd.: 148). Der bezweckte Wissenstransport von Hörer_innen zu S vollzieht sich in Form der Antwort der Angefragten (vgl. Ehlich/Rehbein 1986: 70).

Die sprachliche Handlung des Fragens und Antwortens wird somit im Zusammenhang mit Bekanntem und Neuem bzw. Thema und Rhema ausgeführt. In der schulischen Konstellation ist die Ausfüllung von Thema und Rhema für die Lehrkraft bereits bekannt, d.h. die gesuchten Wissenselemente und die dazu gehörenden Domänen fehlen der Lehrkraft nicht. Die Lehrerfrage übernimmt in diesem Fall eine steuernde Funktion, da damit die Richtung der anschließenden sprachlichen Handlung – die Lieferung von Antworten – festgelegt wird. Die Lehrerfrage ist hiermit durch einen starken Eingriff in den mentalen Bereich von Hörer gekennzeichnet (vgl. ebd.: 73).

Die diskursive Wissensprozessierung mittels institutioneller Lehrerfrage, bei der eine verstärkte Thematisierung des Thema-Rhema-Gehalts zum Gegenstand des Unterrichtsdiskurses wird, kann u.U. illokutiv so eng ausfallen, dass von einer „Regiefrage“ (Ehlich/Rehbein 1986: 83) gesprochen werden kann. Werden mehrere solcher „Regiefragen“ zwecks produktiver Wissenserweiterung in die Unterrichtsinteraktion sequenziell eingebracht, konstituiert sich eine spezifische Diskursart innerhalb der Institution Schule, der sogenannte „Lehrervortrag mit verteilten Rollen“ (vgl. ebd.: 85).

4.2 Kontextualisierung des Materials

Der vorliegende Transkriptausschnitt stammt aus dem herkunftssprachlichen Russischunterricht an einer Samstagsschule in Niedersachsen in einer dritten Klasse. Die SuS beschäftigen sich mit dem Thema Nebenglieder des Satzes. Sie führen dafür eine Übung durch, in der sie einerseits die Relation zwischen allen Satzgliedern bestimmen und andererseits diese je nach Art und der syntaktischen Funktion richtig unterstreichen müssen. Das behandelte Thema ist SuS bereits bekannt, da zu Beginn der Stunde eine Wiederholung des Gelernten stattgefunden hat. In der davor liegenden Sequenz haben SuS Hauptsatzglieder bestimmt und unterstrichen.

Das Ziel der Analyse ist aufzuzeigen, wie die Sprachbetrachtung im Unterrichtsdiskurs vonstattengeht und wie die notwendige Wissenskonsolidierung zwecks erfolgreicher Wissensaneignung diskursiv erarbeitet wird. Dabei wird die eingesetzte Lehrerfrage genauer betrachtet, um ihr Handlungspotenzial und ihre Funktionalität besser zu erkennen.

5 Orientierung im Wissen1

421 S1: teper’ skažite mne požalista, (-) ot KAKOGO
jetzt sagt mir bitte, (-)von welchem
422 glavnogo ČLEna, (--) predloženija my možem postavit’
Hauptsatzglied, (--) können wir die Frage zum Wort Kleid
423 vopros k slovu PLAT’e? (4.8) dumaem_DUmaem u vas,(-)
stellen? (4.8) wir denken denken ihr habt, (-)
424 volŠEBnica i kosnulas’ (--) ot KAKOGO iz nich,
Zauberin und hat berührt (-) von welchem der beiden Wörter
425 bol’šego vsego nam, (-) podchodit postavit’ vopros (-)
passt am besten, (-)die Frage zu stellen (-)
426 s ėtim on i budet svjazan=
davon wird es abhängig sein=
427 Sx: =kosnulas’=
=hat berührt=
428 S1: =KOSNUlas’ davaj poprobuem zadat’ vopros (---) kosnulas’, (---)
=hat berührt lass uns die Frage stellen (---) hat berührt, (---)
429 Sx: ↓čto. (--) NET, (2.1)
↓was. (INT (unbelebt)-AKK (--) NEIN, (2.1)
430 S1: nu, kos↑NUlas’ =
also, hat berührt=
431 Sx: =čem=
=womit= (INT (unbelebt)-INS)
432 S1: =↓PLAT’ja (--) kosnulas’, (--)
=↓des Kleids (--) hat berührt, (–)
433 Sx: čemu? (---)
wem? (INT (unbelebt)-DAT
434 S1: čemu ne sovsem PRAvil’no? (--)
wem ist nicht ganz richtig? (-)
435 Sx: [čem]
[womit INT (unbelebt)-INS)]
436 S1: [kos]NUlas’, (-) 'hm'hm (---)
[hat] berührt, (-) hm’hm (---)
437 Sx: ČEgo=
wessen= (INT (unbelebt)-GEN)
438 S1: =če↓GO (--) ko↓NEČno (-) kosnulas’ ČE↑GO: (--)
=wessen (--) natürlich (-)hat berührt wessen (-)
439 ↓PLAT’ja (-) ėto u nas vtorostepennyj člen
↓des Kleids(-) das ist ein Nebenglied

Nachdem die Hauptsatzglieder bestimmt wurden, beginnt die Lehrerin mit dem eigentlichen Zweck der vorliegenden Unterrichtsphase: Die SuS müssen das syntaktische Verhältnis zwischen den jeweiligen Satzgliedern mittels der Frageprobe bestimmen. Die formulierte Lehrerfrage, die nach in ihr enthaltenem Zweck eine Aufforderung zur Antwort darstellt, gibt eine rhematische Richtung für die Suche nach dem fehlenden Wissenselement (Z. 421–423) vor. Sie aktiviert zwei relevante Wissensbestände für die anstehende Sprachbetrachtung – die Hauptsatzglieder (volŠEBnica i kosnulas’) [Zauberin und hat berührt] und das Genitivobjekt (PLAT’ja) [des Kleides] und signalisiert dadurch die Wissensdomäne, in der die SuS zwischen diesen beiden Teilwissen die notwendige syntaktische Beziehung herstellen sollten. Zusätzlich evoziert die Lehrerin die Wichtigkeit und Richtigkeit der gewählten Frageprobe für den Aufschluss über die bestehende syntaktische Relation zwischen den weiteren Satzgliedern (Z. 424–426). Die lehrerseitige Adressierung, die anschließende Handlung, in diesem Fall die Suche nach dem Lösungsvorschlag, auszuführen, aktiviert im mentalen Bereich der SuS einschätzende Prozesse bzgl. des eigenen Wissens. In Z. 427 entschied sich ein Schüler, den Handlungsplans der Lehrerin zu übernehmen und führt seine Vermutung hinsichtlich des gesuchten rhematischen Ausdrucks aus. S1 bewertet die Antwort des Schülers positiv und fordert ihn auf, die notwendige Frageprobe durchzuführen (Z. 428). Damit wird der Raum für weitere schülerische Partizipationen bei der Suche nach der Herstellung der syntaktischen Relation zwischen den Satzgliedern eröffnet. In Z. 429, 431, 433, 435, 427 werden zahlreiche Schülerlösungen versprachlicht, die in Form diverser Interrogativpronomen in die diskursive Wissenserarbeitung eingeführt werden. Die SuS erkennen richtig, dass es sich beim zu ermittelnden Satzglied um ein Objekt handelt. Dies bedeutet, dass das notwendige Analysewissen seitens der Schülerschaft vorhanden ist – sie sind in der Lage ihr grammatisches Wissen in der explizierten Darstellung zu verbalisieren (vgl. Funke 2005; Bredel 2007). Auffällig ist allerdings, dass die SuS einige Schwierigkeiten bei der Ermittlung der passenden Frage aufweisen. Es wird versucht, durch verwendete Interrogativpronomen das fehlende Teilwissen zu kategorisieren und den Rückbezug zu den bereits vorhandenen Wissensstrukturen zu indizieren. Die Schülerin S1 vergleicht anschließend die versprachlichten Wissenselemente der SuS mit ihrem eigenen Wissen, um festzustellen, ob sich der propositionale Gehalt der Schülerantworten als ausreichend für die Ausführung der Nachgeschichte erweist. Die Lehrerin integriert die exothesierten rhematischen Elemente in ihr bereits bestehendes Wissen und signalisiert in Z. 438 und 439 ihre positive Bewertung des schülerischen Antwortversuchs. Die angestrebte Implementierung des Wissens in den П-Bereich2 der SuS kann damit als abgeschlossen betrachtet werden, die Lehrerin kann insofern den nächsten Schritt für die Wissenskonsolidierung aktivieren.

6 Strukturierte Wissensgenerierung

Die bezweckte Wissenskonsolidierung vollzieht sich im betrachteten Abschnitt mittels einer gezielt eingesetzten Lehrerfrage, die eine gewisse Struktur in den diskursiven Ablauf der Wissensbearbeitung hineinbringt (vgl. Ehlich/Rehbein 1986). Zu sehen ist, dass die verwendete Frage in diesem Fall als Regiefrage auftritt, da es hier primär nicht nur um die Aktivierung der schülerseitigen Beteiligung bei der Suche nach potenziell richtigen Lösungen geht, sondern vor allem um die Erarbeitung konstitutiver Wissenselemente im Rahmen der Thema-Rhema-Gliederung des behandelten Sachverhalts. Das anzueignende Wissen zeichnet sich durch die partielle Fragmentisierung aus, die durch die SuS vervollständigt werden muss. Bei der gemeinsamen Wissenskonsolidierung bleibt es nach wie vor beim Benennen der gesuchten rhematischen Ausdrücke, die kaum Verarbeitungsprozesse der SuS aufzeigen. Trotz des erfolgreichen Wissenserwerbs fallen die Abstraktionsversuche des grammatischen Wissens ebenfalls gering aus (vgl. Baur/Rehbein 1979). Das lässt erschließen, dass ein tiefgründiges Verständnis des Sachverhalts – in diesem Fall die syntaktische Relation zwischen diversen Satzgliedern – nicht erreicht werden kann, dass allem Anschein nach seitens der Lehrkraft und eventuell der Bildungsinstitution, in der der betrachtete Unterricht angeboten wird, eine schnelle Lieferung der Aufgabenlösungen präferiert wird und nicht die Herstellung komplexer Verstehens- und Denkprozesse (vgl. von Kügelgen 2009). Das zu prozessierende Wissen zeigt einen formelhaften oder sogar schematischen Charakter auf, welcher auch von den SuS erworben werden sollte. Hinzu kommt noch, dass die starke Auslegung auf den Thema-Rhema-Gehalt, welcher anhand der „Vorkategorisierung des bestimmten Nicht-Gewussten“ (Redder/Thielmann 2015: 345) durch das Fragewort implementiert wird, die komplexe Unterrichtsinteraktion auf das Liefern der Lösungen reduziert (vgl. von Kügelgen 2009). Gleichzeitig wird lediglich an einem potentiellen Lösungsweg für das Aufgabenlösungsmuster festgehalten und den SuS vorfgeührt, wie die jeweilige Problemkonstellation gelöst werden kann. Schülerseitige Umschreibungen oder Umformulierungen des Nicht-Gewussten oder ggf. andere Wege für die Bearbeitung des gesuchten Wissens werden vermutlich nicht zugelassen bzw. mit einer negativen Lehrerbewertung versehen, was schlussendlich eine erneute Musterrekursion evoziert. Die musterhafte und formelhafte Sprachbetrachtung wird also als erfolgreiches Lernen postuliert und praktiziert.

7 Schluss

Wie aus den Interviews mit den Eltern der betroffenen SuS hervorgeht, wird die Unterrichtspraxis und der sprachliche Unterricht an der regulären deutschen Schule in Bezug auf die Organisation, Gestaltung und Durchführung der Lehr-Lern-Prozesse kritisiert. Exemplarisch wurde dies in diesem Beitrag anhand eines Interviewausschnitts (Ausschnitt 2) gezeigt, in dem vor allem der Einstieg in den Schrifterwerb im deutschen Kindergarten und der Regelschule negativ bewertet wird.

Der Unterricht an der Samstagsschule wird hingegen als ergebnisorientiert und fördernd dargestellt. Begleitet wird diese positive Einschätzung von der Darstellung konkreter Unterrichtspraktiken, die eine Erfolgsorientierung des Unterrichts untermauern sollen. Durch die Ausrichtung an der konkreten Handlungsausführung des Unterrichtsprozesses, in den analysierten Beispielen realisiert durch die musterhafte Wissensprozessierung und das formelhafte Einordnen des Gelernten, werden gut nachvollziehbare Ergebnisse der Beschäftigung in der Bildungsinstitution für die Elternschaft geliefert. Diese Sichtbarkeit der Ergebnisse begünstigt einerseits die Attraktivität der Samstagsschule und andererseits werden anhand dessen Weiterempfehlungen unter Berufung auf einen guten Unterricht betrieben. Der herkunftssprachliche Unterricht wird greifbar und das Beurteilen sowie Bewerten des Unterrichtsgeschehens fällt den betroffenen Eltern leichter, weil beobachtet werden kann, was jede Woche im Unterricht erreicht wird. Der Unterricht in der regulären Schule scheint weniger konkret und nachvollziehbar als der an der Samstagsschule.

Diese Transparenz deckt sich wiederum – und hier schließt sich gewissermaßen der Kreis – mit dem Bedürfnis nach Handlungsmöglichkeiten und Handlungsmacht – zusammengefasst unter dem soziologischen Konzept der Agency: Eltern werden zu Mitbestimmern des Bildungserlebens ihrer Kinder. Die Institution, auf die sie in diesem Fall zurückgreifen, arbeitet dabei mit kulturell bekannten Mustern und bestätigt so gewissermaßen ihre Agency. Dieses fast schon zirkuläre Ineinandergreifen beinhaltet also eine Art Selbstbestätigungsmechanismus. So leisten Samstagsschulen und vergleichbare Einrichtungen nicht nur Sprachförderung, sondern sind auch als Institutionen aus eigener Hand bestätigend hinsichtlich der sozialen Selbsterfahrung von Menschen mit Herkunftssprache und Migrationserfahrung wirksam. Beachtenswert ist dieses Ergebnis im Hinblick auf die Förderung der Herkunftssprachen, aber auch hinsichtlich des Verhältnisses von Eltern mit mehrsprachigem Hintergrund zu regulären Bildungsinstitutionen, die offenbar nicht in allen Fällen und nicht in vollem Umfang diese Bedürfnisse aufgreifen bzw. umsetzen können.

Notes

  1. Abkürzungen im Transkript: INT – Interrogativum; AKK – Akkusativ; INS – Instrumental; DAT – Dativ; GEN – Genitiv [^]
  2. Der П-Bereich ist der mentale Bereich von Sprecher_innen (ПS) und Hörer_innen (ПH). [^]

Literatur

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Kurzbio

Prof. Dr. Beatrix Kreß ist Slawistin und Professorin für Interkulturelle Kommunikation an der Universität Hildesheim. Sie studierte slavische Sprachen und Literatur in Frankfurt am Main und promovierte im Bereich der synchronen Sprachwissenschaft zu Konfliktkommunikation im Russischen und Tschechischen.

Katsiaryna Roeder studierte Germanistik an der Staatlichen Universität Minsk und an der Ruhr-Universität Bochum. Sie promoviert zurzeit an der Universität Hildesheim zur Unterrichtsinteraktion im russischen herkunftssprachlichen Unterricht.

Anschrift:

Stiftung Universität Hildesheim

Institut für Interkulturelle Kommunikation

Lübecker Straße 3

31141 Hildesheim

Tel.: +49 5121 883 30702

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