Der Reflexionskompetenz (angehender) Lehrer*innen wird eine hohe Bedeutung für die Professionalisierung zugesprochen. Dabei werden die Fragen nach der Modellierung, Entwicklung, Förderung und Messung von Reflexionskompetenz nicht nur in der allgemeinen Didaktik diskutiert, sondern geraten auch in den Fokus der an der Lehrer*innenbildung beteiligten Fachdidaktiken. Zentral sind dabei die Rolle der Fachlichkeit bei der Herausbildung, Entwicklung und Förderung von Reflexion sowie die Identifikation gegenstands- und prozessbezogener Merkmale einer fachspezifischen Reflexion. Anknüpfend an die allgemeindidaktische Diskussion und die Ergebnisse der aktuellen fremdsprachendidaktischen Forschung zur Bedeutung der Reflexion in der Professionalisierung von (angehenden) Fremdsprachenlehrer*innen (vgl. Gerlach 2020; Gödecke 2020; Klempin 2019; Schädlich 2019) präsentieren die Herausgeber einen Beitrag zur aktuellen Forschungslage. Aus der fachlichen Perspektivierung von Reflexion und Reflexivität ergeben sich für die Praxis und Forschung der fremdsprachendidaktischen Lehrer*innenbildung etliche Anforderungen, die den spezifischen Gegenstand der Reflexion betreffen: Das Lehrer*innenhandeln als solches, das sich in mehrsprachigen und plurikulturellen Lern-Lehr-Kontexten vollzieht und in bildungspolitische Rahmen und (global)gesellschaftliche Diskurse eingebettet ist.
Der Sammelband vereinigt neben der Einleitung acht Beiträge, die in den Didaktiken des Englischen, der romanischen Sprachen und des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache verortet sind und eine reflexive Fremdsprachenlehrer*innenbildung als Thema haben. In der Einleitung führen die Herausgeber des Sammelbandes in die wichtigsten Fragen und Erkenntnisse des allgemeinpädagogisch dominierten Diskurses und zeigen in aller Kürze die besagte Problematik, die Herausforderungen und Anforderungen einer fremdsprachendidaktischen Perspektivierung und Erforschung von Reflexion auf.
Dagmar Abendroth-Timmer vertritt den (berufs)biografischen Ansatz, wobei sie diesen als „eine ganzheitliche Folie“ (S. 26) für die Entwicklung professioneller Handlungskompetenzen von Lehrer*innen versteht, und stellt vier Modelle (im Abstract jedoch drei angegeben) vor: Das Modell zur Definition und Rahmung von Reflexion, das Modell individueller Reflexionsverläufe, das Modell der Fachspezifik von Reflexion und das Modell (berufs-)biographischer Entwicklungslinien, welche theoretisch und zum Teil empirisch fundiert sind. Als wichtige Elemente der fremdsprachendidaktischen Reflexionskompetenz hebt die Autorin „die Sprach-(lern-)biographien der Lehrenden, ihre über Mobilitätserfahrungen entwickelten sozio-emotionalen Bezüge zur Sprache sowie allgemeine Aspekte beruflicher Identität und der Unterrichtsgestaltung“ (S. 25) hervor. Abendroth-Timmer zeigt auf, wie „vielschichtig und multidimensional Reflexionsprozesse sind und wie sie zwischen Momenten praktischer Erfahrung und theoretischer Erkenntnis oszillieren“ (S. 30). Als Ziel der reflexiven Lehrer*inennbildung sieht sie die Entwicklung professioneller Flexibilität an: „Professionelle Flexibilität ist dann gegeben, wenn Fremdsprachenlehrer*innen berufliche Handlungsmuster immer wieder kontextspezifisch hinterfragen und neugestalten wollen und können“ (S. 36). Diese umfasst neben der kognitiven auch die emotionale und die leibliche Ebene, was die Argumentation für den (berufs-)biografischen Zugang zur Förderung und Erforschung der Reflexionskompetenz unterstützt. Gleichzeitig gibt Abendroth-Timmer zu bedenken, dass die Reflexion allein nicht zwangsläufig eine Handlungsveränderung mit sich bringt.
Birgit Schädlich setzt sich mit dem Thema Reflexion und Fachlichkeit anhand der FRIQIA-Studie (Fremdsprachendidaktische Reflexion als Interimsdidaktik. Eine qualitative Inhaltsanalyse zum Fachpraktikum Französisch) auseinander und fokussiert dabei insbesondere den forschungsmethodologischen Zugang. Indem sie zwischen explizierenden und impliziten Wissenselementen differenziert und die Eignung der Inhaltsanalyse zur Erforschung von Reflexion bei angehenden Lehrer*innen im Nachhinein hinterfragt, zeigt sie auf, wie die in der fremdsprachendidaktischen Forschung zur reflexiven Fachlichkeit die Gegenstandsangemessenheit reflektiert wird. Sie plädiert für den Einsatz rekonstruktiver Forschungsansätze.
Mit der Differenzierung von impliziten und expliziten Wissensbeständen befasst sich auch der Beitrag von David Gerlach. Er hebt die hohe Komplexität der Reflexion und weist auf tieferliegende Prozesse und Interdependenzen hin. Gerlach warnt vor einem technologischen Verstehen der Reflexion und Reflexivität, das die unmittelbare Beeinflussung, Messung und Auswirkung aufs Handeln bedeutet. Zentral sind für ihn zwei Fragen: Worüber wird reflektiert und wie wird reflektiert? In Bezug auf Wissensformen hebt er die Unterscheidung zwischen einem expliziten, d.h. bewussten und unmittelbar verfügbaren, und einem impliziten Wissen hervor, wobei das letztere „einen bedeutsamen Einfluss auf unser Handeln“ hat (S. 69) und in der Ausbildung und Forschung stärker als bis jetzt berücksichtigt werden sollte. „[U]m sich dem impliziten Wissen mittels eines Sprechens über das Handeln zu nähern“ (S. 72), führt Gerlach den Begriff „implizite Reflexion“ ein und versteht darunter „eine Idee bzw. ein methodologischer Rahmen für Reflexion und Reflexionsprozesse, um sich dem impliziten Wissen mittels eines Sprechens über das Handeln zu nähern“ (S. 72). Die implizite Reflexion, deren Ziel es ist, „(angehenden) Lehrer*innen dabei zu helfen, sich dieser unterschwelligen Überzeugungen, also des impliziten Wissens, zunächst einmal bewusst zu werden“ (72), wird ermöglicht vor allem durch soziale Arbeitsformen (Gespräche mit Peers, Kolleg*innen und Fortbildner*innen) und narrative Textsorten (Erzählungen, Beschreibungen). Als methodische Wege schlägt Gerlach Erfahrungsexperimente, Reflexionsportfolios und Reflexionsgespräche mit Expert*innen vor. Auch aufgenommene Selbstreflexionen mit einer anschließenden Besprechung mit Kolleg*innen können ein mögliches Verfahren zur Bewusstwerdung impliziter Wissensbestände sein.
Georgia Gödecke geht in ihrem Beitrag, dem die Erkenntnisse aus ihrem abgeschlossenen Dissertationsprojekt zu Grunde liegen, auf e-Portfolios als Lernszenario für Auf- und Ausbau von Reflexivität ein und fokussiert ein fachspezifisches e-portfoliobezogenes Reflexionsmodell. Dabei ist es ihr wichtig, „neben allgemeindidaktischen und -pädagogischen Aspekten auch fachspezifische Anteile nicht aus dem Blick zu verlieren“ (S. 87). Mittels einer evaluativen qualitativen Inhaltsanalyse wurden Reflexionstexte und Reflexionsgespräche von Studierenden im Hinblick auf die Tiefe der Teilprozesse ausgewertet. Dabei stellt Gödecke den Zusammenhang zwischen einer fachspezifischen Reflexion und der Fachsprachlichkeit fest.
Svenja Haberland stellt die Erkenntnisse aus einer nach dem Design-Research konzipierten Studie vor und geht insbesondere auf das Ausgangsdesign und das erste Designexperiment ein. Nach der Darbietung des inhaltlichen Aufbaus der Intervention mit Fokus auf Mehrsprachigkeit(sdidaktik) geht sie auf zwei Reflexionsaufgaben ein, die sich in die Reflexion aus der Schüler*innenperspektive und als der (künftigen) Lehrperson ausdifferenzieren. Sie analysiert exemplarisch zwei schriftliche Bearbeitungen von Reflexionsaufgaben und stellt dabei Veränderungen in Bezug auf die fachliche Durchdringung der mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansätze fest. In der zunehmenden Bereitschaft und Offenheit gegenüber der schulischen Mehrsprachigkeit erkennt sie Potenziale für die Optimierung und weitere Erprobung der hochschuldidaktischen Intervention.
Anhand des laufenden Dissertationsprojekts nimmt Tom Rudolph Unterrichtsvideografie und deren Potenzial für reflexive Momente in den Blick. Er geht der Frage nach, inwiefern ein Fremdunterrichtsvideo samt seiner inhaltlichen und medialen Beschaffenheit sowie den darauf bezogenen Aufgaben ein reflexionsförderliches Lehr-Lern-Format darstellt. Mit Fokus auf den Kategorien Theorie-Praxis-Bezug und Beliefs-Praxis-Bezug differenziert er einerseits zwischen dem deklarativen Wissen und Beliefs sowie andererseits deren jeweils expliziter und impliziter Form. Anhand eines deduktiv kodierten Reflexionstextes zeigt er auf, dass die Analyse des Fremdunterrichtsvideos eher „einperspektivisch-linear“ (Schädlich 2019: 147) erfolgte (S. 138). Dies nutzt er für die Reflexion der gewählten Forschungsmethodologie.
Tanja Fohr rückt berufsbezogene Überzeugungen angehender Deutsch als Zweit- und Fremdsprachenlehrkräfte ins Zentrum ihres Beitrags und fokussiert „Lehrphilosophien als Instrument zur Bewusstmachung der Vorstellungen von und Überzeugungen zur Rolle einer zukünftigen Lehrkraft für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache“ (S. 144). Konkret geht sie der Frage nach, „welche fachspezifischen und allgemeinpädagogischen Einstellungen eine angehende Lehrkraft für DaFZ vertritt“ (S. 144). 17 Lehrphilosophien wurden mit Hilfe eines Analyserahmens beschrieben und analysiert. Dabei lassen sich Unterschiede in den Reflexionen zwischen Studierenden mit und ohne Praxiserfahrung feststellen. Die Rekonstruktion berufsbezogener Überzeugungen, so Fohr, „kann dabei helfen, beispielsweise diffuse Beziehungen zu verstehen, die mit dem Beruf verbundenen Entscheidungszwänge und Verpflichtungen und gewisse Unwägbarkeiten zu begreifen und ihr Handlungsspektrum im Vorfeld auszuloten“ (S. 160).
Benjamin Inal gewährt in seinem Beitrag Einblick ins Forschungsprojekt „SprechenHoch3“, welches das Ziel hat, „Reflexionsprozesse auf einen spezifischen, fremdsprachendidaktisch zentralen Aspekt hin auszurichten: die Mündlichkeit bzw. das Sprechen im Fremdsprachenunterricht“ (S. 164). Er beleuchtet das Theoriewissen über Mündlichkeit und widmet sich dem Fragebogen als Reflexionsinstrument. Es bleibt offen, wie der Fragebogen zum Einsatz kommt und zu welchem Handeln Handlungsoptionen formuliert werden sollen.
Insgesamt werden im Sammelband verschiedene Modellierungen fachspezifischer Reflexion sowie verschiedene erprobte Verfahren zu deren Förderung und Erfassung präsentiert. Diese, werden im Sinne der reflexiven Lehrer*innenbildung – wenn auch dem unterschiedlichen Stand im Forschungsprozess geschuldet im unterschiedlichen Maße – expliziert und einer Reflexion unterzogen.
Trotz dieser Fülle an Impulsen und Erkenntnissen bleibt jedoch die Frage offen, wann wir von Erzählen, Beschreiben, Problemlösen oder Analysieren und wann von Reflektieren sprechen sollen, damit der sich herauskristallisierende fachspezifische Begriff nicht seine definitorischen Konturen verliert (vgl. Aufschnaiter von/Fraij/Kost 2019). Ferner kommen die Fragen auf, mit welchem Verfahren welche Reflexions(teil)prozesse gefördert werden können und ob es vielleicht auch „reflexionsresistente[…] Them[en]“ (Ehlich 2006: 50) in der fremdsprachendidaktischen Ausbildung gibt.
Insgesamt präsentiert der Sammelband neben den bereits etablierten Erkenntnissen auch vielversprechende Forschungsprojekte und zeigt, wie notwendig eine weitere fremdsprachendidaktische Diskussion zum Thema fachspezifische Reflexionskompetenz ist. Er richtet sich vornehmlich an Wissenschaftler*innen, die zu Reflexion in der Professionalisierung von Fremdsprachenlehrer*innen forschen, aber auch an Personen, die an der Lehrer*innenbildung beteiligt sind, und bietet zahlreiche Impulse zur Förderung und Erfassung von Reflexivität, die von bereits bewährten Verfahren wie Portfolios oder Reflexionsaufgaben über biografisch-rekonstruktive Zugänge bis hin zu innovativen Methoden wie Smartphone-Aufnahmen von Selbstreflexionen reichen.
Literatur
Aufschnaiter von, Claudia; Fraij, Amina & Kost, Daniel (2019): Reflexion und Reflexivität in der Lehrerbildung. Herausforderung Lehrer*innenbildung – Zeitschrift zur Konzeption, Gestaltung und Diskussion 2: 1, 144–159. https://www.herausforderung-lehrerinnenbildung.de/index.php/hlz/article/view/2439/2441 (20.12.2022).
Ehlich, Konrad (2006): Die Vertreibung der Kultur aus der Sprache. 13 kurze Reflexionen zu einem reflexionsresistenten Thema. Zeitschrift für germanistische Linguistik 34: 1–2, 50–63.
Gerlach, David (2020): Zur Professionalität der Professionalisierenden: Was machen Lehrerbildner*innen im fremdsprachendidaktischen Vorbereitungsdienst? Tübingen: Narr Francke Attempto.
Gödecke, Georgia (2020): Gestaltung eines e-Portfolios in der Fremdsprachenlehrkräfteausbildung zur Förderung fachspezifischer Reflexionskompetenz – eine empirische Studie. [Studien zur Fremdsprachendidaktik und Spracherwerbsforschung]. Trier: Wissenschaftlicher Verlag.
Klempin, Christiane (2019): Reflexionskompetenz von Englischlehramtsstudierenden im Lehr-Lern-Labor-Seminar. Eine Interventionsstudie zur Förderung und Messung. Stuttgart: Metzler.
Schädlich, Birgit (2019): Fachdidaktische reflexive Handlungskompetenz als Interimsdidaktik. Eine Qualitative Inhaltsanalyse zum Fachpraktikum Französisch. Stuttgart: Metzler.
Lesya Skintey, Universität Koblenz