1 Einleitung
Kindern kommt in öffentlich-medialen sowie in bildungspolitischen Debatten eine besondere Rolle zu. Sie werden als Humankapital und somit als eine wichtige wirtschaftliche Ressource stilisiert, die den gesellschaftlichen Wohlstand sichern soll (vgl. Betz/Bischoff 2018). Damit eng verwoben sind Leitbilder ‚guter‘ Kindheiten: Das Kind gilt als lernfähig und wissbegierig, sodass eine ‚gute‘ Kindheit u.a. als eine Lern- und Entwicklungszeit verstanden wird. In diesem Zusammenhang werden an Eltern und ihre Erziehungs- und Bildungsleistung erhöhte Ansprüche herangetragen: Sie sollen den Lern- und Entwicklungsprozess des Kindes aktiv begleiten und ein anregungsreiches Umfeld gestalten (vgl. ebd.; Lange/Thiessen 2018). Eltern im Kontext von Migration wird vor dem Hintergrund solch westlich-mittelschichtspezifischer Leitbilder diese kompetente Förderung ihrer Kinder – vielfach mit Bezug auf Sprachdefizite – nicht zugetraut und werden somit als Abweichung von einer ‚guten‘ Elternschaft betrachtet (vgl. Westphal/Motzek-Öz/Otyakmaz 2017; Panagiotopoulou 2020: 82–85); Leitbilder ‚guter‘ Kindheiten sind somit auch als eng verwoben mit Leitbildern ‚guter‘ Elternschaft zu betrachten (vgl. Bühler-Niederberger 2016).
Für (migrationsbedingt) mehrsprachige Kinder werden v.a. Deutschkenntnisse als Bedingung für Bildungsteilhabe und somit eine ‚gute Kindheit‘ definiert (Betz/Bischoff 2018: 60), wohingegen die kindliche Mehrsprachigkeit einhergehend mit sprachlichen Defiziten diskursiv als Bildungsrisiko hervorgebracht wird (vgl. Stošić 2017: 279–288). In der pädagogischen Praxis hingegen lässt sich auf einer bildungsprogrammatischen Ebene zwar eine allgemeine Wertschätzung der kindlichen Mehrsprachigkeit erkennen (vgl. Zettl 2019); dies kollidiert aber mit der institutionellen Sprachpolitik in Kindertageseinrichtungen und Schulen, in der v.a. der Erwerb der ‚Bildungssprache Deutsch‘ im Fokus sprachpädagogischer Maßnahmen steht.
Studien zu der Perspektive von (migrationsbedingt) mehrsprachigen Eltern halten indes fest, dass der Erhalt ‚nicht-deutscher‘ Familiensprachen sowie die kindliche Mehrsprachigkeit ein dezidiertes Erziehungsziel der Eltern im Spannungsverhältnis zur einsprachigen Bildungsinstitution darstellt (Panagiotopoulou/Uçan i.E.; Uçan 2022). Die daraus resultierenden Herausforderungen werden von Eltern v.a. innerfamilial durch die (Um-)Gestaltung der familialen Sprachpraxis und der Aktivierung von Ressourcen bearbeitet.
Kinder sind somit in Auseinandersetzung mit den Sprachenpolitiken der Familie und Bildungsinstitutionen zu betrachten, zu denen sie sich positionieren (müssen). Bezugnehmend auf den in der Soziolinguistik entwickelten Ansatz der Family Language Policy (FLP) (vgl. King/Fogle 2008, 2017; Curdt-Christiansen 2009)1 ist darauf hinzuweisen, dass Kinder im Rahmen familialer Erziehungs- und Bildungsprozesse im Kontext von Mehrsprachigkeit eine aktive Rolle einnehmen und die Gestaltung der familialen Sprachpraxis durch das Aushandeln sprachlicher Praktiken maßgeblich mitbeeinflussen (vgl. Vishek 2021; Panagiotopoulou/Zettl 2021). Die Perspektive von Kindern und Jugendlichen auf ihre (Mehr-)Sprachigkeit wurde bisher in Deutschland nur marginal untersucht; doch lässt sich ein zunehmendes Interesse erkennen (vgl. Putjata/Plöger 2021). Während sich erste Studien der Perspektive von Kindern und Jugendlichen auf ihre (Mehr-)Sprachigkeit meist im Spannungsfeld zum monolingual orientierten Bildungssystem widmen (vgl. z.B. Putjata 2019; Wamhoff/Maahs/von Dewitz 2022; Khakpour 2023), ist ihre Sicht auf die familiale Sprachenpolitik eine bisher noch offene Frage.
Der vorliegende Beitrag geht auf Grundlage eines Lehrforschungsprojekts an der Universität zu Köln der Frage nach, wie Kinder ihre (Mehr-)Sprachigkeit vor dem Hintergrund der familialen Sprachenpolitik verhandeln. Theoretisch beziehen wir uns auf den Family Language Policy-Ansatz (FLP), den wir, wie von Smith-Christmas (2022) vorgeschlagen, mit Perspektiven der Kindheitsforschung verknüpfen.
2 Theoretische und empirische Verortung – Mehrsprachigkeit in Kindheit und Jugend
Im Folgenden soll zunächst aufgezeigt werden, wie die kindliche Mehrsprachigkeit in Familien und Bildungsinstitutionen verhandelt wird. Im Anschluss daran wird der Forschungsstand zu qualitativen Studien zur Perspektive von Kindern und Jugendlichen auf ihre Mehrsprachigkeit beleuchtet.
2.1 Die Rolle des Kindes im Family Language Policy-Ansatz
In Forschungsarbeiten, die auf den FLP-Ansatz Bezug nehmen, werden Kinder nicht nur als Empfänger:innen elterlicher Strategien im Rahmen von Spracherziehung und Sprachbildung gesehen, sondern übernehmen auch eine aktive Rolle als Gestalter:innen ihrer mehrsprachigen Lebenswelt (vgl. z. B. Fogle/King 2013; Smith-Christmas 2022). Eine wichtige Grundannahme des FLP-Ansatzes ist, dass eine familiale Mehrsprachigkeit in eine Vielzahl von Kontexten innerhalb und außerhalb der Familie eingebettet ist, die wiederum in einem wechselseitigen Einflussverhältnis zur familialen Sprachpraxis stehen. So nehmen zum einen historische, politische und soziale Kontexte, die in nationalen Sprachpolitiken sowie Sprachideologien zum Ausdruck kommen (vgl. Caldas 2012; Cantone/Wolf-Farré 2022), innerfamiliale Aushandlungen z.B. in der Partner:innenschaft (vgl. z.B. Curdt-Christiansen 2016) sowie mit dem Kind (Wilson 2020) Einfluss auf die familiale Mehrsprachigkeit.
Während ein Großteil der internationalen Studien zunächst die Perspektive von Eltern, ihre Strategien und Aushandlungen vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Umstände fokussierte (vgl. z.B. Ballweg 2022; Bezcioğlu-Goktolga/Yağmur 2018; Idaryani/Fidyati 2022; für eine Übersicht vgl. Lanza/Lomeu Gomes 2020: 159–162)2, behandeln in jüngster Zeit zahlreiche Studien im Besonderen die Rolle des Kindes in der Gestaltung der familialen Mehrsprachigkeit (vgl. Bui/Turner/Filipi 2022; Peace-Hughes et al. 2021; Wilson 2020). Internationale Studien liefern hier Erkenntnisse darüber, dass Kinder sprachliche Praktiken mit Eltern aushandeln und somit die Gestaltung der familialen Sprachpraxis maßgeblich mitbeeinflussen (vgl. z.B. Kheirkhah/Cekaite 2017; Kirsch/Gogonas 2018). Für Deutschland kommt auch Vishek (2021), deren Studie nicht explizit unter dem FLP-Ansatz verortet ist, anhand von Audioaufnahmen von mehrsprachigen Vorlesesituation in deutsch- und russischsprachigen Familien zu dem Schluss, dass Vorlesesituationen Kindern Räume für sprachenübergreifende Praktiken eröffnen und sie in diesen Positionierungen aktiv mit den Eltern aushandeln.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass Kinder zum einen als Gestalter:innen ihrer mehrsprachigen Lebenswelt zu verstehen sind; zum anderen stehen sie in Auseinandersetzung mit den Sprachenpolitiken der Familie und Bildungsinstitutionen, zu denen sie sich positionieren (müssen). Ausgehend davon erachtet v.a. Smith-Christmas (2022) die Verschränkung der Forschungsfelder der (Family) Language Policy und der Kindheitsforschung als einen fruchtbaren Ansatz.
2.2 Forschungsstand zu Perspektiven von in Deutschland lebenden Kindern und Jugendlichen auf ihre Mehrsprachigkeit
Ausgehend von der einleitend beschriebenen Sprachpolitik in deutschen Kitas und Schulen gehen zahlreiche Studien in Deutschland der Frage nach, wie die Differenzkategorie Sprache im pädagogischen Alltag ungleichheitsrelevant wirksam wird. Hier kommen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass die kindliche (und familiale) Mehrsprachigkeit vielfach Abwertungs- und Normierungspraktiken, u.a. in Form von Sprachgeboten und -verboten, unterliegt, so z.B. in Einrichtungen der Frühpädagogik (vgl. z.B. Neumann/Seele 2014; Panagiotopoulou 2017; Winter 2022) oder auch in sog. ‚Willkommensklassen‘ für geflüchtete Kinder und Jugendliche (vgl. Panagiotopoulou/Rosen 2018; Terhart/von Dewitz/ 2018). Dennoch zeigen Kinder auch unter diesen widrigen Bedingungen widerständige Praktiken gegenüber Fremdzuschreibungen seitens pädagogisch Professioneller (vgl. Panagiotopoulou 2017: 261) sowie auch gegenüber Forscher:innen im Feld (vgl. Zettl 2019: 195).
In Deutschland beschäftigen sich bisher nur wenige Studien explizit mit der Perspektive von mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen. In jüngster Zeit lässt sich v.a. im Rahmen qualitativer Forschung ein zunehmendes wissenschaftliches Interesse an den Perspektiven mehrsprachiger Sprecher:innen auf mehrsprachige Erwerbs- und Bildungsprozesse festhalten (vgl. Terhart/Uçan i.E.), im Rahmen dessen auch die Perspektiven von Kindern und Jugendlichen eine zunehmende Aufmerksamkeit erhalten (vgl. Putjata/Plöger 2021).
Qualitative Studien, v.a. aus der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung, konzentrieren sich dabei überwiegend auf die Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen, oftmals im Spannungsfeld zu monolingual orientierten Bildungsinstitutionen, und gehen der Frage nach, wie diese Erfahrungen ausgehandelt und bearbeitet werden. So zeigen in einer frühen qualitativen Teilstudie des Projekts „multikulturelles Kinderleben“ Berg, Jampert und Zehnbauer (2002) u.a. die Ambivalenz sprachlicher Erfahrungen auf. Einerseits erleben Kinder sich in ihrer Familie als sprachkompetent und übernehmen z.T. Übersetzungsaufgaben für ihre Eltern (ebd.: 94). Andererseits erfährt ihr Bewusstsein über die eigenen hohen Sprachkompetenzen im institutionellen Kontext einen Bruch, wenn sie z.B. als ‚sprachschwach‘ oder ‚sprachinkompetent‘ adressiert werden. Ihr komplexes Sprachenrepertoire entfaltet sich somit ausschließlich im privaten Bereich, während sie sich in den Bildungseinrichtungen als Kinder mit Nachholbedarf erfahren (ebd.: 97; vgl. auch Panagiotopoulou 2017). Kämpfe und Westphal (2018) halten anhand von Gruppendiskussionen mit Grundschüler:innen fest, dass die Teilnahme einer additiven Deutschsprachförderung in der Schule einhergehend mit Prozessen des Anders-Seins und der Stigmatisierung verhandelt wird und die Kinder Bearbeitungs- und Bewältigungsweisen darlegen: einerseits eine Internalisierung der Zuschreibung als förderbedürftig und andererseits eine Umkehrung der Sprachförderung als Chance zur Selbstoptimierung (ebd.: 198). Mittels Sprachenportraits und einer Gruppendiskussion mit Kindern sowjetischer Migrant:innen, die im hebräischsprachigen Bildungssystem sozialisiert wurden und heute eine Schule in Deutschland besuchen, kommt Putjata (2019) zum Ergebnis, dass die Kinder die eigene Mehrsprachigkeit zum einen als Ressource im Deutschlernprozess wahrnehmen. Zum anderen wird deutlich, dass sie die eigenen Sprachen, anders als in der Forschungsliteratur dargelegt, nicht in Kategorien wie Familiensprache oder Schulsprache usw. einteilen, womit die Notwendigkeit der Perspektive von Kindern im Forschungsprozess unterstrichen wird (ebd.: 401). Wamhoff et al. (2022) bestätigen ebenfalls eine positive Grundhaltung von Jugendlichen gegenüber ihrer Mehrsprachigkeit. Allerdings werden die verschiedenen Sprachkenntnisse von außen kaum wertgeschätzt und die Jugendlichen müssen sich z.T. mit Sprachgeboten und -verboten auseinandersetzen (ebd.: 357). Khakpour (2023) zeigt, dass Jugendliche (sog. Seiteneinsteiger:innen) in Vorbereitungsklassen in Deutschland und Österreich ihre (il-)legitime Anwesenheit in der (Regel-)Schule mit einem „Deutsch-Können“ verknüpfen (ebd.: 286–287), wohingegen Erfolg und Scheitern entsprechend des meritokratischen „Leistungsprinzips“ gedeutet werden (ebd.: 290–291). Gleichzeitig lassen sich auch Widerständigkeiten den exkludierenden schulischen Verfahren gegenüber rekonstruieren (ebd.: 218).
Die bisher dargelegten Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Kinder und Jugendliche selbst ihre Mehrsprachigkeit wertschätzen und als Ressource einsetzen, während sie gleichzeitig die sprachliche Ordnung der Bildungsinstitution mit den Normen und Sprachhierarchien wahrnehmen und sich mit hegemonialen Praktiken des Sprachverbots konfrontiert sehen. Auch wird eine Verinnerlichung hegemonialer Sprachnormen festgehalten (vgl. dazu Rühlmann 2021). Wie Kinder und Jugendliche die Erziehung zur Mehrsprachigkeit in der Familie erleben und sich dazu positionieren, stellt in Deutschland eine bislang weitgehend offene Frage dar.
3 Sprachenpolitik in (neu) zugewanderten Familien in Deutschland: Ein Lehrforschungsprojekt mit mehrsprachigen studentischen Forscher:innen an der Universität zu Köln
Die Datengrundlage des vorliegenden Beitrags wurde im Rahmen des Lehrforschungsprojekts „Language Policy in (neu) zugewanderten Familien in Deutschland (FaMiLanG)“ generiert, das an der Universität zu Köln durchgeführt wurde. Im Folgenden werden zunächst die Zielsetzung sowie das Forschungsdesign vorgestellt. Im Anschluss soll dann der Aspekt der mehrsprachigen Interaktion mit Kindern als zentrales Element der Studie skizziert werden.
3.1 Zielsetzung und Forschungsdesign
Im Rahmen eines erziehungswissenschaftlichen Studiums für angehende Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte gewinnt in Deutschland die Durchführung von Lehrforschungsprojekten an Bedeutung (vgl. Marotzki/Nohl/Ortlepp 2021: 173). Dadurch sollen nach dem Modell des forschenden Lernens studentische Forscher:innen Kompetenzen für die eigenständige Planung und Durchführung von Forschungsarbeiten – möglichst durch alle Phasen des Forschungsprozesses hindurch – erwerben. Die beteiligten Studierenden forschen „gemeinsam an einem Thema“ oder am „eigenen Projekt (…) für eine Abschlussarbeit“ (ebd.), mit dem Ziel, die daraus generierten (erziehungs-)wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Fachdiskurs einzuordnen und sich dabei im Rahmen ihrer Professionalisierung „einen forschenden Zugang zu den Wissenswelten ihrer Klientel zu erarbeiten“ (ebd.:165).
Für unser Lehrforschungsprojekt heißt es konkret: Angehende Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte, die an der Universität zu Köln studieren, forschen zur Mehrsprachigkeit in Familien im Spannungsverhältnis zur monolingual ausgerichteten Sprachpolitik der Bildungsinstitutionen (siehe Kap. 1). Übergeordnete Forschungsziele des Forschungsprojekts sind zum einen die Rekonstruktion der Sichtweisen verschiedener Familienmitglieder gegenüber Sprache(n) und Sprachpraxis sowie deren (auch konflikthaften) Erfahrungen inner- und außerhalb der Familie und zum anderen auf damit verbundenen Entscheidungen und Strategien, wie z.B. Literacy-Praktiken, die den Erwerb und die Verwendung von Sprache(n) vorantreiben (sollen).
Im Rahmen von Fallstudien werden in der Regel zwei Familien untersucht. Die dabei verwendeten Leitfäden für Eltern und/oder Kinder (vgl. Helfferich 2019) wurden in Anlehnung an Seltzer/Ascenzi-Moreno/Aponte (2020: 24) entwickelt und je nach Fall angepasst bzw. in die jeweilige Familiensprache übersetzt. Der Zugang zu den Familien erfolgte durch Online-Familienbesuche der Studierenden, da das Projekt im Jahre 2020 mitten in der Covid-19-Pandemie begann. Die Vorbereitung und Datenerhebung mit den verschiedenen Familienmitgliedern wurden somit digital realisiert. Dieser Forschungszugang erwies sich als besonders praktikabel, sodass bereits eine Vielzahl von Daten und Ergebnissen vorliegt, von denen wir im vorliegenden Beitrag eine Auswahl diskutieren. Schließlich werden die ausgewählten Daten in Forschungswerkstätten, die die Projektleitung regelmäßig anbietet, nach der Grounded Theory (vgl. Charmaz 2014) ausgewertet. Die Ergebnisse zu FLP in den konkreten Fällen werden in der jeweiligen Abschlussarbeit vorgestellt.
Das mehrsprachige Projektteam besteht aus den Projektleiterinnen Julie A. Panagiotopoulou und Yasemin Uçan und der Doktorandin Diana Samani. Bisher haben sich neun studentische Forscher:innen (angehende pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte) am Projekt beteiligt, die z.T. selbst mehrsprachig aufgewachsen sind und ihre Mehrsprachigkeit als Ressource im universitären Forschungskontext einsetzten. Den studentischen Forscher:innen standen die Wahl der Familien sowie der Einsatz ihrer Familiensprache frei: So konnten sie z.B. entscheiden, ob sie sich auf neu zugewanderte oder auf Familienmitglieder der zweiten oder dritten Generation fokussieren, ob sie Eltern und/oder Kinder ein- und/oder mehrsprachig interviewen, indem sie unter Verwendung ihres gesamten Sprachenrepertoires verschiedene Sprachen gebrauchten (neben Deutsch auch Persisch, Italienisch, Tschetschenisch, Türkisch u.a.) und damit translingual handelten. Die Sensibilisierung gegenüber dem Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit in deutschen Bildungseinrichtungen, ihre Bereitschaft, mit möglichen Differenz- und Diskriminierungserfahrungen der Befragten konfrontiert zu werden sowie ihre Offenheit gegenüber der mehrsprachigen bzw. translingualen Praxis der befragten Familien galten als wichtige Ressourcen im Projekt. Darüber hinaus hat sich im Rahmen von regelmäßig stattgefundenen Forschungskolloquien die Förderung der „Selbstreflexivität der [studentischen] Forschenden“ im Zusammenhang mit der Problematik des „Othering in der postmigrantischen Gesellschaft“ (Siouti/Spies/Tuider/von Unger/Yildiz 2022: 17) als notwendig erwiesen. Auf diese Weise konnten Ungleichheiten und Machtasymmetrien zwischen Forschenden und den Interviewpartner:innen teilweise aufgebrochen werden (vgl. Uçan 2019).
Die erhobenen Daten werden im Projekt für weitere, systematisch-vergleichende Analysen genutzt, sodass wir in den kommenden Jahren einen Einblick in die FLP verschiedener Familien und Familienmitglieder aus unterschiedlichen (Migrations-)Generationen gewinnen können.
Diana Samani führte 2020 und erneut 2022 insgesamt 15 Leitfadeninterviews mit Eltern (auf Persisch3) und Kindern (auf Deutsch sowie translingual auf Deutsch-Persisch) in zwei Familien durch (siehe Kapitel 4.1). Für den vorliegenden Beitrag beziehen wir uns auf die Interviews mit Kindern bzw. Jugendlichen, um ihre Sichtweisen, aber auch Erfahrungen und Praktiken während ihrer Kindheit zu rekonstruieren. Mithilfe der Grounded-Theory-Methodologie wurden von den Autorinnen fokussierte Codes und anschließend Konzepte bzw. Kategorien gebildet (nach Charmaz 2014: 15), die in Kapitel 4 vorgestellt werden.
3.2 Mehrsprachige Interaktion mit Kindern als zentrales Element der Studie
Die Untersuchung der Sichtweisen von (migrationsbedingt) mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen einschließlich der von ihnen erzählten Erfahrungen und Praktiken führt dazu, dass ihre Mehrsprachigkeit nicht nur als Gegenstand der Studie anzusehen ist, sondern auch methodologische Überlegungen und Entscheidungen zum Umgang mit Mehrsprachigkeit im Forschungsprozess erforderlich wurden. Dazu gehören die Sprachpraktiken der Befragten und der studentischen Forscherin, die über ein vergleichbares Sprachenrepertoire verfügen, sodass u.a. die gemeinsame Familiensprache Persisch (von den Befragten auch als Dari oder Farsi bezeichnet) im Interview- und Transkriptionsprozess verwendet wurde. Die Auswahl der Interviewsprache Deutsch erfolgte seitens der Befragten ohne eine konkrete Vorgabe oder Aufforderung seitens der Forscherin. In den Interviews zeichnete sich dabei auch das mehrsprachige Repertoire und die translinguale Alltagspraxis der befragten Kinder und Jugendlichen ab, „[…] wenn z.B. auf Dari Ausschnitte familialer Aushandlungsprozesse vorgestellt, auf Arabisch die jeweiligen Lerninhalte im Rahmen des privaten Nachhilfeunterrichts referiert oder exemplarisch Sätze in den erlernten Schulfremdsprachen wie Englisch und Französisch formuliert werden“ (Samani 2022: 66).
Vor dem Hintergrund der Zielsetzung des Lehrforschungsprojektes – das Sichtbarmachen der mehrsprachigen Realität der beteiligten Kinder und Jugendlichen – wurde ihre translinguale Praxis in den Transkriptionen entsprechend aufgenommen. In Anlehnung an García und Wei (2014) wurde eine phonetische Schreibweise der Äußerung in Persisch gefolgt von einer deutschen Übersetzung in eckigen Klammern hinzugefügt. Dies sieht exemplarisch wie folgt aus:
B: Wenn wir was z. B. sagen سلام چطور استی ؟ [saˈlɑm tʃeˈt̂ʰoɹ̊ asːti] [Hallo, wie geht es dir?] dann sagt sie uns halt nach und plappert uns so nach […] (W2, Z.949–950).
Neben dem Aspekt der Mehrsprachigkeit nimmt die generationelle Ordnung zwischen den befragten Kindern und Jugendlichen und der studentischen Forscherin eine omnipräsente Bedeutsamkeit ein. Das Forschungsprojekt verfolgte das Ziel, auch „das Recht von Kindern [und Jugendlichen] auf Gehör und Mitsprache, Mitwirkung und Mitbestimmung im Forschungsprozess kontinuierlich zu (be-)achten“ (Nentwig-Gesemann 2022: 70). Dies bedeutet, auch das eigene Vorgehen kritisch zu reflektieren (vgl. ebd.), was – laut Rühlmann (2021) – v.a. in „[…] [der] Notwendigkeit einer fortlaufenden (Selbst-)Reflexion […]“ der Machtasymmetrie zwischen Kindern bzw. Jugendlichen und erwachsenen Forschenden besteht. Die Befragten sollten einerseits innerhalb der Forschung als Akteur:innen verstanden werden, während andererseits diese reflexive Haltung auch die systematische Dokumentation der eigenen Rolle der Studierenden im Forschungsfeld beinhaltete.4
4 Ergebnisse zur Sprachenpolitik aus der Perspektive von mehrsprachigen Kindern
Die im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags stehenden Kinder und Jugendlichen kommen aus Familien, die im Jahre 2015 als Geflüchtete Afghanistan verlassen haben und seither in Deutschland leben. Die beiden Familien haben unterschiedliche soziostrukturelle Ausgangslagen – und ähnlich wie die befragten Eltern in der Studie von Uçan (2022) – verfolgen die Eltern eine mehrsprachige Erziehung ihrer Kinder.
Das bedeutet, dass sich die Eltern beider Familien in den im Jahr 2020 geführten Interviews als mehrsprachig positionierten. Dabei betonten sie u.a., dass in Afghanistan „viele Sprachen“, Farsi (Dari), Paschtu und Usbekisch, gesprochen werden und dass sie ihren Alltag auch in Deutschland – je nach Situation und Gesprächspartner:in – multi- und translingual gestalten, wobei insbesondere die Sprachen Farsi und Deutsch in ihrer Alltagskommunikation, aber auch in Literacy-Aktivitäten innerhalb der Familie, eine große Rolle spielen (vgl. Samani 2020, 2022).
Mitglieder der ersten Familie mit dem Namen Noorzad5 sind: Die Mutter Ghezal (37 Jahre alt), die in Afghanistan keine Schule besuchen konnte und zum Zeitpunkt des Interviews einen Deutschkurs absolvierte. Sie war während ihres Aufenthalts in der Türkei als Näherin tätig und ist heute Hausfrau. Der Vater Mirwais (39 Jahre alt), der in Afghanistan eine Ausbildung bei einem lokalen Radiosender absolvierte und heute bei einem Automobilzulieferer beschäftigt ist. Sie haben fünf Kinder: Mobina (18,5 Jahre alt), Faizal (15,5 Jahre alt), Wais (13 Jahre alt), Shahista (9 Jahre alt) und Ghulam (3,5 Jahre alt).
Mitglieder der zweiten Familie mit dem Namen Wali sind: Die Mutter Marjan (32 Jahre alt) und der Vater Haroon (35 Jahre alt), die in Afghanistan nach ihrem Abitur eine (akademische) Ausbildung abgeschlossen hatten. Marjan war in Afghanistan Grundschullehrerin und ist in Deutschland an einer Schule in der Nachmittagsbetreuung tätig. Haroon schloss in Deutschland eine Ausbildung zum Anlagemechaniker ab und wurde anschließend vom Unternehmen als Angestellter übernommen. Sie haben vier Kinder: Zohal (13 Jahre alt), Amir (11,5 Jahre alt), Morsal (9,5 Jahre alt) und Homeira (6 Jahre alt).
Im Folgenden werden wir exemplarisch auf der Grundlage der Interviews mit dem 11-jährigen Amir Wali und dem 13-jährigen Wais Noorzad die Sichtweisen eines jungen Mitglieds aus jeder Familie näher betrachten. Dabei möchten wir in einem ersten Schritt rekonstruieren, wie die älteren Kinder der Familie nicht nur den eigenen Deutscherwerb gestalten, sondern auch für das Deutschlernen ihrer Eltern (Mit-)Verantwortung übernehmen (4.1). In einem weiteren Schritt werden wir rekonstruieren, wie die Befragten während ihrer Kindheit, dem Ziel der mehrsprachigen Erziehung seitens ihrer Eltern folgend, versuch(t)en, sowohl mono- als auch translingual handelnd, einerseits den mehrsprachigen Erwerb der jüngeren Geschwister zu unterstützen und andererseits die Sprache Persisch als Familiensprache zu erhalten. Daraufhin beleuchten wir mögliche Auswirkungen der monolingualen Sprachpolitik der Schule in Deutschland auf die Familiensprachenpolitik aus der Perspektive der befragten Kinder (4.2).
4.1 „Deutsch? […] – wir haben es unseren Eltern beigebracht und die haben uns halt Dari beigebracht“ – Arbeitsteilung und Umverteilung von Verantwortung in der Familiensprachenpolitik
Indem wir uns im Projekt auf die Interpretationen der jüngeren Familienmitglieder einlassen, erfahren wir, wie die Sprachenpolitik in der jeweiligen Familie nicht nur von Eltern, sondern auch von ihren (älteren) Kindern mitgetragen und als gemeinsame Familienaufgabe übernommen wird. So spricht Amir im folgenden Interviewauszug nicht nur über seine eigenen sprachlichen Praktiken und Strategien, sondern auch über die seiner älteren Schwester Zohal. Als ältestes Kind der Familie Wali war sie die erste, die ihre Eltern beim Deutscherwerb unterstützte. Interessant ist hier auch die spätere Aufteilung dieser Aufgabe und damit die geteilte Verantwortung, die die beiden älteren Kinder der Familie (Zohal und Amir) zu tragen hatten:
I: Wie hast du dann Deutsch innerhalb der Familie gelernt?
Amir: Deutsch? Habe ich so aus dem Kindergarten gelernt. Also meine Eltern haben mir es nicht beigebracht. Sozusagen wir haben es unseren Eltern beigebracht und die haben uns halt Dari beigebracht und ja (…) also sie konnten ja als erstes selber kein Deutsch. Die konnten ja nur Dari und also (…) Zohal ist ja zwei Klassen höher als ich und weiter als ich (…) war sie halt in der vierten und sie konnte richtig gut Deutsch und dann hat sie es halt, halt meine Mama immer so Serien oder so auf Deutsch geguckt und dann hat meine Mutter immer gefragt: “Was heißt z.B. nach Hause?” Dann halt Zohal gesagt, also meine große Schwester, dass es بهخانه [b̊eh̬ xɑˈne] [nach Hause] oder so heißt und dann hat sie es in Dari gesagt. Und dann hat meine Schwester immer das gesagt, was das ist und dann wusste meine Mutter das und konnte eigentlich, kann jetzt gut Deutsch. Und mein Papa, meinem Papa hab ich es gesagt, Zohal immer meiner Mama und ich meinem Papa.
In diesem Ausschnitt definiert Amir die Einrichtung der Frühpädagogik für ihn erst einmal als den Ort, an dem er seine Deutschkenntnisse erworben hat. Für die Familie wird dies zurückgewiesen und hingegen als der Lernort präsentiert, worin die Eltern die deutsche Sprache erwerben. Diese Lernprozesse werden von den Kindern begleitet: Die Erzählung, dass seine Schwester Zohal ihrer Mutter – die „immer so Serien oder so auf Deutsch geguckt“ hat – „immer das gesagt“ hat, was sie wissen wollte, deutet auf ritualisierte Lerngelegenheiten des Familienalltags. Diese wiederkehrenden Lernsituationen waren für die (noch) nicht deutschsprechenden Eltern zentral und scheinen auch einen systematischen Charakter aufzuweisen, der auf (vermuteten) geschlechtsspezifischen Interessen beruhte: So war Zohal für die Mutter und Amir für den Vater zuständig, was wir auch im Folgenden etwas näher betrachten. Diese Regelmäßigkeit der gemeinsamen Aktivitäten, die immer (wieder) vorgekommen sind, verdeutlichen einerseits die Systematik dieser Vorgehensweise, aber auch die Bedeutung des familialen Deutscherwerbs und begründen auch seinen Erfolg, sodass die Mutter „jetzt gut Deutsch“ kann. Zohal, die „halt in der vierten“ Grundschulklasse war und aus Amirs Perspektive damals schon „richtig gut Deutsch“ konnte, hat somit als erste die Verantwortung für den Deutscherwerb der anderen Familienmitglieder und insbesondere der Mutter übernommen. Diese Verantwortung wurde im Laufe der Zeit mit Amir geteilt, als auch er mit seinem Deutscherwerb in der Schule erfolgreich und somit in der Lage war, den Lernprozess des Vaters zu begleiten. In der Darstellung Amirs über das familiale Sprachenlernen lässt sich somit eine pragmatische Arbeitsteilung erkennen, die sich an den Kompetenzen und den verschiedenen Interessen der Familienmitglieder orientiert.
Trotzdem scheint Amir die Rolle der Eltern als kompetente (Sprach-)Vorbilder nicht in Frage zu stellen. So wird hier die Mutter als lernwillig und lernfähig dargestellt, die zwar zunächst kein Deutsch sprechen konnte, heute aber deutschsprechend ist. Und während die Eltern aus pragmatischen Gründen von ihren älteren Kindern dabei unterstützt wurden und ihnen somit die Rolle der Lernbegleiter:innen überlassen haben, tragen sie ihre eigene Verantwortung für den Erhalt der Familiensprache Dari. Die Alltagspraxis des gegenseitigen Sprachenvermittelns wird von Amir in einer fast egalitären Weise und jenseits von Generationsordnungen als eine pragmatische Arbeitsteilung innerhalb der Familie, die auf den sprachlichen Ressourcen beruht, und zugleich als erfolgreiche familiale Lernstrategie dargestellt.
Was seine eigene Rolle angeht, sah sich Amir, obwohl er noch ein Kind war, in der Verantwortung, den Lernprozess seines Vaters nicht nur erfolgreich zu begleiten, sondern ihn auch zu beschleunigen:
I: Erinnerst du dich an eine Situation, in der du deinem Vater etwas beigebracht hast oder ihn korrigiert hast?
Amir: Ja, also wir haben Elternbriefe immer so bekommen von der Schule. Dann stand da so Sachen und dann habe ich so, er hat nicht besonders flüssig geredet, da habe ich es meinem Vater vorgelesen und dann hat er es so übersetzt erstmal durch mich. Dann habe ich meinem Papa selber gesagt, er soll´s nicht übersetzen, er soll´s selber einmal lernen. Er soll erst mal die Wörter lernen und dann erstmal in Sätzen. Und das hat dann super geklappt und jeden Elternbrief war er in ein zwei Minuten fertig und hat unterschrieben, fertig! Das ging ganz schnell und das hat der ganz schnell hingekriegt oder gelernt.
Amir präsentiert sich hier als bereits erfahrener Lerner, der seinem Vater konkrete Ratschläge gab, wie das translinguale Sprachenlernen selbständig ablaufen konnte: durch den Verzicht auf die Hilfe einer Übersetzung ins Persische bzw. durch das selbständige Lernen einzelner deutscher Wörter und mithilfe der selbständigen Erkundung von syntaktisch zusammenhängenden Elementen (Sätzen). Der Deutscherwerb wird als ein komplexer Lernprozess dargestellt, den Amir schrittweise – erst durch seine Übersetzung bis hin zum eigenständigen Verständnis – begleitet hat. Insgesamt scheint er auch mit dem Ergebnis seiner Lernanleitung sehr zufrieden zu sein: Denn „das hat dann super geklappt“, sodass sein Vater im Laufe des Prozesses mit dem jeweiligen Elternbrief innerhalb von „ein zwei Minuten fertig“ war. Amir legt dar, dass der Vater einen Elternbrief erst dann unterschreibt, nachdem er ihn verstanden hat, was die Interpretation zulässt, dass trotz Übernahme von Mitverantwortung nicht das Kind, sondern der Vater, der hier als Erziehungsberechtigter fungiert, für die tatsächliche Kommunikation mit der Schule verantwortlich bleibt. Gleichzeitig macht dieses konkrete Beispiel Amirs Versuch deutlich, während seiner Kindheit die Rolle des Vermittlers zwischen Schule und Familie und somit diesen Verantwortungsbereich wieder abzugeben, indem er seinen Vater gezielt unterstützte, damit dieser seine Rolle als direkter Gesprächspartner der Schule schnellstmöglich wieder einnehmen konnte.
Die monolinguale Sprachpolitik der Schule, die auch in Zeiten der Fluchtmigration und in der Interaktion mit noch nicht deutschsprechenden Eltern nicht aufgegeben wird, bleibt in diesem Prozess unhinterfragt. Die daraus resultierenden Herausforderungen betreffen die Familiensprachenpolitik, d.h. sowohl die Eltern (vgl. Uçan 2022) als auch ihre Kinder, und können nur durch eine Arbeitsteilung und Umverteilung von Verantwortung bewältigt werden.
4.2 „Mit meinen Geschwistern und Eltern zusammen? […] da reden wir Persisch, ja, nur Persisch […] mit den Geschwistern ist es wieder so gemischt.“ – Familiensprachenpolitik zwischen Spracherwerb und Spracherhalt
Auf der Grundlage des zweiten Interviews mit dem 13-jährigen Wais können wir seine (erzählten) Praktiken sowie die seiner Geschwister im Zusammenhang mit der Sprachenpolitik der Familie Noorzad rekonstruieren. Es handelt sich um den systematischen Versuch, einerseits Persisch als gemeinsame Sprache von Eltern und Kindern im familialen Alltag zu etablieren und andererseits pragmatisch zu sein bzw. die Regel der Sprachentrennung zumindest situativ zu verletzen, um effektiv miteinander kommunizieren zu können. Um Letzteres zu erreichen, integriert Wais heute noch auch „ein paar Wörter auf Deutsch“ in die Interaktion mit seinen Eltern, die er angeblich „nur“ auf Persisch realisiert:
I: Und in welchen Sprachen sprichst du die meiste Zeit mit deinen Eltern?
Wais: Nur Persisch, aber es gibt Wörter z.B. „Haltestelle“ weiß ich ja nicht auf Persisch, vergesse ich meistens […] so sage ich ein paar Wörter auf Deutsch, weil die mir nicht sofort einfallen […].
Obwohl sich die Interviewerin-Frage auf den Gebrauch mehrerer Sprachen bezog, besteht Wais zunächst auf dem generationsübergreifenden Sprachgebot seiner Familie, mit seinen Eltern „nur Persisch“ zu sprechen. Dies wird im Anschluss aus pragmatischen Gründen relativiert: Wenn er sich nur schnell verständigen will, ihm aber die passenden Begriffe für eine effektive, alltägliche Kommunikation „nicht sofort“ auf Persisch einfallen, benutzt er auch deutsche Wörter mitten im Satz. Diese translinguale Praxis, die hier von einem 13-jährigen Jugendlichen als Realität und Normalität beschrieben wird, lässt sich auf seine mehrsprachige Kindheit zurückführen, genauer gesagt: auf sein Aufwachsen in einer Familie, in der „Sprachmischung“ systematisch stattfindet (vgl. Panagiotopoulou 2016). Diese Realität wird auch von der mehrsprachigen Forscherin aufgegriffen, als sie die Frage stellt, ob er dann „gemischt“ spricht und ob er auch „andere Situationen“ beschreiben kann, in denen Sprachmischung im Alltag der Familie vorkommt:
I: Sprichst du dann gemischt? Gibt es auch andere Situationen?
Wais: Mit meinen Eltern nur Persisch, bei meinem Bruder, weil wir in einem Zimmer sind, dann ist es gefühlt, dann ist es also zusammen immer. Persisch und dann Deutsch und dann Persisch und dann Deutsch. Weil wenn ich meinem Bruder, Faizal, was erzählen möchte oder was erklären möchte, dann ist es eher Deutsch, aber wenn ich so normal rede, dann eher Persisch.
Wais vertritt hier offensiv die Regel „mit meinen Eltern [spreche ich] nur Persisch“, räumt aber ein, dass er regelmäßig dagegen verstößt: In Abwesenheit seiner Eltern, in der Interaktion mit seinem Bruder, im gemeinsamen Zimmer kommen die beiden Sprachen eher „zusammen“ vor. Um diese sprachenübergreifende Praxis zu beschreiben, verwendet Wais das stilistische Mittel der abwechselnden Reihung „Persisch und dann Deutsch und dann Persisch und dann Deutsch“, was sich jedoch nicht auf zwei voneinander abgrenzbare Sprachsysteme zu beziehen scheint (vgl. auch Otheguy/García/Reid 2019), sondern darauf, wie es sich anfühlt, wenn er mit seinem Bruder ‚gemischt‘ kommuniziert: „dann ist es gefühlt, dann ist es also zusammen immer“. Auffällig ist allerdings, dass Wais gleichzeitig zwischen einer Praxis des bewussten Erzählens und Erklärens „eher [in] Deutsch“ und der alltäglichen Praxis des Redens unterscheidet, das „normal“ und ohne die Intention etwas mittzueilen oder zu erläutern „eher [in] Persisch“ realisiert wird. Diese normative Vorstellung einer möglichen (oder notwendigen) Trennung zwischen einer elaborierten und einer weniger elaborierten oder alltäglichen Sprachpraxis geht möglicherweise auf die erlebte Sprachpolitik in der Schule zurück (siehe unter 1)6.
Und ähnlich wie im Klassenzimmer oder in Anwesenheit von Erwachsenen bzw. Lehrkräften scheint auch im Familienkontext bei gemeinsamen Aktivitäten mit den Eltern „nur“ eine Sprache legitim zu sein:
I: […] Und welche Sprachen verwendest du mit deinen Eltern und Geschwistern während einer bestimmten Aktivität? Also z.B. wenn ihr gemeinsam etwas spielt?
Wais: Zusammen spielen? Mit meinen Geschwistern und Eltern zusammen? Wir spielen manchmal Kartenspiele, da reden wir Persisch, ja, nur Persisch, wenn wir alle zusammen [sind], Persisch, mit den Geschwistern ist es wieder so gemischt.
Die Sprachenpolitik der strikten Trennung wird also von den Kindern in der Interaktion mit ihren Eltern kaum in Frage gestellt, aber gleichzeitig in der Peer-Gruppe, zusammen „mit den Geschwistern“, systematisch (durch ihre translingualen Praktiken) verletzt. Doch auch wenn die Kinder der Familie ein „translanguaging space“ (Wei 2011) für sich beanspruchen, wird das Sprachgebot („nur Persisch“ zu sprechen) offiziell nicht in Frage gestellt. Im weiteren Verlauf des Interviews wird deutlich, dass Wais Verständnis für das Anliegen seiner Eltern zeigt, und sogar die Absicht der Eltern unterstützt, „die persische Sprache“ als Familiensprache zu erhalten und an die jüngeren Familienmitglieder weiterzugeben.
Gleichzeitig lässt Wais’ Sorge, dass er diese Sprache „verlernen“ könnte, die Interpretation zu, dass die hier rekonstruierte Familiensprachenpolitik eng mit der erlebten einsprachigen Sprachpolitik der deutschen Schule verbunden ist:
I: Du hast vorhin gesagt, dass du deine Eltern verstehen kannst, dass ihr zu Hause Persisch sprecht.
Wais: Ich finde Persisch sollte ich trotzdem noch sprechen, damit mein Bruder (…) er redet ja auch Persisch […] Deswegen möchte ich am meisten Persisch sprechen, damit jeder es auf Persisch weiß und damit ich die persische Sprache nicht verlerne. […] Es gab ja Zeiten in der Grundschule, wo ich Deutsch reden musste. Deutsch lernen musste. Ich hab Deutsch gelernt, ich hab mich auf Deutsch konzentriert und als ich mich eher so 70-80 Prozent nur auf Deutsch konzentriert hab, dann wusste ich auf einmal nicht „Oh, was war das nochmal auf Persisch“ oder was (…) Deswegen möchte ich, wenn ich in der Schule bin, Deutsch reden und wenn ich zu Hause bin, eher Persisch. Damit ich beides weiß.
Wais sieht sich in der Verantwortung, durch Sprachgebrauch den Erhalt des Persischen zu sichern. Um das Lernen seines Bruders zu gewährleisten, aber auch um sein eigenes „Verlernen“ zu vermeiden, will er „meistens Persisch sprechen“. Die potenzielle Gefahr des Verlernens begründet er mit sprachbiografischen Erfahrungen während seiner Kindheit im Kontext der Institution Schule. Hier verweist er darauf, dass er insbesondere in der Grundschule Deutsch reden und „lernen musste“. Dem ist er „konzentriert“ nachgegangen, sodass das Deutsche „70 bis 80 Prozent“ seines Alltags in Anspruch nahm. Mit dieser prozentualen Einschätzung wird deutlich, dass die deutsche Sprache von Wais als dominierend wahrgenommen wird. Um dieser Dominanz und einem potenziellen Verlernen entgegenzuwirken, beabsichtigt er, seine Sprachen nach Räumen – Familie vs. Schule – zu trennen. Diese Trennung wird als Strategie des Spracherhalts präsentiert, damit er „beides weiß“. Deutlich wird, dass sich Wais gegenüber den Sprachenpolitiken der Familie und der deutschen Schule konform präsentiert und auch danach handeln möchte. Seine erzählte Sprachpraxis, v.a. in der Interaktion mit den Geschwistern, zeigt sich allerdings als translingual. Dadurch wird wiederum deutlich, dass die offizielle Sprachenpolitik der Familie durch Wais und seine Geschwister de- und ko-konstruiert wird.
5 Ergebnisdiskussion und Ausblick
In der deutschen Migrationsgesellschaft verfolgen mehrsprachige Eltern in der Regel das Ziel, sowohl den Erwerb der deutschen Familiensprache als auch den Erwerb von ‚nicht-deutschen‘ Familiensprachen zu unterstützen. Spannungen, die zwischen dieser auf Mehrsprachigkeit ausgerichteten Familiensprachenpolitik und der monolingual ausgerichteten institutionellen Sprachpolitik entstehen, werden v.a. innerfamilial bearbeitet (vgl. Uçan 2022) und betreffen somit auch die Kinder der Familien. Ihre Perspektive bleibt allerdings meist unberücksichtigt (vgl. Smith-Christmas 2022). Vor diesem Hintergrund ging der vorliegende Beitrag der Frage nach, wie Kinder und Jugendliche im Kontext der am Projekt FaMiLanG beteiligten neu zugewanderten Familien ihre eigene (Mehr-)Sprachigkeit und die familiale Sprachenpolitik verhandeln und sich dazu positionieren. Unsere Interpretationen beziehen sich auf zwei Kategorien, die wir (nach der Grounded-Theory-Methodologie) aus einem umfassenden Datenkorpus generieren konnten, um damit exemplarisch die Perspektive von Kindern aus migrationsbedingt mehrsprachigen Familien zu rekonstruieren.
Mit der Kategorie „Arbeitsteilung und Umverteilung von Verantwortung in der Familiensprachenpolitik“ (4.1) haben wir herausgearbeitet, dass nicht nur die Sprachpraxis, sondern auch die Eltern-Kind-Beziehungen in neu zugewanderten Familien durch die Institution Schule und ihre Sprachpolitik mitbestimmt werden: Kinder müssen sich nämlich zu den seitens der Schule unantastbaren Sprachbarrieren (aufgrund des Beharrens auf Einsprachigkeit) verhalten und gemeinsame Zeit mit ihren Eltern sowie Ressourcen in die schriftliche Kommunikation zwischen den beiden Instanzen Schule und Familie investieren.
Mit der Kategorie „Familiensprachenpolitik zwischen Spracherwerb und Spracherhalt“ (4.2) konnten wir darüber hinaus die geschwisterlichen Freiräume bzw. sprachenübergreifenden Räume (translanguaging spaces) beleuchten, die sich die älteren Kinder für sich und ihre jüngeren Geschwister im Alltag der Familie schaffen. Dabei konzentrieren sie sich auf den Erwerb der neuen (Familien-)Sprache sowie auch auf den Erhalt der mitgebrachten (Familien-)Sprache, indem sie konsequent das Ziel verfolgen, sowohl zu lernen als auch nicht zu verlernen bzw. ihre translingualen Praktiken (translanguaging practices) und ihre transnationalen (Sprach-)Biografien aktiv mitzugestalten. Insgesamt haben die Befragten, als ältere Kinder ihrer Familie, die Verantwortung für den eigenen sowie für den (Mehrsprachen-)Erwerb ihrer Geschwister übernommen, was eine zentrale Aufgabe im Rahmen der Familiensprachenpolitik zu sein scheint, aber auch ein untrennbarer Teil ihrer mehrsprachigen Kindheit im Kontext der deutschen Migrationsgesellschaft.
Die Ergebnisse bestätigen die Notwendigkeit, die Perspektive von Kindern und Jugendlichen im Rahmen von Migrations- und Mehrsprachigkeitsforschung zu berücksichtigen, um der aktiven Gestaltung ihrer mehrsprachigen Lebenswelt Rechnung zu tragen, anstatt Kindheiten entlang normativer Leitbilder ‚guter‘ Kindheiten als normabweichend oder als defizitär zu betrachten.
Außerdem zeigen diese Ergebnisse, wie ergiebig die Rekonstruktion der Perspektive von Kindern und Jugendlichen sein kann, um weitere Erkenntnisse über die alltäglichen – jenseits von Generationenasymmetrien – translingualen Lernprozesse von Eltern und Kindern im Familienkontext zu gewinnen (vgl. Panagiotopoulou/Zettl 2021: 53). Ihre sprachenübergreifenden Interaktionen, die sowohl auf den (Mehr-)Sprachenerwerb als auch auf den Sprachenerhalt abzielen, können somit nicht pauschal und einseitig als Überforderung angesehen werden, sondern bestätigen vielmehr, dass Translanguaging als Norm und Normalität in mehrsprachigen Familien gilt (vgl. García/Wei 2014: 23). Folglich sind westlich-mittelschichtsorientierte Vorstellungen von Eltern-Kind-Beziehungen, in denen ausschließlich Eltern als aktive Gestalter:innen des sprachlichen Umfelds agieren, so wie sie auch im FLP-Ansatz vielfach zu finden sind (vgl. Lomeu Gomes 2018), vor dem Hintergrund migrationsspezifischer Lebenslagen kritisch zu hinterfragen.
Notes
- Im deutschsprachigen Raum wurde der Ansatz Family Language Policy (FLP) von Panagiotopoulou und Zettl (2021) mit „Familiensprachpolitik“ oder mit „familiale Sprachpolitik und Sprachpraxis“ übersetzt. Im vorliegenden Beitrag wird der Begriff Familiensprachenpolitik verwendet, um der familialen Mehrsprachigkeit Rechnung zu tragen. [^]
- Lomeu Gomes (2018) merkt kritisch an, dass im Kontext des FLP-Ansatzes eine westlich geprägte Idealnorm von Elternschaft reproduziert wird, die transnationalen Familien nicht gerecht wird. Somit wird eine Dekolonialisierung des FLP-Ansatzes als notwendig erachtet, um der Diversität von Elternschaft in ihrer intersektionalen Verschränkung Rechnung zu tragen. [^]
- Im vorliegenden Beitrag verwenden wir die Bezeichnung Persisch als Oberbegriff für die Sprachen Dari und Farsi. Die Vielfalt an Sprachbezeichnungen ist auf deren unterschiedlichen Gebrauch durch die befragten Kinder während der Interviewsituation zurückzuführen, die wir aus Gründen der Authentizität unverändert aufgenommen haben. Gleichzeitig sei auf die Vielfalt an verschiedenen Standardvarietäten des Persischen hinzuweisen. [^]
- Für vielfache weitere Anregungen und Reflexionen zu Forschungsethik insbesondere im Rahmen von Kindheitsforschung, vgl. den Sammelband von Joos und Alberth (2022). [^]
- Alle Namen wurden pseudonymisiert. [^]
- Dort wird nicht nur zwischen der Familiensprache der Kinder und der Unterrichtssprache der Schule unterschieden, sondern auch zwischen der „Bildungssprache Deutsch“ (um zielgerichtet zu erläutern etc.) und einer vermeintlich weniger bildungsrelevanten Alltagssprache (vgl. Panagiotopoulou 2016; Dirim/Khakpour 2017). [^]
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Kurzbio
Dr. Julie A. Panagiotopoulou ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Bildung und (frühe) Kindheit an der Universität zu Köln. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Migration und Inklusion/Exklusion in Bildungsinstitutionen, Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Mehrsprachigkeit in Familien, Kitas und Schulen, erziehungswissenschaftliche Migrations- und Familienforschung sowie ethnographische Bildungsforschung.
Dr. Yasemin Uçan ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich interkulturelle Bildungsforschung sowie am Mercator-Institut für Deutschförderung und Deutsch als Zweitsprache an der Universität zu Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Mehrsprachigkeit in Familie und Kindheit, Sprach- und Berufsbiografieforschung, Implementationsforschung im Kontext sprachlicher Bildung sowie mehrsprachige qualitative Forschungszugänge.
Diana Samani, M.Ed., hat Lehramt für Gymnasien und Gesamtschulen mit den Fächern Englisch und Französisch an der Universität zu Köln studiert und promoviert im Rahmen des Projektes „Sprachenpolitik in (neu) zugewanderten Familien in Deutschland (FaMiLanG)“. Zu ihren Forschungsinteressen zählen migrationsbedingte Mehrsprachigkeit im Kontext von Neuzuwanderung/Flucht und im Spannungsfeld zwischen den Bildungsinstitutionen Familie und Schule sowie qualitative Zugänge zur Erforschung der Kinderperspektive in der Migrationsgesellschaft.
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