1 Einführung
Die Jahre 2020–2022 waren von der COVID-19-Pandemie und den Coronaschutzmaßnahmen geprägt. Für Jugendliche bedeutete dies weniger Unterricht in der Schule vor Ort und mehr Zeit im Internet. Im Jahr 2020 verbrachten 10- bis 15-Jährige in Deutschland 59% ihrer Zeit online, 2019 waren es noch 8% (vgl. Destatis 2020). Durch die strikten Kontaktbeschränkungen standen für analoge Sozialkontakte oftmals nur Familienmitglieder zur Verfügung.
Über den Zeitraum von zwei Jahren (2021–2022) erhoben wir Daten zum Sprachgebrauch von drei Jugendlichen in Deutschland, die Russisch als ihre (oder eine ihrer) Familiensprache(n) beherrschen und verwenden. Durch die Interviews mit den Jugendlichen konnten wir nicht nur detaillierte Einblicke in ihr Gesamtsprachenrepertoire gewinnen, sondern – durch die Umstände bedingt – Unterschiede im Sprachgebrauch in den On- und Offline-Phasen untersuchen. Besonderen Wert legten wir auf die Perspektive der Jugendlichen, denn gerade diese gilt als kaum erforscht (vgl. Melo-Pfeifer 2015: 27).
Die leitende These für unser Forschungsprojekt lautet deswegen:
Die Kontaktbeschränkungen während der COVID-19-Pandemie führen dazu, dass Kinder und Jugendliche verstärkt ihre Familiensprache nutzen, da sie nur mit ihren Familien in Kontakt sein dürfen.
Andere Studien, die diese These in Bezug auf Vorschul- und Grundschulkinder untersuchten, konnten nachweisen, dass die Lockdowns die Verwendung der Herkunftssprache verstärkten (s. Li/Lin 2023; Banasik-Jemielniak/Lazar/Siemieniuk/Kondratowicz/Szczepankowska 2022; Santamaria/Torres/Tamargo 2022; Surrain 2022).
Die folgenden Forschungsfragen vertiefen die leitende These:
Wie viel Zeit verwenden die Jugendlichen mit Russisch on- und offline?
Für welche Tätigkeiten verwenden die Jugendlichen ihr Russisch on- und offline?
Welche Unterschiede lassen sich zwischen 2021 (Kontaktbeschränkung) und 2022 (keine Kontaktbeschränkung) feststellen?
2 Theoretische Grundlagen
2.1 Familiensprache(n) vs. Herkunftssprache(n)
Um das Phänomen der im Familienkreis gesprochenen Sprache zu beschreiben, werden neben dem im Alltag geläufigen Begriff Muttersprache in der Forschung unterschiedliche Termini verwendet. Beschreibt man die Erwerbsreihenfolge der Sprachen, so wird zwischen Erst- und Zweitsprache unterschieden. Um den soziopolitischen Status der Sprache zu beachten, verwendet man die Begriffe Mehrheits- und Minderheitensprache, je nach Anteil der Sprecher:innen in der jeweiligen Gesellschaft (vgl. Montrul 2015). Der deutsche Begriff Herkunftssprache ist als Übersetzung des englischen Begriffs heritage language(s) entstanden und bezeichnet die durch familiäre Migrationsgeschichte geprägten Sprachen, die Familien aufbewahren und nutzen (vgl. Brehmer/Mehlhorn 2018: 27). Der englische Begriff schließt außerdem Sprecher:innen indigener Sprachen sowie nationaler Minderheitssprachen mit ein (vgl. Montrul 2015: 15).
Der Terminus Familiensprache(n) fokussiert die in der Familie gesprochene Varietät einer Sprache; diese entspricht nicht immer der kodifizierten Varietät der Herkunftssprache (vgl. Brehmer/Mehlhorn 2018: 23). Der Begriff Familiensprache beinhaltet auch Sprachmischungen (ebd.; vgl. García/Lin 2016). Da unser Beitrag die Rolle der Herkunftssprache im Kontext des Gesamtsprach(en)repertoires untersucht, verwenden wir die Begriffe Familiensprache und Herkunftssprache synonym.
2.2 Russisch in Deutschland
Russisch hat als eine der meistgesprochenen Familiensprachen Deutschlands bereits Ende der 1990er Jahre das Interesse der Forschung geweckt. Seit den 1990ern erfolgte die Einwanderung russischsprachiger Personen nach Deutschland in mehreren Wellen (vgl. Dietz/Roll 2017), wobei insbesondere die vierte Welle der Emigration aus dem postsowjetischen Raum (seit 1991) eine große Diversität aufweist (vgl. Hamann et al. 2020: 166). Eingewandert wurde aus unterschiedlichen Ländern des postsowjetischen Raums. Das brachte neben Russisch viele weitere nationale Sprachen und Sprachvarietäten nach Deutschland (vgl. Protassova 2018: 147). Diese – auch soziolinguistisch gesehen – hohe Diversität führte dazu, dass der Anteil der Russischsprecher:innen in Deutschland lange schwer abschätzbar war. Die meisten Studien beziehen sich auf migrationsstatistische Daten (vgl. Anstatt 2011: 103; Dietz/Roll 2017: 103). Im Rahmen des Mikrozensus 2017 und 2021 wurden Daten zu den Herkunftssprachen in Deutschland erhoben. Diese zeigen, dass Russisch weiterhin den zweiten Platz unter den meist gesprochenen Migrationssprachen einnahm (vgl. Adler 2019; Destatis 2022: 505).
Dieser hohe Anteil an Russischsprachigen spiegelt sich in der gut ausgebauten Infrastruktur wider: Neben den zahlreichen Massenmedien oder russischen Läden werden viele weitere Dienstleistungen auf Russisch und für Russischsprachige angeboten (vgl. Zybatow 2017: 269). Diese Delokalisierung (vgl. Melo-Pfeifer 2015), die Sprachverwendung außerhalb der Kernfamilie, hat für die Stärkung der Familiensprache viel Potenzial. Auch werden seit den späten 1990er-Jahren russischsprachige Bildungsangebote gegründet, in größeren Städten auch bilinguale Kindergärten und Schulen (vgl. Meng/Protassova 2017: 191). Der herkunftssprachliche Unterricht an Schulen sowie russischsprachige Bildungs- und Freizeitangebote in Vereinen (z.B. Sport, Musik, Kunst) unterstützen den Erwerb des Russischen (vgl. Brehmer/Mehlhorn 2018a; Kreß/Roeder 2022).
In der Forschung zu Russischsprachigen werden die Auswirkungen von Sprachkontakt und Sprachwandel im Hinblick auf Erwerb und Attrition bestimmter linguistischer Kategorien untersucht (z.B. Anstatt 2011; Meng/Protassova 2017). Dabei spielen die Quantität wie die Qualität des sprachlichen Inputs eine große Rolle (vgl. Brehmer/Mehlhorn 2015). Soziolinguistische Studien untersuchen extralinguistische Faktoren, die den Sprachgebrauch prägen: Zeitpunkt der Migration, Reisen ins Herkunftsland, HSU (vgl. Brehmer/Mehlhorn 2018), Selbstkonzept, Aufenthaltsdauer, Spracheinstellungen, Sprachenpolitik („Family Language Policy“, vgl. Protassova 2018). Es wird auch die Bedeutung der russischen Herkunftssprache für die Identitätsbildung erforscht: Meng/Protassova zeigten die longitudinalen Veränderungen im Gebrauch des Deutschen und Russischen in den Familien. Die Russischkenntnisse von den Proband:innen werden nach 20 Jahren in Deutschland als fragmentär und unstabil charakterisiert, aber immer noch für die Kommunikation in der Familie ausreichend (vgl. Meng/Protassova 2017; Protassova 2018).
Die Entwicklung des sprachlichen Gesamtrepertoires wird in der Forschung dagegen selten thematisiert. Erst in letzter Zeit erscheinen Studien dazu, meistens aus Sicht der Fremdsprachendidaktik (vgl. Riehl/Woerfel/Barberio/Tasiopoulou 2018; Wildemann/Akbulut/Bien-Miller 2018). Auch wird in der letzten Zeit das didaktische Potenzial für die schulischen Fremdsprachen thematisiert (vgl. Lechner 2018). Dabei werden jedoch weitere Familiensprachen, der Gebrauch von weiteren (Fremd)Sprachen und Translanguaging nur am Rande berücksichtigt. Dies ist die Forschungslücke, zu deren Beantwortung unsere Studie einen Beitrag leistet.
2.3 Familiensprache(n) in der COVID-19-Pandemie
Studien zum Sprachgebrauch während der Corona-Schutzmaßnahmen konnten positive Effekte für die Familiensprache aufzeigen. Li & Lin (2022) untersuchten chinesischsprachige Familien in Kanada und ihre Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Chinesisch war für die Familien die dominante Sprache. Die Kinder trafen nur noch enge Familienmitglieder, die kein Englisch miteinander sprachen. Homeschooling war wegen des jungen Alters der Kinder (Kindergarten bis Grundschule) kaum vorhanden. Somit gab es keine Kontakte zu englischsprachigen Peers, die sie insbesondere im Schulgebäude treffen. Zu ähnlichen Schlüssen kamen Studien, die den Gebrauch des Spanischen bei Vorschul- und Grundschulkindern während des Lockdowns untersuchten (vgl. Santamaria et al. 2022; Surrain 2022).
Diese Annahme teilten auch wir zu Beginn unseres Forschungsprojekts. Doch wichtiger war für uns die Erweiterung der Forschung auf alle Sprachen der Jugendlichen, auf ihre gelebte Mehrsprachigkeit (vgl. Simpson/Cooke 2018 in Bezug auf ESOL, English as a Second Language).
2.4 Sprachen on- und offline
Seit Beginn des digitalen Zeitalters wurde das Internet in Bezug auf Kinder und Jugendliche erforscht, vor allem um das ‚Gefahrenpotenzial‘ durch die Digitalisierung abzuschätzen. Internet macht es möglich, mit der ganzen Welt zu kommunizieren. Schlobinski (2012: 16) fasst diese Veränderungen im digitalen Zeitalter folgendermaßen zusammen:
[I]m Kern führt diese Mediamorphose zu einem integrierten, allumfassenden Kommunikationssystem, einem Unimedium, in dem die reale, imaginär-fiktionale und virtuelle Welt aufeinander bezogen sind. Und das Unimedium globalisiert Sprache und Kommunikation in einer neuen Qualität.
Dieser „Prozess der Mediatisierung“, den Krotz schon 2007 beschrieb, wurde durch die Kontaktbeschränkungen während der COVID-19-Pandemie für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern auch auf eine der letzten analogen Bastionen ausgeweitet, als nämlich die Institution Schule nur noch digital fortgeführt wurde.
Was machen Jugendliche im Netz? Abgesehen von der Kommunikation mit Freund:innen sind die liebsten Freizeitbeschäftigungen online Musik hören, Videos oder Filme schauen sowie digitale Spiele spielen (vgl. JIM-Studie 2020). Für den Medienkonsum findet sich deswegen Youtube ganz oben auf der Liste der genutzten Internetangebote. Es zeigt sich, dass Jugendliche online mehrere Medien gleichzeitig geöffnet haben (z.B. ein Computerspiel, ein Musikvideo, mehrere Chats etc.).
In seiner Studie zur Umsetzung sprachrichtiger Normen online unterscheidet Beißwenger (2015: 8) je nach Schreibanlass und Schreibziel (nicht nur) im Netz zwei große Gruppen von Schreibproduktion: „textorientiert“ und „interaktionsorientiert“. Textorientiert entspricht der Vorstellung des ‚klassischen‘ Schreibens: einen kontextunabhängigen Text zu verfassen, der von Leser:innen aus sich selbst heraus verstanden werden kann. Dass die (schriftliche) digitale Interaktion, also das interaktionsorientierte Schreiben, für die Jugendlichen einen wichtigen Platz einnimmt, bestätigt auch die JIM-Studie (2020). Für eine schnelle Antwort schreiben sie lieber „unpersönlich“ (Liesem 2019: 340) auf Online-Kanälen statt mit jemandem ‚persönlich‘ zu sprechen.
Im Gegensatz zu vielen Studien zu Einzelsprachen und Jugendlichen im Internet gibt es für Herkunftssprache(n) kaum wissenschaftliche Studien. Eine davon untersucht die Rolle der Online-Medien beim Erwerb der Herkunftssprache am Beispiel des Koreanischen in den USA und sieht die sozialen Netzwerke als eine Chance, Koreanisch „authentisch“ (Lee 2006: 109) zu verwenden. Die qualitativen Korrelationen zwischen dem Online-Input und dem Grammatikerwerb untersuchen Polinsky und Scontras (2020). Androutsopoulos und Vold Lexander (2021) hingegen beschäftigen sich mit der Mehrsprachigkeit in sozialen Medien und zeigen, wie in Norwegen lebende Personen aus Somalia ihr gesamtes mehrsprachiges Repertoire online je nach Kommunikationsziel, Anlass und Personengruppe unterschiedlich nutzen. Unsere Studie ergänzt diese Forschungsbereiche, da wir die Jugendlichen in Bezug sowohl auf ihre Sprachverwendung online und offline als auch auf ihr gesamtes Sprachenrepertoire untersuchen.
3 Methodisches Vorgehen
Für diese Studie wurden drei männliche Jugendliche zu ihrem Sprachgebrauch online befragt. Diese hatten bereits an einer früheren Studie zum Schreiben in zwei Sprachen teilgenommen (vgl. Peschel/Sulimova 2021). Es wurden damals nur Jugendliche (im Alter von 10-12 Jahren) angeworben, die ihre Familiensprache aktiv nutzen und in dieser beschult wurden. Somit kann ihnen eine sehr hohe mündliche und schriftliche Kompetenz im Russischen und Deutschen bescheinigt werden. In dieser Hinsicht sind unsere drei Fälle „homogenisiert“ (Gehrmann/Hübner 1997: 378), haben also beim Merkmal ‚hohe‘ Sprach(en)kompetenz eine sehr ähnliche Ausprägung. Zusätzlich sind die Jugendlichen gleich alt (2022 waren sie 14 Jahre alt), besuchen alle ein Gymnasium (2022 waren sie in der 8. Klasse) und wohnen in einer mittelgroßen Stadt in Deutschland.
Anton stammt aus Armenien und zog im Januar 2019 mit seinen Schwestern und seiner Mutter nach Deutschland. Im Familienkreis spricht er Armenisch und Russisch. Russisch wird in vielen armenischen Familien als eine weitere Familiensprache verwendet. Laut der Volkszählung 2001 sprachen 85% der Bevölkerung Armeniens Russisch, 13% betrachteten Russisch als ihre Muttersprache (vgl. Zolyan 2013: 69). Antons schulische Fremdsprachen sind Englisch und Französisch, neben Deutsch als Zweitsprache (seit 2019).
Konstantin wächst in einer deutsch-russischsprachigen Familie auf und spricht Russisch und Deutsch zu Hause. Konstantins Vater ist monolingual deutschsprachig aufgewachsen, die Mutter ist mit ihren Eltern als Russlanddeutsche nach Deutschland gekommen. Miteinander sprechen die Eltern Deutsch, der Vater kann jedoch auf Russisch an Familiengesprächen teilnehmen. Konstantin lernt in der Schule Englisch und Latein.
Juris Eltern sind beide russischsprachig. Er hat sechs Jahre den russischen HSU besucht, seit Herbst 2019 nimmt er nicht mehr daran teil. Seine Eltern setzen den Russischunterricht zu Hause fort. Englisch lernt Juri seit der ersten Klasse und besucht zum Zeitpunkt der Interviews eine bilinguale Klasse. Latein ist seine zweite schulische Fremdsprache.
In der Forschung zu Herkunftssprachen werden Interviewdaten oft nur in einer der Sprachen erhoben, je nach Fokus der Studie, den involvierten Forscher:innen und ihren Sprachkenntnissen. In den von Banasik-Jemielniak et al. (2020) bzw. Ayten und Atanasoska (2020) durchgeführten Studien wurden die Herkunftssprecher:innen dabei zumeist in ihrer Erstsprache interviewt (Polnisch bzw. Türkisch). Meng und Protassova (2017) führten die Erhebungen in ihrer longitudinalen Studie in Russisch und Deutsch durch, um auch den Sprachstand in beiden Sprachen zu erheben. Sie konnten in den russischsprachigen Aussagen sprachliche Transfererscheinungen feststellen, die sie darauf zurückführten, dass die Proband:innen wussten, dass die Interviewerin deutsche Muttersprachlerin ist (vgl. Meng/Protassova 2017: 187). Auch in unserem Projekt werden beide Sprachen verwendet, allerdings mit dem Ziel, die mehrsprachige Realität der Jugendlichen von mehreren Seiten aufzugreifen, und zwar mittels semistrukturierter Leitfadeninterviews (vgl. Flick 1995). Diese wurden auf Russisch und auf Deutsch durchgeführt, und zwar immer von der Person, deren Erstsprache die jeweilige Interviewsprache war. Die erste Erhebung fand zwischen Mai und Juni 2021 statt, also im und kurz nach Ende des Lockdowns. Die zweite Erhebung wurde zwischen März und April 2022 durchgeführt, als alle Jugendlichen wieder die Schule regulär besuchten. Das Interview auf Deutsch wurde jeweils ca. drei Wochen nach dem russischsprachigen Interview geführt.
Zu jedem der Zeitpunkte wurden retrospektive Interviews (vgl. Riemer 2016: 167) geführt. Die Jugendlichen wurden befragt, 1) welche Aktivitäten sie 2) mit welchen Personen in den letzten vier Tagen 3) in welchen Sprachen und unter Einbezug welcher vier sprachlichen Fertigkeiten (Hören, Sprechen, Lesen, Schreiben) sowie 4) wie lange durchgeführt hatten. Dadurch entstand noch während des Interviews ein Protokoll des Tagesverlaufs zusätzlich zu den Audiodaten. Zur Strukturierung des Gesprächs füllten wir gemeinsam mit den Jugendlichen einen Stundenplan aus (von 0 bis 24 Uhr). Die Dauer der Interviews betrug jeweils zwischen 40 und 60 Minuten an jedem der Termine.
Durch die Kontaktbeschränkungen im Lockdown war es möglich, zwischen Online- und Offline-Tätigkeiten in Bezug auf die Sprachverwendung zu unterscheiden. Dadurch werden diese Lebensbereiche nicht getrennt betrachtet (wie in den oben genannten Publikationen), sondern als zeitlich-örtlich verbundene und sich gegenseitig und miteinander beeinflussende Bereiche untersucht.
Die Online-Interviews in der ersten Studie (vgl. Peschel/Sulimova 2021) hatten sich so gut bewährt, dass die Jugendlichen auch weiterhin bereit waren, uns „Feldzugang“ (Wolff 2013: 336) – im Sinne von Interviews in zwei Sprachen – zu gewähren. Überdies fiel es dadurch den beteiligten Müttern leicht, ihr Einverständnis zur Untersuchung zu geben (vgl. Rieker/Hartmann Schaelli/Jakob 2020), denn sie kannten das Untersuchungsprozedere schon aus der ersten Studie. Interviews als Datenerhebungsmethode ermöglichen es, mit den Jugendlichen den ganzen Tagesablauf zu besprechen. Weiterhin behalten die Jugendlichen die Kontrolle über die Informationen, die sie uns weitergeben möchten (vgl. Rieker et al 2020). Obwohl retrospektive Daten immer wieder für ihre Ungenauigkeit und/oder ihre mögliche Verfälschtheit kritisiert werden, zeigen Studien schon seit Jahrzehnten ihre hohe Reliabilität auf (z.B. Klein/Fischer-Kerli 2000). Für die qualitative Auswertung wurde die qualitative Inhaltsanalyse gewählt (vgl. Mayring 2010).
4 Ergebnisse der quantitativen Analyse
4.1 Korrelationsanalyse
Ein innovatives Ziel unserer Studie ist es, die Möglichkeiten einer statistischen Analyse von quantifizierten Daten – die aus qualitativen Interviews gewonnen wurden – zu zeigen. Wir konnten gemeinsam mit den Jugendlichen ihren Stundenplan detailliert ausfüllen. Dies ermöglicht eine Quantifizierung, d.h. wann welche Sprache genutzt wurde. Natürlich hat dies nicht dieselbe Messqualität wie eine Messung der Sprachverwendung durch Audio-/Videoaufnahmen, jedoch ist es eine technisch und methodisch leicht durchzuführende und „nicht-invasive“ Erhebungsmöglichkeit (vgl. Rieker et al. 2020).
Die Entscheidung, die Jugendlichen immer in zwei Sprachen zu interviewen, war von der Frage geleitet, ob dies beim Self-Reporting der Sprachverwendung einen systematischen und signifikanten Unterschied machen würde. Dazu fassten wir für jede Person den prozentualen Anteil der Wachzeit1 (der Schultage) für die Sprachen Deutsch, Englisch, Russisch und Armenisch zusammen. Es wurden deswegen nur Schultage betrachtet, da diese in den Aktivitäten individuell weniger schwanken als schulfreie Tage. Dabei zeigte sich ein Korrelationskoeffizient von 0,8354 (mit dem dazugehörigen p-Wert von 0,0026), was bedeutet, dass die Interviewsprache einen statistisch signifikanten korrelativen Einfluss auf die von den Jugendlichen angegebene Sprachverwendung hat.
Was sagt der Vergleich konkret? Der prozentuelle Wert der Familiensprache blieb recht konstant, unabhängig von der Interviewsprache. Jedoch – und das ist überraschend – wurde im russischsprachigen Interview die Sprache Deutsch um 12% öfter genannt als im deutschsprachigen Interview. Dafür wurde Englisch um 15% weniger oft angegeben.
Da die Interviews bisher immer in der Reihenfolge ‚zuerst Russisch, dann Deutsch‘ geführt wurden, kann natürlich auch diese Reihenfolge einen Einfluss auf die Verteilung haben. Diese Möglichkeit werden wir in unseren weiteren Untersuchungen berücksichtigen.
Auch die Berechnung des Korrelationskoeffizienten zwischen 2021 (Kontaktbeschränkungen wegen Covid-19 und 2022 (keine Kontaktbeschränkungen) zeigt eine sehr starke Korrelation, nämlich mit dem Korrelationskoeffizienten von 0,9597 und einem p-Wert von 0,00001. Im Gegensatz zu anderen Forschungsergebnissen zeigt sich bei uns jedoch kein großer Unterschied, d.h. Homeschooling und Kontaktbeschränkungen änderten wenig an der prozentuellen Verteilung der Sprachen.
Für diese drei Jugendlichen lässt sich zusammenfassen: Die Familiensprache(n) wird in ca. einem Viertel der Wachzeit verwendet, in erster Linie gesprochen und gehört, aber auch gelesen. Die Jugendlichen geben dabei nur sehr selten an, dass sie auf Russisch/Armenisch geschrieben hätten.
Was sich jedoch auf jeden Fall änderte, war die On- und Offlinezeit der Jugendlichen zwischen 2021 und 2022. In der Grafik ist die Gesamtzahl der On- und Offlinestunden aller drei Jugendlichen dargestellt, abhängig vom Interviewjahr. Die erhöhte Online-Zeit 2021 korrespondiert dabei mit einer höheren Verwendung des Englischen in dem Jahr.
4.2 Individuelle Unterschiede
Die Korrelation zeigt einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen Interviewsprache/Lockdown und der (durchschnittlichen) Sprach(en)verwendung. Diese Berechnung zeigt jedoch nicht, wie unterschiedlich die Jugendlichen in ihrem Sprachverhalten sind, welchen individuellen ‚sprachlichen Fingerabdruck‘ sie haben. Dazu wird hier der Durchschnitt der Schultage 2022 für jeden der drei Jugendlichen einzeln angeführt.
Für Juri ist die meistverwendete Sprache Englisch, die er auch mit seiner Schwester und seinen vielen Online-Freunden nutzt. Konstantin hingegen verwendet Englisch eigentlich nur in der Schule, fast 70% seiner Zeit gebraucht er Deutsch. Auch beim spät migrierten Anton sind 50% seiner Zeit mit Deutsch gefüllt. Da er zwei schulische Fremdsprachen lernt und in den Fächern Hausaufgaben bekommt, verbrauchen diese zwei Sprachen ein Fünftel seiner Zeit. Die Familiensprachen (Armenisch und Russisch) nehmen bei ihm durchschnittlich knappe 20% ein.
Genauso unterschiedlich sind die Jungen in ihrem Online-Verhalten. Online verbringt Juri mehr Zeit als die beiden anderen, durchschnittlich ein Drittel seiner Wachzeit. Konstantin und Anton leben einen stark offline geprägten Alltag, online sind sie weniger als 20% ihrer Wachzeit.
5 Qualitative Analyse
5.1 Russisch in der Familie
Das quantitativ sichtbar gewordene individuelle Sprachmuster hängt naturgemäß davon ab, mit wem und mit wie vielen Personen die Familiensprache verwendet wird, ob nur innerhalb und auch außerhalb der (Groß-)Familie (vgl. Melo-Pfeifer 2015: 28). Anton gebraucht mit der Familie Armenisch, oft mit Russisch gemischt. Bei Juri begrenzt sich die Verwendung des Russischen ausschließlich auf seine Eltern.2
Juri (RU2022): Das heißt, zu Hause spreche ich Russisch mit meinen Eltern. Ich spreche Deutsch in der Schule, ich spreche auch Englisch in der Schule, und mit meiner Schwester.3
Seine Großeltern wohnen in Russland, der Kontakt wird online gehalten, es bleibt allerdings unklar, wie intensiv dieser ist. Nichtsdestoweniger bestätigt seine Erfahrung, dass die Unmöglichkeit (wegen COVID-19) die Großfamilie zu besuchen bei einigen Familien zu einer geringeren Nutzung der Familiensprache(n) führte (vgl. Banasik-Jemelniak et al. 2021: 162–163). Im Jahr 2022 zeigt sich, dass Juri auch innerhalb der Kernfamilie wenig Russisch nutzt. Er ist in seiner Freizeit viel online und kommuniziert (analog) wenig mit den Eltern; mit seiner Schwester unterhält er sich auf Englisch.
Konstantin spricht Russisch mit der Mutter und Deutsch mit dem Vater, „bei der Oma und zu Hause sprechen wir Russisch“4 (RU2022). Er ist der einzige in unserer Stichprobe, dessen russischsprachige Großfamilie in der unmittelbaren Nähe wohnt. Feiertage und viele Nachmittage verbringt Konstantin im Kleingarten der Großeltern, wo ausschließlich Russisch gesprochen wird. Konstantin übernimmt in seiner Familie außerdem die Aufgabe, dem kleinen Bruder Bücher auf Russisch vorzulesen.
5.2 Schulische Peers und Freunde
Mit den schulischen Peers sprechen unsere Probanden vorwiegend Deutsch. Anton hatte 2021 russischsprachige Freunde in der Schule, doch nach seinem Schulwechsel verwendete er im Freundeskreis nur Deutsch, bis im April 2022 ukrainische Jugendliche in seine Schule kamen. Dies änderte die Situation für Anton wieder, denn nun spricht er gelegentlich wieder Russisch in der Schule.
Anton (RU2022): Dann war wieder eine Pause, ich habe da nur Russisch gesprochen, weil ich mit Freunden aus der Ukraine zusammen war.5
In seiner Freizeit trifft sich Anton online mit seinen armenischen Freunden, sein bester (Offline-)Freund spricht in der Familie Spanisch.
Laut Juri verbringt er seine Offline-Freizeit nur mit seiner Zwillingsschwester, sonst befindet er sich online und kommuniziert auf Englisch mit seinen Online-Freunden. Mit den schulischen Peers kommuniziert Juri Deutsch, das betrifft auch Chats online.
Juri (RU2022): Wir haben so einen Klassenchat, da schreibe ich auf Deutsch. Und in anderen Chats nur auf Englisch. Zum Beispiel mit einem Freund … das zählt ja auch als Chat.6
Was Juri hier meint, ist Chatten als Interaktionskommunikation während unterschiedlicher Online-Tätigkeiten, wie z.B. Onlinespiele spielen (vgl. Kap. 2).
Konstantins bester Freund ist aus einer russischsprachigen Familie. Sie treffen sich regelmäßig, sprechen dabei jedoch vorwiegend Deutsch.
Konstantin (RU2022): Nun, es ist besser, hier Deutsch zu sprechen, wir sind ja in Deutschland.7
Diese Auffassung – dass man in Deutschland im Zuge der Assimilation Deutsch in der Öffentlichkeit sprechen sollte – ist unter Spätaussiedlern stark verbreitet (vgl. Meng/Protassova 2017: 188), zu denen Konstantins Familie mütterlicherseits gehört. Auch wenn Konstantins Vater in Deutschland geboren wurde und der Junge ohnehin Deutsch als Erstsprache spricht, behält diese Ansicht für ihn nach wie vor seine Gültigkeit.
Trotzdem wird Russisch für die beiden Jungen ab und zu aus Spaß als eine geheime Sprache genutzt.
Konstantin (RU2022): […] ab und zu, wenn… kannst du sozusagen heimlich sprechen […] in einer Geheimsprache.8
Sie nutzen Russisch, um von der deutschsprachigen Umgebung nicht verstanden zu werden. Damit widerspricht Konstantin jedoch seiner Aussage, dass Deutsch ‚besser‘ ist.
Meng und Protassova (2017: 189) konnten feststellen, dass viele ihrer Proband:innen ihre Freundschaften und Beziehungen auf die russlanddeutsche Umgebung begrenzen. Aus unseren Interviewdaten wird ersichtlich, dass die Probanden ihre Zeit außerhalb der Schule mit Freunden verbringen, für die Deutsch keine bzw. nicht die einzige Familiensprache ist.
5.3 Multimediale Wirklichkeit
Unsere Probanden berichten immer wieder von Situationen, in denen sie parallel mehrere Sprachen nutzen, durch die Mediatisierung (s. Kap. 2.4) auf mehreren (medialen) Kanälen, was insbesondere mit dem Smartphon leicht möglich ist (vgl. Schlobinski 2012; JIM 2020; Krotz 2007).
Anton (RU2022): Danach bin ich einkaufen gegangen, ich habe mit niemandem geredet, ich habe nur Musik gehört. Englisch. Dann war ich gegen 15:00 Uhr zu Hause. Ich habe mit niemandem im Laden gesprochen, ich habe nur „Danke“ und „Bitte“ gesagt.
I: Wann hast du mit deiner Mutter telefoniert?
Anton: Als ich einkaufen war.9
Was Anton hier konkret für einen kleinen zeitlichen Ausschnitt in seinem Leben ausdrückt, ist seine mehrsprachig-multimodale Lebenswirklichkeit. Während er in der analogen Welt einkaufen geht – und dabei nur mit Höflichkeitsfloskeln mündlich kommuniziert –, hört er englischsprachige Musik. Das Musikhören unterbricht er, als er im Geschäft mit seiner Mutter auf Armenisch/Russisch telefoniert. Die Beschreibung seines Verhaltens bestätigt zwei Forschungsergebnisse (vgl. Kap. 2). Jugendliche telefonieren – im klassischen Sinne – nur mit älteren Familienmitgliedern, und sie verwenden ihre Familiensprache(n) in erster Linie mit Familienmitgliedern. Telefonieren mit Peers wurde zwar teilweise genannt, aber nur in Bezug auf schulbezogene Aufgaben (wie z.B. Referate). Diese Gespräche waren in erster Linie auf Deutsch, konnten jedoch anlassbezogen auch auf Englisch stattfinden.
Auch Juris Freizeit entspricht den Ergebnissen der Jugendstudie (vgl. JIM-Studie 2020), denn er gestaltet seine Freizeit multimedial – und mehrsprachig.
Juri (RU2022): Dann habe ich etwas YouTube geschaut, gelesen, online mit Freunden gechattet und Games gespielt.
I: Sag mal, was hast du gelesen?
Juri: Stranu solnečnych zajčikov.
I: Liest du es auf Russisch?
Juri: Ja.
I: Also, du hast dir YouTube-Videos angesehen. In welchen Sprachen?
Juri: Auf Englisch und ein bisschen Deutsch und sehr selten auf Russisch, weil ich solche Videos sehr selten auf Russisch sehe.
I: In welcher Sprache hast du Games gespielt?
Juri: Englisch.10
Juri macht vieles in einer sequenziellen Gleichzeitigkeit: Während er ein analoges Buch auf Russisch liest, schaut er Videos auf Youtube, spielt dazwischen Online-Spiele und chattet mit Freunden. Juri berichtet in den Interviews immer wieder, dass er in englischsprachigen Online-Communities aktiv ist.
Die Familiensprache wird von unseren Probanden selten online verwendet, und wenn, dann vorwiegend in Familienchats.
Konstantin (RU2022):
I: Mit wem chattest du denn auf Russisch?
K: Na ja, mit meiner Mutter, dann habe ich noch einen Freund, der Russisch kann, mit dem auch. Na ja, mit meinem Großvater, mit meiner Familie eher.11
Somit bleiben die Jugendlichen den bisherigen Analysen zur Herkunftssprache (analog) treu: Auch in der neuen digitalen Welt wird Russisch (Armenisch) in erster Linie für die Kommunikation in und mit der Familie genutzt und nicht für die vielen (Online-)Angebote, die sich für die Freizeit oder Schule nutzen lassen.
5.4 Analoge Freizeit
Für viele seiner Hobbys offline verwendet Konstantin Deutsch, jedoch findet der Gitarren- und Kunstunterricht ausschließlich auf Russisch statt:
Konstantin (RU2022):
I: Mit wem und wann sprichst du Deutsch?
Konstantin: Naja, in der Schule und außerhalb von Zuhause. Fast alles, fast immer, beim Fußball. Ich habe russische Kunst- und Gitarrenlehrer, das ist gut, gar nicht schlecht. Ich mache noch ein bisschen Judo, wir sprechen dort auch Deutsch, in der Schule und im Bus, wenn ich Freunde treffe – na ja, häufiger schon Deutsch.12
Konstantin, für den nach eigener Aussage ‚Deutsch in Deutschland‘ gilt, weicht in Bezug auf seinen russischen Kunst- und Gitarrenunterricht von dieser Aussage ab, denn eigentlich findet er diesen Umstand „gut, gar nicht schlecht“. Aber man merkt sofort, dass er außerhalb der Familie ein fast ausschließlich deutschsprachiges Leben führt. Er sagt selbst, „fast alles, fast immer“ ist auf Deutsch, nämlich „in der Schule und außerhalb von Zuhause“. Ganz deutlich wird auch hier der Fokus des Russischen, der Familiensprache, eben auf die Familie, obwohl die Eltern sich um mehr russischsprachige Kontakte – im Rahmen des Kunst- und Gitarrenunterrichts – bemühen.
Während Juri und Konstantin, beide in Deutschland geboren, einige russischsprachige Freizeitangebote wahrnehmen (HSU, Musik- und Kunstunterricht), aber in ihrer Freizeit keine Kontakte zu russischsprachigen Freunden pflegen, chattet und telefoniert Anton regelmäßig mit seinen armenischen Freunden, besucht jedoch keine Angebote in seinen Familiensprachen. Bei Anton kann dieser Unterschied durch seine rezente Migrationsgeneration erklärt werden: Konstantin und Juri zählen zur zweiten Generation, die stark in die deutschsprachige Gesellschaft integriert ist (vgl. Anstatt 2011). Anton hingegen lebt erst seit 2019 in Deutschland und zählt zur ersten Generation.
6 Zusammenfassung und Ausblick
In den bisherigen Veröffentlichungen zu den Effekten von Corona-Schutzmaßnahmen auf den familiären Sprachgebrauch werden positive Auswirkungen auf die Familiensprache(n) festgehalten. Unsere Studie widerspricht diesen Ergebnissen jedoch. Das liegt vermutlich daran, dass Jugendliche – im Gegensatz zu Kindern – ihre eigenen, von den Eltern unabhängigen sozialen Netzwerke besitzen und diese eigenständig während der Kontaktbeschränkungen digital fortführen konnten. Unsere Probanden trafen ihre Peers online, unabhängig von den Eltern und von einem analogen Treffpunkt (wie der Schule). Ihre Schulzeit online war nicht so stark gekürzt wie bei jüngeren Kindern, so dass sie wegen Schulaufgaben und weiteren Verpflichtungen weiterhin mit ihren Mitschüler:innen in Kontakt blieben. Doch dass auch sie weniger Schulzeit online als nach dem Lockdown hatten (vgl. Li/Lin 2023), zeigte sich deutlich in ihrem Freizeitverhalten. 2022 verwendeten sie viel mehr Zeit für Hausaufgaben als 2021.
Trotz einer gut ausgebauten russischsprachigen Infrastruktur in Deutschland findet die Delokalisierung der Familiensprache (vgl. Melo-Pfeifer 2015) bei unseren Probanden wenig statt – und wenn, dann auf Initiative der Eltern. Auch das liegt vermutlich daran, dass sie als Teenager ihre Freizeit selbstständig gestalten. Die Familiensprache spielt dabei nur bei wenigen Aktivitäten außerhalb der Familie eine Rolle.
Bei der mündlichen Kommunikation zeigt sich, dass die Jugendlichen im mobilen Telefonnetz in erster Linie mit Familienmitgliedern der Eltern- und Großelterngeneration telefonieren (vgl. Schlobinski 2012). Wie eng der multimediale Alltag mit der mehrsprachigen Lebenswirklichkeit der Jugendlichen verwoben ist, wird in unseren Daten ebenfalls deutlich.
Sieht man sich das Schreibverhalten unserer Jugendlichen an (vgl. Beißwenger 2015), dann findet interaktionsorientiertes Schreiben über das Netz statt. Das textorientierte Schreiben hingegen ist bei allen drei ausschließlich an die nicht-digitale Welt der Schule gebunden, auch wenn die Texte mittels Kommunikation über das Internet verfasst werden. Die Schule verlangt dabei von ihnen nicht nur Texte auf Deutsch, sondern auch auf Englisch, Französisch, Latein. Auf Russisch nur, wenn sie den HSU besuchen. Ihr restliches Leben verlangt von ihnen kein textorientiertes Schreiben.
Auch wenn wir in dieser Publikation nicht auf Translanguaging als Konzept und als sprachliche Praktik eingehen, können wir im Ausblick sagen, dass eine translinguale Wirklichkeit der Jugendlichen sowohl in der analogen als auch in der digitalen Welt gelebt wird. Somit ergänzen unsere Ergebnisse einerseits Studien wie die JIM-Studie (2020), andererseits Studien zum Gebrauch der Familiensprache (vgl. Brehmer/Mehlhorn 2018a; Meng/Protassova 2017; Protassova 2018). Durch die qualitative Analyse konnten wir einen Einblick in die mehrsprachige, analog-digitale und multimediale Wirklichkeit der Jugendlichen geben.
Notes
- Als 100% der Zeit werden dabei nicht 24 Stunden des Volltages, sondern alle Stunden, zu denen die Jugendlichen wach waren, zusammengefasst. [^]
- Die von nun an angeführten Interviewzitate wurden von Maria Sulimova aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt. [^]
- To est’ ja doma govorju po-russki, s roditeljami. Po-nemecki ja govorju v škole, po-anglijski ja govorju tože v škole i s sestroj. [^]
- U babuški i doma my razgovarivaem po-russki. [^]
- Potom ešče odna pauza, tam ja govoril tol’ko po-russki, potomu čto byl s druz’jami s Ukrainy. [^]
- To est’ u nas est’ takoj klassnyj čat, eto po-nemecki. A v ostal’nyh čatah po-anglijski. To est’ naprimer s drugom… eto že tože čat. [^]
- Nu po-nemecki lučše zdes’ obščat’sja, my že v Germanii. [^]
- No inogda, esli… možeš’ tipa tak sekretno… po-sekretnomu govorit’. [^]
- Anton: … posle etogo ja pošel v magazin, ja ni s kem ne govoril, tol’ko slušal muzyku. Anglijskuju… Potom gde-to v 15:00 byl doma. V magazine ni s kem ne govoril, prosto govoril „spasibo“ i „požalujsta“…
I: A kogda ty mame zvonil?
Anton: Nu kogda v magazine byl.
[^]Juri: Smotrel jutjub, čital, peregovarivalsja s druz’jami onlajn i igral v igry.
I: Napomni, čto ty čital?
Juri: Stranu solnečnych zajčikov.
I: I ty čitaeš’ ee po-russki?
Juri: Da.
I: Tak, smotrel video na jutjube… na kakih jazykah?
Juri: Po-anglijski i čut’-čut’ po-nemecki i očen’ redko po-russki, potomu čto ja očen’ redko vstrečaju video takie.…
I: V igry igral na kakom jazyke?
Juri: Anglijskom.
[^]I: A po-russki ty esli perepisyvaeš’sja, to s kem?
K: Nu s mamoj, u menja ešče odin drug, kotoryj možet po-russki razgovarivat’, s nim tože.. Nu i s deduškoj, s semjej bol’še.
[^]I: S kem i kogda ty govoriš po-nemecki?
К: Nu, v škole i esli ne doma… Počti vse, počti vsegda. Na futbole. Na risovanii u menja russkij učitel’, po gitare tože russkij učitel’, eto horošo, neploho. Ešče nemnožko zanimajus’ dzjudo, tam tože po-nemecki razgovarivaem my, v škole, i v avtobuse, esli s druz’jami vstrečajus’… nu da, počašče po-nemecki.
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Kurzbio
Maria Sulimova ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Mehrsprachigkeit in der Schule am Institut für Bildungsforschung der Bergischen Universität Wuppertal und als Lektorin für Russisch und Ukrainisch am Institut für Slavistik der Universität Leipzig tätig. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind: Fremd-, Zweit- und Herkunftssprachendidaktik, Sprachbildung im Fach, Schreibforschung und Schreibdidaktik, Herkunftssprache(n).
Tatjana Atanasoska: Studium Deutscher Philologie mit Schwerpunkt DaF/DaZ und Lehramtsstudium Deutsch und Mathematik. Zurzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Mehrsprachigkeit in der Schule an der BUW. Davor an der Universität Wien, der EURAC in Bozen/Bolzano, dem ECML in Graz und anderen Standorten tätig. Forschung u.a. zu Arbeitsbedingungen von DaF-Lehrer:innen, Flucht und Schule, Lehrer:in sein vor und nach der Wende, Herkunftssprache(n).
Anschrift:
AB Mehrsprachigkeit in der Schule
Institut für Bildungsforschung
Bergische Universität Wuppertal
Gaußstraße 20
42119 Wuppertal