2 Samstagsschulen als Institution
Samstagsschulen sind Bildungseinrichtungen, die deutschlandweit existieren und die keineswegs nur an Samstagen Unterrichtsangebote erbringen. Sie bieten Unterricht in Herkunftssprachen an, zum Teil werden aber auch Bereiche, etwa im musischen Spektrum (Zeichenunterricht, Theaterarbeitsgruppen u.ä.), angesprochen.
Im vorliegenden Beitrag stammen die Daten aus einer Einrichtung, die sich an einen russischsprachigen Personenkreis wendet, in einer niedersächsischen Großstadt, die als exemplarisch bzw. prototypisch erachtet werden kann. Sie organisiert sich als Verein und ist, wie viele andere Organisationen dieser Art, aus einer Elterninitiative heraus entstanden. Für das Programm und die Absicherung der Lern-Lehr-Prozesse sind russischsprachige Lehrkräfte zuständig, die ihre Ausbildung in weiten Teilen in Russland erhalten haben.
Als Institution zur Bearbeitung und Regelung gesellschaftlicher Zwecke zählt die Samstagsschule zu den Institutionen der Erziehung (vgl. Ehlich/Rehbein 1980: 340; 1994: 318). Im Vergleich zur Schule hat sie jedoch eine andere, eingeschränkte Reichweite (vgl. Ehlich/Rehbein 1994: 319). Ebenso wie bei Schulen ist einer der zentralen Zwecke die Weitergabe und Festigung gesellschaftlichen (sprachlichen, kulturellen, habituellen) Wissens an die und bei der nächste/n Generation. Während aber die Schule nahezu jeden betrifft (vgl. ebd.), geht es bei der Samstagsschule nur um Teile der Gesellschaft; auch das in ihr vermittelte Wissen ist in Geltung und Reichweite eingeschränkt. In der funktionalen Dimension nach Fend (1980, 2006) kann sie nur zwei von vier Funktionen als Bildungseinrichtung gewährleisten: Die Samstagsschule qualifiziert, sie vermittelt allerdings nur Metaqualifikationsfunktionen (wie bspw. Kommunikationsfähigkeit) – und dies auch mit eingeschränkter gesellschaftlicher Relevanz. Sie selegiert und legitimiert nicht, dazu fehlt ihr die institutionelle Ausstattung. Zentral ist die Enkulturationsfunktion als Reproduktion und Vermittlung eines kulturellen Systems, das hier aber nicht das der hegemonialen Gesellschaft ist. Die fehlenden Funktionen hängen vor allem mit Ausstattung und Organisation der Institution zusammen. So lehnt man sich teilweise an Vorgaben des russischen Bildungsministeriums an und erhält auch Förderungen durch Organisationen der Russischen Föderation, diese sind aber nicht kontinuierlich und insgesamt muss mit einer strukturellen Unterausstattung umgegangen werden. Prüfinstrumente und eigene Zertifizierungen fehlen ebenso. Um den SuS einen Nachweis ihrer Kenntnisse in Aussicht zu stellen, muss man sich an externe Anbieter wenden.
3 Handelnde und Handlungsmöglichkeiten
Vor dem Hintergrund der bisher geschilderten institutionellen Ausstattung bzw. des „Handlungsraums“ Samstagsschule (Ehlich/Rehbein 1994: 319) sind auch die Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen Interaktanten zu sehen. Da Samstagsschulen häufig auf die Initiative von Eltern zurückgehen, die ihren Kindern eine herkunftssprachliche Aneignung ermöglichen wollen, soll im Folgenden auf deren Agency, also ihre Handlungsermächtigungen durch die selbst initiierte Institution geblickt werden. Trotz aller Vagheit, die dem Konzept der Agency innewohnt (vgl. Emirbayer/Mische 1998: 962), ist es doch gerade in diesem Kontext relevant, da aus der mit ihr verknüpften Frage nach Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbeschränkungen des Individuums durch gesellschaftliche Strukturen das Entstehen von Samstagsschulen und ihre Funktionalitäten erklärt werden kann.
Ein zentraler Punkt ist zunächst der Verweis auf deliberative Anteile der Agency (vgl. u.a. Emirbayer/Mische 1998: 997–998) und dem daraus entspringenden unternehmerischem Geist („institutional entrepreneurship“, Abdelnour/Hasselbladh/Kallinikos 2017: 1776). Im Unterschied zur Schule, wo zumindest im Hinblick auf Eltern und Lehrende die Agenten-Klienten-Rollen und die damit einhergehenden Handlungsmöglichkeiten und Einschränkungen recht klar verteilt sind, spricht einiges dafür, dass sich dies in Samstagsschulen etwas anders verhält, gehen sie doch in der Regel auf das Betreiben von Eltern zurück, die dann auch späterhin aktiv in die Institution – als Akteur_innen – eingebunden sind.
Dieser Punkt ist sicher zu verknüpfen mit Präferenzen für diese Institution gegenüber der Bewertung der Regelschule. Eltern zeigen sich häufig sehr positiv im Hinblick auf ihre Erwartungen und Einschätzungen der Samstagsschule zuungunsten der umgebungssprachlichen Bildungseinrichtungen. Im Folgenden werden einige Auszüge aus Interviews mit Eltern vorgestellt und im Hinblick auf die sich dort zeigende Agency untersucht. Dabei spielt die Handlungsermächtigung selbst, aber auch die damit einhergehende Repetition kultureller Muster, die die Befragten in der Institution (eher) wiederfinden können als in der Regelschule. Schließlich zeigt sich auch die Bedeutung von Netzwerken und sozialen Beziehungen, die für die Herstellung von Handlungsermächtigung zentral sind (vgl. Abdelnour et al. 2017: 1777).
Die Eltern (tatsächlich: Mütter) wurden befragt hinsichtlich ihrer Motivation, ihre Kinder in der Samstagsschule anzumelden. Damit geht es um das Handlungsmuster des Begründens, dem Ehlich/Rehbein (1986: 90) als fremdsprachliche Entsprechung das Motivieren zuordnen. So fragt die Interviewerin:
mhm °h ähhh tak vot marina i dima oni chodjat u vas ahh vdvoëm v [nazvanie školy] da? i ja chotela by uznat’ ähhh počemu vy rešili otdat’ marinu i dimu na zanjatija v [nazvanie školy] to est’ kakaja vaša motivacija byla?
mhm °h ähhh so Marina und Dima sie besuchen ahh zu zweit [Name der Schule] ja? und ich möchte wissen ähhh, warum ihr entschieden habt, Marina und Dima in [Name der Schule] anzumelden, also, wie war eure Motivation?
Die Interviewerin bringt selbst Russisch als erste Sprache mit. So ist das Begründen, das hier elizitiert wird, zwar auf eine Wissensveränderung bei der Interviewerin ausgerichtet, dennoch geht es nur bedingt um die „Umformung“ (Ehlich/Rehbein 1986: 98) der Einstellung der Adressatin zum Zwecke eines Weiterbestehens des gemeinsamen Handlungssystems. Es geht um eine Handlungsbegründung, die Befragten müssen aber keine (negative oder positive) Einstellung beim Gegenüber erwarten, die ggf. zu einem Abbruch des gemeinsamen Handelns führen könnte. Allerdings hat die Interviewerin durch ihre Frage ein Interesse an der Handlungsbegründung geäußert, dass die Sprecherinnen befriedigen möchten. Vorauszusetzen ist aufgrund der Annahmen über einen geteilten Wissensraum im Hinblick auf Mehrsprachigkeit sowie die russische Sprache, dass die Sprecherin (S) von einer (eher) positiven Einstellung und dem Vorhandensein zentraler Wissensbestände bei der Interviewerin im Hinblick auf die zur Rede stehende Institution und deren Nutzen ausgeht. Auch wenn hier also eine bestimmende Handlungsweise – als Erziehungsberechtigte Kinder in der Samstagsschule anmelden – begründet wird, steht das elizitierte Begründungshandeln doch dem kognitiven Begründen, das auf Verstehen ausgerichtet ist, nahe (vgl. Ehlich/Rehbein 1986: 112; Trautmann 2004: 127).
Zunächst zeigt sich die Bedeutung der Netzwerke für die eigenen Akteur_innen selbst als bedeutend. Dies entspricht theoretischen Annahmen, zeigt aber auch die Bedeutung einer Verankerung von Institutionen innerhalb von Gemeinschaften für deren Annahme und Funktionieren. Auf die Frage nach ihrer Entscheidung (počemu ty rešila) [Warum hast du entschieden] für die Samstagsschule, die ganz unmittelbar auf Handlungsmacht verweist, beruft sich die Sprecherin zweifach auf den Rat einer zur Gemeinschaft gehörigen Person. Deren positive Einschätzung wird dabei begründend (0037) eingebracht und der offenbar nicht eindeutig positiven Einstellung des Kindes gegenübergestellt.
0033 |
I |
mhm °h äähmmm tak ty skazala čto tut tvoj mladšij artëm chodit v [nazvanie školy] (.) mhm °h äähmmm so du hast gesagt, dass dein Kleiner, Artjom, [Name der Schule] besucht (.) |
0034 |
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ähmmm ja chotela uznat’ počemu ty rešila ego otdat’ vot v ėtu školu (---)ähmmm ich möchte wissen, warum du entschieden hast, ihn in dieser Schule anzumelden (---) |
0035 |
M1 |
nuu natal’ja posovetovala pro [nazvanie školy] ja slyšala kogda mojnaa Natalja hat es empfohlen über [Name der Schule] habe ich gehört, als mein |
0036 |
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ähh staršij rodilsja °h no my počemu to ne rešili ego tuda otdat’ aa (--)ähh Großer geboren wurde, °h aber wir haben uns aus irgendeinem Grund nicht entschieden, ihn da anzumelden aa (--) |
0037 |
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potom kogda kak raz ((smeëtsja)) natal’ja posovetovala skazala čto tamund dann, als ((lacht)) Natalja es empfohlen hat, sie sagte, dass da |
0038 |
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ähmm chorošo dlja detej čto prepodajut (.) i my poprosilis’ (neponjatno) (--)ähmm Kinder gut unterrichtet werden (.) und wir haben angefragt (unverständlich) (--) |
0039 |
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nam ((smeëtsja)) očen’ ponravilos’ chotja malen’kij to chočet to ne chočet chodit’uns ((lacht)) hat es sehr gefallen, obwohl der Kleine mal will, mal will er nicht dahin gehen |
0040 |
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no ėto tak deti da? čto chotjat lučše poigrat’sja a vot pozanimat’sja no vsë ravno (.)aber das sind doch Kinder ja? sie wollen lieber spielen anstatt lernen, aber trotzdem (.) |
0041 |
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no kogda on zanimaetsja emu ėto nravitsjawenn er lernt, dann gefällt es ihm |
Der ausschlaggebende Rat kommt von einer Akteurin, die entsprechende Kompetenzen zur Beurteilung von Bildungsinstitutionen mitbringt:
0027 |
M2 |
da ähhh pedagogičeskij universitetja ähhh die pädagogische Universität |
0028 |
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[nazvanie universiteta i gorod][Name der Universität und die Stadt] |
0029 |
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v dve tysjači ähhhhh a podoždi2000 ähhhhh ah warte |
0030 |
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ja postupila v devjanosto četvërtomich habe angefangen 1994 zu studieren |
0031 |
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devjanosto vos’mom da? s devjanosto četvërtogo po tysjača devjat’sot devjanosto vos’moj1998 ja? von 1994 bis 1998 |
0032 |
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ja učilas’ jahabe ich studiert ich |
An dem Interview mit ihr zeigt sich besonders eindrücklich die Bedeutung der Samstagsschule als Institution aus der ,eigenen Handlungsmacht‘ als ein Rückgewinn an Souveränität. Zunächst ist die eigene Kompetenz von Bedeutung, die als Grundlage der Urteilsfähigkeit über das, was ,gute Bildung‘ ist, sofort und als Erstes eingebracht wird, nachdem nach Begründung und Motivation gefragt wird:
0043 |
I |
to est’ kakaja vaša motivacija byla?also, wie war eure Motivation? |
0044 |
M2 |
(---) no tak kak ja sama učitel’ anglijskogo jazyka,(---) da ich selber Englischlehrerin bin |
0045 |
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prekrasno ponimaju čto ähhhverstehe ich sehr gut, dass ähhh |
0046 |
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vladenie jazykom tol’ko ustnoj ego čast’ju ėto tol’ko pol jazykadie alleinige Beherrschung der mündlichen Sprachkompetenzen nur ein Teil der Sprache ist |
0047 |
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a vladenie čteniem i pis’mom ono takže važno kak i umenie govorit’und das Lesen und Schreiben sind genauso wichtig wie das Sprechen |
0048 |
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esli ty umeeš’ govorit’ no ne umeeš’ pisat’ (.)wenn du sprechen kannst, aber nicht schreiben kannst (.) |
0049 |
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to ty i v principe možno skazat’dann beherrschst du im Prinzip, kann man sagen, |
0050 |
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ähhh ne znaeš’ eščë jazyk na sto procentov da?ähhh die Sprache noch nicht hundert Prozent ja? |
0051 |
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poėtomu tak kak russkij jazyk on tože odin iz samych složnychinsofern da das Russische auch eine der schwierigsten Sprachen ist |
0052 |
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on i ne takoj prostoj i ähhhh (.)es ist nicht so einfach und ähhhh (.) |
Die Befragte bezieht sich auf ihr fachliches Wissen, das sie im Hinblick auf das Offensichtliche steigert (prekrasno ponimaju)[verstehe ich sehr gut] und durch den Verweis auf die Komplexität des Russischen wird dies noch einmal spezifiziert und gesteigert, obwohl sie selbst ja Englischlehrerin ist.
Die Bedeutung der eigenen Kompetenzen für das Nachfragen der Institution Samstagsschule sowie der damit einhergehenden spezifischen Ausarbeitung der Agency soll noch am folgenden Auszug aus dem Interview, der sich unmittelbar anschließt, gezeigt werden:
0053 |
M2 |
esli rebënok izučaet ėto v detstve, togda eščë osobenno vot naprimer marina pošla v pervyj klasswenn das Kind das im Kleinkindalter lernt, dann ist noch besonders z.B. Marina wurde eingeschult |
0054 |
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vsego ej bylo pjat’ let ona daže ne byla v škole ona byla polnost’ju svobodnym rebënkomsie war nur fünf Jahre alt sie besuchte keine Schule sie war ein absolut freies Kind |
0055 |
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ona očen’ legko vyučila vse bukvy ona v principe uže znala bukvy ona uže nemnogo (.)sie hat sehr leicht alle Buchstaben gelernt, im Prinzip kannte sie Buchstaben, sie hat ein bisschen |
0056 |
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ähhhh čitala po slogam ona očen’ bystro osvoila čtenie i pis’moähhhh Silben gelesen, sie hat sehr schnell das Lesen und Schreiben erlernt |
0057 |
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vot sejčas my prosto uže izučaem ähmmmmm (.)also momentan lernen wir einfach ähmmmmm (.) |
0058 |
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pis’mennye pravila da? tam razvivaem (.) reč’ bol’še (.)Rechtschreibregeln ja? vertiefen (.) mehr das Sprechen (.) |
0059 |
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izučaem bol’še russkich takich (.) ähmm slov skazok da? to čto, to čto my doma naprimer ne čitaem (.)lernen mehr solche russischen (.)ähmm Wörter, Märchen ja? Das, was, das was wir zu Hause z. B. nicht lesen (.) |
0060 |
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vot sejčas u mariny v ėtom plane chorošoe razvitie (.) no i plus eščë russkaja škola dala očen’ chorošuju podgotovku (.)also aktuell hat Marina diesbezüglich eine gute Entwicklung (.)aber auch die russische Schule hat sie sehr gut vorbereitet (.) |
0061 |
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k ähhhh osnovnoj škole obyčnoj obrazovatel’noj nemeckoj školefür ähhhh die deutsche Regelschule |
0062 |
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potomu čto v nemeckoj škole ähmm v detskom sadike deti ne učatsja pisat’weil an der deutschen Schule ähmm im Kindergarten die Kinder kein Schreiben lernen |
0063 |
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absoljutno nikak ne učatsja ne delajut nikakich zadanij podgotovitel’nych (.) votsie lernen absolut nicht, sie machen keine Vorbereitungsübungen (.) oder so |
0064 |
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pritom čto v škole aaaa nado uže pisat’ načinat’wobei in der Schule muss man schon anfangen zu schreiben |
0065 |
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i u mnogich detej aaa est’ problemy s pis’momund viele Kinder aaa haben Probleme mit dem Schreiben |
0066 |
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u menja voobšče ne bylo nikakich problem s pis’momich hatte gar keine Probleme mit dem Schreiben |
0067 |
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marina vsegda očen’ krasivo pisala i eë chvalili govorili ona lučše v klasse vsech pišet (.)Marina hat immer schön geschrieben und sie wurde gelobt und uns wurde gesagt, dass sie die Beste in der Klasse, was schreiben angeht, ist(.) |
0068 |
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chotja ona levša (.) levše ėto namnogo složnee tože no u neë sejčas zamečatel’nyj podčerk i ona ähhh (--)obwohl sie Linkshänderin ist (.)für Linkshänder_innen ist das schwerer, aber sie hat eine wunderschöne Handschrift und sie ähhh (--) |
0069 |
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pišet bystro akkuratno i krasivoschreibt schnell, sauber und schön |
0070 |
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ja sčitaju čto éto tože zasluga [nazvanie školy] potomu čto oni zanimalis’ich glaube, dass das [Name der Schule] zu verdanken ist, dass sie geübt haben |
0071 |
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ona s četyrëch let zanimalas’ vot to est’ v ėtoj škole podgotovok kak i dima sejčassie besuchte, seitdem sie vier ist, diese Vorbereitungsschule, diese besucht auch Dima jetzt |
Die Sprecherin verankert zunächst ihre Ausführungen in einem entwicklungspsychologischen Wissensbestand, der das späte Kleinkindalter als besonders fruchtbar für den Lese- und Schreiberwerb voraussetzt, was in diesem Fall aber mit als Sentenz (vgl. hierzu Ehlich/ Rehbein 1977: 54) zur Verfügung stehendem und damit allgemeingültigem Wissen übereinstimmt (im Sinne eines „Früh übt sich, wer ein Meister sein will“, „Чем раньше, тем лучше“, „Упорный труд мастера рождает“). Auch die folgenden begründungsrelevanten Wissensbestände entstammen tendenziell fachlichem Wissen (Silbenlesen, čitala po slogam). Der Übergang zu Erlebniswissen ist dann markiert durch eine Veränderung der Personaldeixis. Zunächst wird von der Tochter gesprochen, die sich im Allgemeinen im Hinblick auf Lesen und Schreiben gut entwickelt, bevor der Wechsel zu einem inklusiven my [wir] und der Verbform in der 1. Pers. Pl. in 0057 und 0058 den Erwerb des Russischen zu einer Familiensache macht. Dabei ist der Übergang zur institutionellen Unterstützung dieses Erwerbs durch die Samstagsschule in Fläche 0059 fließend gestaltet: izučaem bol’še russkich takich (.) ähmm slov skazok da? to čto, to čto my doma naprimer ne čitaem (.) [wir lernen mehr solche russischen ähmm Wörter, Märchen ja? Das, was, das was wir zu Hause z.B. nicht lesen]. Die Institution bringt hier offenbar unterstützend eine Textgattung ein, die nicht den Lesegewohnheiten der Familie entspricht. In 0060 ist die Sprecherin dann vollständig in der Institution angekommen, die eine gute Vorbereitung für die Einrichtung Regelschule bietet. Durch die enge Verzahnung von Familie, russischer Sprache und russischsprachiger Institution, wie sie dieser Komplex bietet, wird die Kontrastierung zur nun folgenden, als Maxime – ein „handlungsleitende(s) Destillat(e) aus vorgängiger Erfahrung“ (Ehlich/Rehbein 1977: 58) – formuliert, noch deutlicher hervorgehoben. Die deutsche Institution Kindergarten bietet keine – und zwar absoljutno [absolut] (0063) keine Vorbereitung für die deutsche Institution Schule. Es folgen weitere Maximen, die dieses Dilemma bzw. diese Diskrepanz stützen (z.B. 0064 pritom čto v škole aaaa nado uže pisat’ načinat’) [wobei in der Schule muss man schon anfangen zu schreiben] sowie ebenfalls stützende Bewertungen, die den Schulerfolg der Tochter trotz Widrigkeiten – wie etwa die Veranlagung zu einer Dominanz der linken Hand – herausstellen. Abgeschlossen wird die erste Begründungssequenz mit einer positiven Einschätzung der konkreten Samstagsschule, die auf einer kausalen Verknüpfung zwischen den guten Leistungen der Tochter in der Schule mit der Vorbereitung durch das parallele Unterrichtsangebot beruht.
Die Gegenüberstellung zwischen Samstagsschule und den regulären Bildungseinrichtungen Kindergarten und Schule ist mit der Frage nach Handlungsmacht eng verknüpft. Die eigenen Beurteilungskompetenzen werden als relevant erachtet und von der Samstagsschule beantwortet. Die Institutionen der Umgebungsgesellschaft bleiben dies schuldig und werden so als unzureichend wahrgenommen und negativ eingeschätzt. Daher kann Handlungsmacht genutzt werden, um zusätzliche Angebote einzuholen. Dies entspricht dem Wilful Actor (Abdelnour et al. 2017: 1781), der in der Institutionsanalyse durch die Betrachtung von Agency Einzug gehalten hat. Die Relevanz dieser Konstellation zeigt sich auch im weiteren Verlauf dieses Interviews und wiederholt sich auch in anderen Interviews, die hier aus Gründen des Umfangs des Beitrags nicht eingehend diskutiert werden.
Gründe für die Samstagsschule resultieren also aus einer kompetenten (Rück-)Gewinnung von Handlungsmacht und Sozialbeziehungen, in die die Kompetenzen beratend eingebracht werden.
Schließlich verweisen aber die Arbeiten zur Agency wie auch die Betrachtung von Institution auf die Rolle kultureller Muster. Institutionen sind kulturelle Skripte und damit normative und regulative Säulen (vgl. Barley/Tolbert 1997; Abdelnour et al. 2017: 1778). In den Interviews zeigt sich, dass die Sprecherinnen relativ präzise Vorstellungen davon haben, nicht nur, was die Institution leisten soll, sondern auch, wie sie ganz konkret gestaltet und welche sehr konkreten Ergebnisse dadurch erzielt werden sollen:
i dima ähhhh ne chotel brat’ pravil’no karandaš’ n ne deržal ničego pravil’no (.) i on tol’ko na prošloj nedele porazil menja tem čto on vypolnil složnoe pis’mennoe zadanie nužno bylo vot (.) ähh vot ähhh vot ne otryvaja ruki risovat’ ähhh zigzagi raznogo vida (.) on napisal kak vzroslyj (.) kak vzroslyj!
Und Dima ähhhh wollte nicht richtig den Stift halten, nichts hielt er richtig (.) und erst letzte Woche überraschte er mich, indem er eine schwierige Schreibaufgabe erledigt hat, man musste also (.) ähh also ähhh ohne die Hand wegzunehmen, unterschiedliche Arten von Zickzack malen (.) er hat wie ein Erwachsener (.) wie ein Erwachsener geschrieben!
Diese sehr präzisen Zielvorstellungen – wie wird Wissen ausgebildet und welches Wissen wird vermittelt? – werden von der Samstagsschule offensichtlich in befriedigender Weise erfüllt. Dabei ist natürlich der Blick in die Institution selbst, in die konkrete Wissensvermittlung, notwendig, um zu verstehen, wie der Spracherwerb verläuft. Indem die Institution und die dort vollzogene Wissensvermittlung untersucht werden, kann auch nachvollzogen werden, inwiefern die Form der Vermittlung mit der Vorstellung der Wilful Actors – also der Eltern – zusammenlaufen.
4 Sprachbetrachtung und Wissenskonsolidierung
Die Wissensvermittlung in der Schule konstituiert sich zum größten Teil durch Sprache. Dabei wird die Sprache in ihrer epistemischen, wissens- und denkensbildenden Funktion, eingesetzt (vgl. Ehlich 2007a, 2013). Prozesse der Wissenskonstituierung in der Unterrichtsinteraktion können je nach Art und Weise des zu vermittelnden Wissens unterschiedlich vonstattengehen. Einerseits wird das diskursiv im gemeinsamen Handlungsraum zusammen entwickelt, andererseits ist es möglich, dass das neue Wissen individuell angeeignet wird, ohne eine Hilfeleistung durch die Lehrkraft. Sehr oft kommt es in der Unterrichtspraxis vor, dass die Phasen des Wissensausbaus und der -festigung an das schülerseitige Vorwissen anknüpfend ausgeführt werden können (vgl. Wagner/Krause/Uribe/Prediger/Redder 2022). Um die Breite der Möglichkeiten der Sprachbetrachtung im Unterricht abzudecken, benötigt die Lehrkraft ein Konglomerat an diversen Verfahren oder Taktiken. Eine gängige Praxis der diskursiven Wissenskonsolidierung in der betrachteten außerschulischen Bildungseinrichtung ist die verstärkte Implementierung der Lehrerfrage, die mentale Prozesse bei SuS zwecks der Evozierung fehlender Wissenselemente für den gemeinsamen Vollzug der Wissensaneignung aktiviert (vgl. Ehlich 1981/2007c, Ehlich/Rehbein 1986).
4.1 Handlungsqualität der Lehrerfrage
Die Lehrerfrage stellt eine spezifische Form des Fragens dar, die einigen institutionellen Modifizierungen unterzogen wird. Diese Art der „funktionalisierte[n] Anwendung“ (Redder/Thielmann 2015: 343) der Lehrerfrage wird als „Taktik“ bezeichnet (vgl. Ehlich/Rehbein 1977: 70, Ehlich 1981/2007c: 148). So wird sie initiiert, nicht weil der Sprecher, in diesem Fall die Lehrkraft, ein Wissensdefizit im Moment des Fragens aufweist, sondern der eigentliche Zweck der Lehrerfrage liegt im Anregen mentaler operativer Prozesse auf der Seite der SuS. Ehlich (vgl. Ehlich 1981/2007c: 147) geht davon aus, dass die verwendete Lehrerfrage nicht die Freisetzung des vorhandenen Wissens im mentalen Bereich der SuS anstrebt, sondern dass gesuchte Wissenselemente, die mittels der Frage in das Unterrichtsgeschehen eingeführt werden, in die bereits bestehenden Wissensbestände der SuS aufs Neue integriert werden sollten. Dazu soll die versprachlichte Frage aufzeigen, „in welcher Domäne dieses Wissensdefizit liegt“ (ebd.; Hervorhebung im Original). Der Unterschied der Lehrerfrage zu einer normalen Frage, die in anderen außerschulischen Konstellationen anwendbar sein kann, besteht u.a. darin, dass der in der Frage enthaltene propositionale Gehalt in Form diverser Wissenselemente den SuS zur Verfügung gestellt wird zwecks anschließender Überprüfung des eigenen Nicht-Wissens. Die SuS identifizieren einerseits durch die angebrachte Lehrerfrage das eigene Wissensdefizit und sind andererseits aufgefordert, dieses zu nivellieren (vgl. ebd.: 148). Der bezweckte Wissenstransport von Hörer_innen zu S vollzieht sich in Form der Antwort der Angefragten (vgl. Ehlich/Rehbein 1986: 70).
Die sprachliche Handlung des Fragens und Antwortens wird somit im Zusammenhang mit Bekanntem und Neuem bzw. Thema und Rhema ausgeführt. In der schulischen Konstellation ist die Ausfüllung von Thema und Rhema für die Lehrkraft bereits bekannt, d.h. die gesuchten Wissenselemente und die dazu gehörenden Domänen fehlen der Lehrkraft nicht. Die Lehrerfrage übernimmt in diesem Fall eine steuernde Funktion, da damit die Richtung der anschließenden sprachlichen Handlung – die Lieferung von Antworten – festgelegt wird. Die Lehrerfrage ist hiermit durch einen starken Eingriff in den mentalen Bereich von Hörer gekennzeichnet (vgl. ebd.: 73).
Die diskursive Wissensprozessierung mittels institutioneller Lehrerfrage, bei der eine verstärkte Thematisierung des Thema-Rhema-Gehalts zum Gegenstand des Unterrichtsdiskurses wird, kann u.U. illokutiv so eng ausfallen, dass von einer „Regiefrage“ (Ehlich/Rehbein 1986: 83) gesprochen werden kann. Werden mehrere solcher „Regiefragen“ zwecks produktiver Wissenserweiterung in die Unterrichtsinteraktion sequenziell eingebracht, konstituiert sich eine spezifische Diskursart innerhalb der Institution Schule, der sogenannte „Lehrervortrag mit verteilten Rollen“ (vgl. ebd.: 85).
4.2 Kontextualisierung des Materials
Der vorliegende Transkriptausschnitt stammt aus dem herkunftssprachlichen Russischunterricht an einer Samstagsschule in Niedersachsen in einer dritten Klasse. Die SuS beschäftigen sich mit dem Thema Nebenglieder des Satzes. Sie führen dafür eine Übung durch, in der sie einerseits die Relation zwischen allen Satzgliedern bestimmen und andererseits diese je nach Art und der syntaktischen Funktion richtig unterstreichen müssen. Das behandelte Thema ist SuS bereits bekannt, da zu Beginn der Stunde eine Wiederholung des Gelernten stattgefunden hat. In der davor liegenden Sequenz haben SuS Hauptsatzglieder bestimmt und unterstrichen.
Das Ziel der Analyse ist aufzuzeigen, wie die Sprachbetrachtung im Unterrichtsdiskurs vonstattengeht und wie die notwendige Wissenskonsolidierung zwecks erfolgreicher Wissensaneignung diskursiv erarbeitet wird. Dabei wird die eingesetzte Lehrerfrage genauer betrachtet, um ihr Handlungspotenzial und ihre Funktionalität besser zu erkennen.