Kurzrezension
Dieses Werk ist eine großartige Publikation zu den beiden oben äußerst umfassenden Komplexen Mehrsprachigkeit und Spracherwerb, und damit ist bereits auch schon der größte Kritikpunkt daran genannt: Auf 168 Seiten zwei solchermaßen komplexe Wissenschaftsgebiete abhandeln zu wollen, ist ein gewaltiges Unterfangen. Das ist in diesem Buch eigentlich gut gelungen, aber die Reise durch die Bereiche Mehrsprachigkeit, Sprache: Was wird erworben?, Szenarien des Spracherwerbs, Literacy, Mehrsprachige Ressourcen im Gespräch, Schulpflicht für Sprachen! ist dermaßen komplex und dicht, dass das Buch in erster Linie für Menschen geeignet und interessant ist, die sich in den meisten Bereichen bereits gut auskennen. Jedes Kapitel hätte es verdient, zu einem eigenen Buch zu werden.
Wichtig ist m.E. das erste Kapitel, in dem die Inhalte dieses Buches zunächst definitorisch festgelegt werden, weil beide Hauptbegriffe (Mehrsprachigkeit und Spracherwerb) in sich natürlich so wenig definiert sind, dass man sie ohne genaue Beschreibung nicht verwenden kann und sollte. Ich bestellte es vor dem Hintergrund meiner eigenen Definition von Mehrsprachigkeit, nämlich im Sinne vom Lernen mehrerer Fremdsprachen. In diesem Buch geht es aber eigentlich hauptsächlich um mehrsprachige Lernende (also solche mit mehr als einer einzigen Erstsprache) und um einen allgemeinen Bereich des L2-Lernens (unter dem alle weiteren Sprachen gefasst sind und nicht weiter differenziert werden, wie ich es tun würde).
In den Teilen Spracherwerb geht es im Wesentlichen um das ungesteuerte und gesteuerte Lernen/Erwerben von Sprachen. Das sind zwar eingeführte Begriffe in der Fremdsprachendidaktik, aber sie sind dennoch falsch. Wenn es ein durch außen gesteuertes oder steuerbares Sprachenlernen gäbe, dann müssten am Ende einer Lernphase ja alle in etwa die gleichen oder wenigstens sehr ähnliche Ergebnisse vorweisen. Das ist aber ja keineswegs der Fall, wenn man sich am Ende eines Schuljahres die Leistungen der verschiedenen Lernenden ansieht. Gesteuert ist sicherlich der Input, nicht aber der Erwerb. Das können wir schon daran erkennen, dass manche Phänomene nun einmal nicht gelernt werden, wenn das lernende Gehirn noch nicht dazu bereit und ausreichend entwickelt ist; hier erinnern wir uns an die Morphem-Studien von Dulay und Burt, schon aus den 1970er Jahren (1978a und b). Natürlich können wir über den (geplanten, gesteuerten) Input Aspekte wie die Lexik steuern, aber ganz sicher nicht Morphologie oder Syntax oder komplexe semantische Bereiche.
Selbstverständlich werden in diesem wertvollen Buch absolut relevante Sachverhalte aus den beiden großen Wissenschaftsbereichen abgehandelt, aber durch die Fülle an wichtigen Sachverhalten kommen die einzelnen oft sehr kurz. Man möchte mehr zum Mixing im Diskurs wissen, aber kaum ist es angesprochen, geht es schon wieder weiter mit dem nächsten Kapitel.
Bildungs- und gesellschaftspolitisch hochwichtig ist m.E. auch das letzte Kapitel „Schulpflicht für Sprachen!“, indem daran erinnert wird, dass Sprache ja nicht nur ein bloßes Mittel der Kommunikation ist, sondern eben viel mehr: Sozialisation, Diskurs, Mittel und Gegenstand zu allen anderen relevanten Themen des Lebens, die kommuniziert werden. Hier eine Bewusstheit (nicht Bewusstsein) in Bezug auf die Umgebungssprache, aber auch alle anderen Sprachen (egal ob Herkunfts-, Fremd-, Zweitsprachen oder Sozio-, Dialekte oder andere Lekte und Varietäten) sicherzustellen, ist eine der vornehmsten Aufgaben von Bildungseinrichtungen. Alle Versuche oder tatsächliche Handlungen, Sprachen in Stundentafeln zu verringern, sind nicht besonders klug in dem angeblichen Plan, SuS in der Schule anzubieten, zu gesellschaftlich mündigen Menschen von morgen zu werden. Ausführungen zum Mixing und gegen Einseitigkeit sind daher ein wichtiges Signal, so dass man dem Buch insbesondere Lesende aus der Politik bzw. aus der Gesellschaft wünschen möge, nicht zuletzt Eltern, die ihre Kinder auf Englisch, wenn das eine familiäre Fremdsprache ist, erziehen, weil diese nicht nur ihren Kindern viel Sprache und Diskurs vorenthalten, sondern auch sich selbst (vgl. Böttger 2016: 187).
Literatur
Dulay, Heidi & Burt, Marina (1978a): Some remarks on creativity in language acquisition. In: Ritchie, William (ed.): Second Language Acquisition and Research. Issues and Implications. New York: Academic Press, 65–89.
Dulay, Heidi & Burt, Marina (1978b): From research to method in bilingual education. In: Alatis, James E. (ed.): Georgetown University Round Table on Languages and Linguistics: International Dimensions of Bilingual Education. Washington D.C.: Georgetown University Press, 551–575.
Böttger, Heiner (2016): Neurodidaktik des frühen Sprachenlernens: Wo die Sprache zuhause ist. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Britta Hufeisen, Technische Universität Darmstadt