Der Krieg in der Ukraine und die damit einhergehenden Fluchtbewegungen stellen Schulen in Deutschland aktuell vor große Herausforderungen. Nicht zuletzt hat die Beschulung geflüchteter Schüler*innen die Frage nach einer adäquaten Sprachbildung mehrsprachiger Schüler*innen erneut aufgeworfen. Die Diskussionen verdeutlichen, dass bestehende Sprachbildungsmodelle im Kontext der Zweitsprachenvermittlung umstritten sind. Insbesondere Translanguaging als sprachwissenschaftliches und didaktisches Konzept (vgl. u.a. García/Wei 2014; Panagiotopoulou/Rosen/Strzykala 2020) hat in den letzten beiden Jahrzehnten dazu beigetragen, dass diese zunehmend infrage gestellt werden. Dabei wird vor allem die Vorstellung von Sprachen als voneinander abgrenzbare Systeme, die dementsprechend neben- und hintereinander zu lernen seien, sowie die (alleinige) Fokussierung auf die Zweitsprache problematisiert. Stattdessen werden mehrsprachige Sprachaneignungsprozesse und -handlungspraxen in den Mittelpunkt von Sprachbildung gerückt. Das Studienbuch Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit von Doreen Bryant und Tanja Rinker folgt in gewissen Punkten diesem Perspektivenwechsel, wenn es sich sprachkontrastiv den Deutschaneignungsprozessen annähert und auf diese Weise der Mehrsprachigkeit von Deutschlernenden Rechnung tragen möchte.
Die Monographie ist in zwei Teile gegliedert: Nach einem knappen Überblick (Kapitel 0) über verschiedene Sprachaneignungsszenarien, der sich der lebensweltlichen Mannigfaltigkeit von Spracherwerbsprozessen und ihrer Erforschung annähert, fokussiert der erste Teil auf sieben Sprachbereiche. Dabei werden ausgehend von einem Vergleich des Deutschen mit anderen Sprachen potentiell schwer zu erwerbende Aspekte des Deutschen linguistisch geklärt. Der zweite Teil ist forschungsorientiert. Für sechs Sprachbereiche werden anhand ausgewählter empirischer Studien insbesondere Unterschiede zwischen Erst- und Zweitspracherwerb dargestellt.
In Kapitel 0 wird zunächst mittels dreier Sprachporträts die Vielfalt mehrsprachiger Erwerbsverläufe versinnbildlicht. Zugleich findet eine Annäherung an die Forschungsperspektive statt, die dem Studienbuch zugrunde liegt. Der sprachsystematische Zugang sowie die Orientierung an einem monolingualen Spracherwerb des Deutschen als Referenznorm werden offengelegt. Darüber hinaus werden vor allem individuelle, in Ansätzen aber auch institutionelle und gesamtgesellschaftliche Einflussfaktoren diskutiert. In diesem Zusammenhang werden die Annahme einer Kritischen Periode sowie die Unterteilung von Zweitspracherwerbstypen, die primär nach dem Erwerbsalter unterschieden werden, auch kritisch betrachtet.
Der erste Teil bietet eine Einführung in die folgenden sieben linguistischen Beschreibungsebenen: 1) Prosodische und lautliche Aspekte, 2) Wortschreibung, 3) Wortbildung, 4) Flexion, 5) Wortstellung, 6) Lokalisierungsausdrücke und 7) Präposition-Artikel-Verschmelzung. Bei dem sprachvergleichenden Zugang auf diese Ebenen besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit. Stattdessen werden durch die Kontrastierung des Deutschen mit anderen Sprachen Spezifika des Deutschen herausgearbeitet. Davon ausgehend werden diejenigen Phänomene des Deutschen abgeleitet, die für bestimmte Sprecher*innen anderer Sprachen potentiell schwer zu erwerben sein können. So wird beispielsweise mit dem Lokalisierungssystem einem Bereich des Deutschen ein ganzes Kapitel (Kapitel 6) gewidmet, der im monolingualen Deutschunterricht nur am Rande eine Rolle spielt, der aber selbst bei einem frühen Zweitspracherwerb für mehrsprachige Deutschlernende herausfordernd sein kann – unter anderem auch aufgrund von Unterschieden zu den anderen den Deutschlernenden zur Verfügung stehenden Sprachen. Jedes Kapitel enthält zudem Vorschläge für die Praxis. Es finden sich Hinweise zur didaktischen Reduktion (z.B. bei der Auseinandersetzung mit dem Pluralsystem), zur unterrichtlichen Progression (z.B. bei der Behandlung der Kasus), aber auch zur konkreten Umsetzung (z.B. die Arbeit mit dem topologischen Satzmodell bei der Thematisierung der Wortstellung).
Der zweite Teil ist im Vergleich zum ersten stärker lerner*innenorientiert. Für sechs Lerngegenstände (1) Phonologie, 2) Wortschatz, 3) Genus, 4) Plural, 5) Wortstellung, 6) Lokalisierungsausdrücke) werden nach einer knappen Darlegung von Hintergrundinformationen, die Aneignungsprozesse im monolingualen Deutscherwerb und im Anschluss ausführlicher im zweisprachigen Erwerb bzw. Zweitspracherwerb besprochen. Die Ausführungen sind dabei empiriebasiert. Bei den Darstellungen zum Erstspracherwerb dienen die angeführten Studien primär als Belege, beispielsweise für die Abfolge beim Erwerb bestimmter sprachlicher Phänomene, für Abweichungstendenzen und/oder für die Rolle bestimmter Einflussfaktoren. Zudem werden auch verschiedene Erhebungsmethoden knapp thematisiert. Beim Zweitspracherwerb findet hingegen zusätzlich noch eine kritische Auseinandersetzung mit ausgewählten empirischen Studien statt. Diese werden sowohl im Hinblick auf die zugrundeliegenden Fragestellungen und Hypothesen, auf die Stichproben, auf das methodische Vorgehen als auch auf die Ergebnisse diskutiert. Bei den besprochenen Studien handelt es sich um Untersuchungen, die in der Regel unter Laborbedingungen und häufig mit (teil-)standardisierten Erhebungsmethoden durchgeführt wurden. Bei der Auswahl der Studien bleiben die Autorinnen ihrer systemlinguistischen Perspektive treu, die Sprachen als klar voneinander trennbare Entitäten fasst. Es werden keine Studien herangezogen, die translingualen bzw. quersprachigen Praktiken nachgehen. Die präsentierten Studien bieten nichtsdestotrotz Einblicke in verschiedene Verfahren zur Erhebung linguistischer Teilkompetenzen sowie einen Überblick über empirisch erforschte Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen erstsprachlichen und bilingualen bzw. Zweitspracherwerb, zum Teil auch über Unterschiede zwischen Deutschlernenden mit unterschiedlichen Erstsprachen.
Das Werk ist für einen breiten Personenkreis geeignet: Forschende erhalten mittels der detailliert besprochenen Studien einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand, der auch Forschungsdesiderate offenlegt. (Künftig) In der Praxis tätige Personen können sich hingegen linguistische Grundlagen des Deutschen aneignen, die für eine Sprachbildung essentiell sind. Die Gegenüberstellung von Erst- und Zweitspracherwerb sensibilisiert dabei dafür, Abweichungen von standardsprachlichen Normen nicht lediglich als Defizite, sondern auch als lernförderliche Lernstrategien auf dem Weg zur Aneignung des Deutschen wahrzunehmen. Die Aufgaben, die jedem (Unter-)Kapitel voran- und nachgestellt sind, regen in diesem Zusammenhang nicht nur dazu an, das Gelesene zu rekapitulieren, zu reflektieren und zu vertiefen, sondern auch die neuen Inhalte mit eigenem Vorwissen in Bezug zu setzen. Die zahlreichen Hinweise für die institutionelle Vermittlung grammatischer Phänomene können darüber hinaus eine erste Orientierung für die Gestaltung der (Unterrichts-)Praxis darstellen.
Wünschenswert wäre eine Reflexion darüber gewesen, dass Deutschlernen und -sprechen mehr ist als der Erwerb linguistischer Fähigkeiten. Insbesondere fehlt eine gesamtgesellschaftliche Einbettung von Sprachaneignungsprozessen, mit der auch die Frage in den Blick gerät, wer sich unter welchen Bedingungen mit welchen sprachlichen Kompetenzen als Deutschsprecher*in (nicht) positionieren kann. Ausgehend von einer soziolinguistischen Perspektive hätten auf diese Weise sprachdidaktisch relevante Exklusions- und Inklusionsmechanismen fokussiert werden können. Auch wäre damit möglicherweise ein kritischerer Umgang mit Zuschreibungen wie „deutsche Kinder“, „türkische Kinder“ oder mit dem Begriff „Herkunftssprache“ erfolgt. Mit diesen werden Personen nicht nur auf eine ‚Herkunft‘, sondern auch auf eine Sprache festlegt und Hierarchisierungen ignoriert, die mit Differenzierungen von ‚Erstsprache – Zweitsprache‘, ‚deutsch – nicht-deutsch‘ einhergehen. Nicht zuletzt ist die im Studienbuch dominante monolinguale Perspektive auf die Mehrsprachigkeit problematisch, die Zweisprachigkeit als Summe aus zwei Sprachen konzeptualisiert und zwei- bzw. mehrsprachigen Personen an monolingualen Maßstäben misst. Wohl auch deswegen wird ein sprachkontrastives Arbeiten primär als etwas thematisiert, das vor und nicht im Unterricht passiert. Die Potentiale eines sprachvergleichenden und mehrsprachigen Zugangs im Rahmen institutioneller Sprachbildung bleiben über weite Teile des Buches unberücksichtigt.
Diese Kritik möchte nicht die Relevanz der in diesem Buch zusammengetragenen Inhalte infrage stellen. Auch eine Sprachbildung, die an einem dynamischen Konzept von Mehrsprachigkeit und einer gesamtgesellschaftlichen Verortung interessiert ist, kommt um eine linguistische Fundierung nicht herum. Insbesondere der erste Teil des Studienbuchs stellt eine geeignete Grundlage dar, von der aus auch eine solche Sprachbildung gedacht werden kann.
Literatur
García, Ofelia & Wei, Li (2014): Translanguaging: Language, Bilingualism and Education. New York: Pelgrave.
Panagiotopoulou, Julie A.; Rosen, Lisa & Strzykala, Jenna (Hrsg.) (2020): Inclusion, Education and Translanguaging. Wiesbaden: Springer VS.
Vesna Bjegač, Deutschdidaktik/DaZ, Ludwig-Maximilians-Universität München