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Aufsatz zum Themenschwerpunkt

« Il ne faut pas trop tarder … Man darf nicht zu lange warten ». Sprachvermittlung als elterliche Kompetenz

Abstract

Die deutschsprachige Stadt Bern, Hauptstadt der viersprachigen Schweizer Konföderation und Kantonshauptstadt des zweisprachigen Kantons Bern, bildet die Ausgangslage von «Familiale Sprachenpolitik: der Fall der französischsprachigen Eltern in der Stadt Bern». Das qualitativ ausgerichtete Forschungsprojekt ist an der Schnittstelle von Soziolinguistik und Sozialwissenschaften verortet. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie die in dreifacher Minderheit stehenden, frankophonen Eltern ihre Rolle in Bezug auf die Sprachvermittlung sehen. Die ausgewählten Akteurinnen und Akteure werden mithilfe von Kartografien und Interviews befragt und beteiligen sich in Ko-Konstruktion an den Interpretationen. Ein kritisch-reflexiver Ansatz, der zugleich distanziert und engagiert ist, begleitet in allen Phasen die Beziehung der Interviewerinnen zum Forschungsfeld. Der ausgewählte Fokus auf die französischsprachigen Eltern in der deutschsprachigen Stadt Bern rekurriertauf die Herausforderungen, denen die Eltern schulpflichtiger Kinder in der Bundeshauptstadt ausgesetzt sind.

« Il ne faut pas trop tarder… One shouldn’t wait too long » Language transmission as a parental competence
The project “Family language policies and school institutions: the case of French-speaking parents in Berne” focuses on French-speaking parents in the German-speaking city of Berne, Switzerland. How does this lin-guistic minority see its role and that of the school in transmitting languages to their children? The qualitative research project is rooted in sociolinguistics as well as in social sciences: selected actors/parents participate in the co-construction of interpretations and the researchers offer a critical and reflective approach at every stage of the process. Linguistic landscapes and interviews show that parental authority is a form of govern-ance exercised through a series of strategies and organized around an agenda.

« Il ne faut pas trop tarder… » La transmission des langues familiales comme compétence parentale
Le projet de recherche Politiques linguistiques familiales et institutions scolaires : le cas de parents franco-phones à Berne se penche sur le cas de parents francophones de Berne. Comment ces acteur.es, issu.es d’une communauté linguistique triplement minoritaire se représentent-ielles leur rôle et celui de l’école dans la transmission des langues à leurs enfants ? Cette recherche qualitative selon une approche compréhensive est ancrée en sociolinguistique et en sciences sociales. Les acteur.es sélectionné.es sont interrogé.es par le biais de cartographies et d’entretiens et participent en co-construction aux interprétations. Une démarche réflexive critique à la fois distanciée et engagée accompagne à toutes les étapes le rapport des enquêtrices au terrain. Procédant de la gouvernementalité, l’autorité parentale s’exerce selon des stratégies de transmission des langues révélant leurs ambitions pour leur progéniture.

Keywords: Familiale Sprachenpolitik, Gouvernementalität, Zwei- und Mehrsprachigkeit(en), Sprachvermittlung, Family language policy, governmentality, bilingualism and multilingualism(s), language transmission, politiques linguistiques familiales, gouvernementalité, bi/plurilinguisme, transmission des langues

How to Cite:

Zingg, Irène & Robin, Jésabel (2023): «Il ne faut pas trop tarder… Man darf nicht zu lange warten». Sprachvermittlung als elterliche Kompetenz. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 28: 2, 157–175. https://doi.org/10.48694/zif.3662.

1 Einführung – Das Projekt

In der deutschsprachigen Stadt Bern, Hauptstadt der viersprachigen Schweizer Konföderation (vgl. Brohy 2013) und Kantonshauptstadt des mit Deutsch und Französisch zweisprachigen Kantons Bern, sind Dynamiken in Bezug auf die vier Nationalsprachen, Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch, im Bildungskontext zu beobachten. So wurden hier beispielsweise gleich zwei bilinguale Bildungsprojekte lanciert: Die 2018 ins Leben gerufene zweisprachige Lehrpersonenausbildung auf Primarstufenniveau. Dieses Bachelorstudium wird je zur Hälfte an der frankophonen Haute École Pédagogique Berne-Jura-Neuchâtel (HEP-BEJUNE) und der deutschsprachigen Pädagogischen Hochschule Bern (PHBern) absolviert. Das zweite Projekt sind die Classes bilingues (Clabi) – ein zweisprachiger Klassenzug der öffentlichen Volksschule in der Stadt Bern – im Jahr 2019 initiiert. Gerade im Hinblick auf den europäischen Enthusiasmus für zwei- und mehrsprachige Bildung bildet Bern damit eine besonders interessante Ausgangslage, um die Akzeptanz und Auswirkungen dieser Entwicklungen hin zu mehrsprachigen Bildungsinitiativen näher zu untersuchen.

Das Projekt «Familiale Sprachenpolitik: der Fall der französischsprachigen Eltern in Bern» (2019–2023), ist ein auf der qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Demazière/Dubar 2004) basierendes Forschungsprojekt, verortet an der Schnittstelle von Soziolinguistik und Sozialwissenschaften. Die beiden Forscherinnen sind sprachlich komplementär – die Projektleiterin ist französischsprachig und die wissenschaftliche Mitarbeiterin ist deutschsprachiger Erstsprache, beide mit jeweils guten Kenntnissen der anderen Sprache – sind die Autorinnen dieses Beitrags. Sie arbeiten in allen Phasen des Projekts von der Sondierung, der Entwicklung der Instrumente, der Sammlung des Korpus, den Analysen und Interpretationen bis zur Präsentation der Ergebnisse eng zusammen. Im Zentrum der Forschung steht dabei die Frage, wie frankophone Eltern ihre Rolle in Bezug auf die Sprachvermittlung sehen. Der ausgewählte Fokus auf die französischsprachigen Eltern in der deutschsprachigen Stadt Bern rekurriert auf die Herausforderungen, denen die Eltern schulpflichtiger Kinder in der Bundeshauptstadt ausgesetzt sind.

In der Sondierungsphase des Projekts wurden erste informelle Gespräche mit französischsprachigen Eltern aus der frankophonen Region der Schweiz, die in Bern leben und arbeiten, geführt. Sie äusserten sich in diesen ersten Diskussionen kritisch gegenüber einem neu initiierten, zweisprachigen Klassenzug der öffentlichen Schule, reagierten gar misstrauisch und ablehnend. Die vorgebrachten Argumentationen kulminierten im Vorwurf, dass dieses Angebot insbesondere der deutschsprachigen Mehrheit dienen würde. Damit wird der Status der deutschsprachigen und der frankophonen Bevölkerung der Stadt Bern ein besonders relevanter Parameter – auch für die Zusammenarbeit mit den Forscherinnen im Projekt.

Das von der PHBern geförderte Projekt ist als Langzeitforschung angelegt. Dies ermöglicht es, über ausgedehnte Zeiträume Gespräche zum selben Themenkomplex zu führen (vgl. Hangartner 2012). Mit der iterativen Vorgehensweise wird sowohl die kontinuierliche, kritische Reflexion als auch das Generieren von verschiedenen Interpretationssträngen unterstützt (vgl. Robin 2021b).

Die Tatsache, dass Familien sich bewusst dafür entscheiden, ein für sie entwickeltes System abzulehnen und zu ignorieren, deutet auf Diskrepanzen zwischen der dem System immanenten Logik und der individuellen Logik hin. Diese Diskrepanzen zu untersuchen bedeutet, sich mit den Strategien der Zielgruppe zu befassen. Die untersuchte Gruppe hat die freie Wahl sich für die Schulsprache zu entscheiden. Eine Wahl, die keine unbedeutende Entscheidung ist, da mit der Sprache eine institutionelle Bedeutung und ein normativer Charakter übertragen wird (vgl. Verdelhan-Bourgade 2002). Die Frage nach dem «Umgang mit der Herkunftssprache»1 in migrationsbedingten Mobilitäten stellt sich seit mehreren Jahrzehnten (Tabouret-Keller/Varro 1999: Editorial). Kinder vermitteln die Beziehungen der Eltern zur Region und zur Aufnahmesprache und die Eltern vermitteln die Beziehungen der Kinder zur Region und zur Herkunfts- und Familiensprache (vgl. Lüdi/Py 1986). Die Aufmerksamkeit, die der Weitergabe der Sprache als «Familienkonstante über Generationen hinweg» und dem «Erleben als Minderheit» (Rachedi 2009: 107) gewidmet wird, berührt Identitätsfragen. Die Untersuchung der ausgehandelten Lösungen zur Weitergabe des sprachlichen Kapitals in der Familie bestimmt die angenommenen Verhaltensweisen und wirft die Frage auf, ob die Sprache zugunsten der Integration «geopfert» wird (oder nicht) (Deprez 1996: 40). Mehrere Studien haben sich mit den Strategien mehrsprachiger, gemischtsprachiger Paare (vgl. Zeiter 2018) und den Herausforderungen bei der Wahl der Sprache(n) für die Einschulung der Kinder befasst, wie beispielsweise in baskischen (vgl. Lacroix 2014), franko-ontarischen (vgl. Heller/Levy 1994) oder freiburgischen (vgl. Brohy 1993) Familien. Sprachen werden als Familienkapital betrachtet, das weitergegeben werden muss: «Zweisprachige Eltern wollen ihre Kinder zweisprachig machen» (Brohy 1993: 73), und dies erst recht in einem Minderheitenkontext. Ziel ist hier, dass sich die eigene Sprache im Einwanderungskontext durchsetzt und verewigt (vgl. Deprez/Varro/Collet 2014: 10).

Die meisten Staaten erlassen Gesetze über den Status, die Beschäftigungsbereiche und die Norm der auf ihrem Territorium gesprochenen Sprachen. Diese politischen Massnahmen berühren die Bereiche des öffentlichen Lebens. Deprez (1996: 35) sieht hier durchaus innere Bezüge zu der von ihr aufgestellten Idee einer «Sprachenpolitik», die den Umgang mit Sprachen einer zweisprachigen Familie kennzeichnet. Das Konzept der Familiensprachpolitik (vgl. Adam 2020; Dreyfus 1996; Spolsky 2009: 10) umfasst die soziolinguistischen und sozio-erzieherischen Strategien der Eltern. Soziale Repräsentationen sind als funktionierendes Konzept eine Lesart, an dem Diskrepanzen zwischen familialen Sprachpolitiken einerseits und institutionellen Logiken andererseits gelesen werden können.

2 Qualitative Zugänge als Grundlage der Methodologie

Der methodologische Rahmen des qualitativen Forschungsprojekts Politiques linguistiques familiales et institutions scolaires: les cas de parents francophones à Berne (2019–2023) basiert auf einem umfassenden Ansatz der Ko-Konstruktion mit den Forschungspartnerinnen und -partnern. Das Individuum wird als sozialer Akteur/soziale Akteurin betrachtet, dabei stehen seine bzw. ihre Fähigkeit mit der Umwelt zu interagieren im Zentrum der Forschung. Die Auseinandersetzung mit der Thematik ist als Langzeituntersuchung angelegt. Dies ermöglicht es, über längere Zeit Gespräche zu ein und demselben Themenkomplex zu führen. Mit dieser iterativen Vorgehensweise wird die kontinuierliche, kritische Reflexion ebenso unterstützt wie das Generieren von verschiedenen Interpretationssträngen (vgl. Strauss/Corbin 1996). Die elterliche Autorität wird entsprechend einer gouvernance ausgeübt, wobei die Strategien der Sprachvermittlung ihre Ambitionen für ihre Kinder offenbaren.

Bei unserer Suche nach frankophonen Akteurinnen und Akteuren, die wir unabhängig von ihrem Wohnquartier in der Stadt Bern befragen wollten, war es auffällig, dass wir immer wieder denselben Profiltyp der oberen Mittel- oder Oberschicht fanden. In der Folge versuchten wir, unsere Akteurstypen zu diversifizieren, indem wir uns beispielsweise von der Bezeichnung frankophon lösten und stattdessen die Bezeichnung mehrsprachig (mit Französisch als Repertoiresprache) verwendeten, also von der Zweisprachigkeit zur Mehrsprachigkeit übergingen. Wir sind grösstenteils erfolglos durch verschiedene Netzwerke, Institutionen, Vereine, interkulturelle Übersetzungsdienste, Kirchen (alle bekannten Konfessionen), Bekannte von Bekannten usw. gegangen (vgl. Biichlé 2015; Deprez 2005). Vom Formellen zum Informellen, vom Realen zum Digitalen – doch das erhoffte Ergebnis blieb bisher aus und die sozioprofessionellen Kategorien der Forschungspartnerinnen und -partner sind bis heute relativ homogen geblieben.

Tab. 1: Auszug: Sozioprofessionelle Kategorien der Personen mit Hauptsprache Französisch in der Stadt Bern, Strukturerhebungen 2016-2018 (Datenquelle: Bundesamt für Statistik)

Das Statistische Amt der Stadt Bern hat im Frühjahr 2021 die für das Forschungsprojekt relevanten Daten der sozioprofessionellen Kategorien der gemeldeten, französischsprachigen Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Bern aufbereitet. Aus Tabelle 1 geht hervor, dass der grösste Anteil (Akademische Berufe und oberes Kader), 20,2 %, gut ein Fünftel ausmacht, gefolgt von den Nichterwerbspersonen im Ruhestand, 18,6 %, was der heute alternden, früher unter Residenzpflicht gestandenen Bevölkerung aus ehemaligen Beamtinnen und Beamten entspricht. Die Gruppe der sogenannt «qualifiziert manuellen Berufe» sind mit 2,9 % knapp vertreten. Die Zahlen der Bevölkerungsstatistik bestätigen unsere Annahme und erklären unsere Schwierigkeiten, französischsprachige Eltern mit schulpflichtigen Kindern aus anderen sozioprofessionellen Kategorien zu finden. In der nur knapp 40 km entfernt liegenden Stadt Biel/Bienne zeigen sich dagegen ganz andere sozio-ökonomische Verhältnisse. Biel/Bienne weist eine weit grössere Vielfalt auf als Bundesbern (vgl. Zingg/Gonçalvez 2022). Diese weniger privilegierte, frankophon/mehrsprachige Bevölkerung scheint von den Berner Stadtmauern ausgeschlossen zu sein – vermutlich wegen der hohen Mietpreise in der Hauptstadt. Wohl ist diese Gruppe in der Stadt Bern als Arbeitnehmende anzutreffen, doch wohnen sie im Agglomerationsgürtel und damit ausserhalb der Bundeshauptstadt, wo sie ihren Lebensmittelpunkt haben und ihre Kinder in die öffentliche Schule schicken.

Der für die Untersuchung generierte Datenkorpus besteht aus 18 französischsprechenden Familien/Elternteilen und ist dreiteilig: Datenblatt, Skizze mit Sprache(n) und Mobilitäten (sogenannte Kartografien) sowie Einzelinterviews. Nach der Kontaktaufnahme und dem Einholen der Einverständniserklärung füllen die Forschungsteilnehmenden ein Datenblatt mit biografischen Angaben aus. Neben sozialen Variablen (Wohnadresse, Alter, Beruf) werden insbesondere die sprachlichen Ressourcen erhoben, um Anhaltspunkte über Sprachen in der eigenen Kindheit und die der Eltern sowie die aktuellen Sprachen in der Familie und in der Kinderbetreuung, respektive Schulbildung der eigenen Kinder zu erfahren (vgl. Adam 2020: 144; Biichlé 2015). Auf diese Weise erhalten die Forschenden zentrale Informationen über die sprachenbiografische Ausgangslage der Familien, die es ihnen erlaubt, den sozio-ökonomischen Kontext der Interviewpartnerinnen und -partner einzuordnen. Zusammen mit der beim Erstkontakt entworfenen Kartografie der skizzierten Sprache(n) und Mobilität(en) (vgl. Robin 2014) liegen damit wichtige Anhaltspunkte vor, die jeweils im Forschungsteam als Vorbereitung für das folgende Einzelinterview diskutiert werden. Aufgrund dieser grafischen Repräsentationen seitens der Elternteile können Fragen für die qualitativen Leitfadeninterviews2 generiert werden. Im individualisierenden Teil des Interviews wird der Austausch im Team in Bezug auf sprachliche Aspekte intensiviert (d.h. die kontinuierliche Reflexion im mehrsprachigen und transdisziplinär zusammengesetzten Forschungsteam). Diese Vorbereitung stärkt insbesondere das sprachliche Bewusstsein der nicht-frankophonen Forscherin.

Die beim Erstkontakt gezeichneten, individuellen Kartografien der Sprache(n) und Mobilität(en) unterstützen die eigenen Erzählungen der Befragten. So ermöglicht dieser grafische Zugang Elsa (siehe Abbildung 1), ihre vielfältige Sprachenbiografie mit den unterschiedlichen Etappen des eigenen Sprachenlernens aus der Erinnerung abzurufen und diese zu analysieren. Die Kartografie der Sprache(n) und Mobilität(en) eröffnet z.T. neue Sichtweisen, die sie während des Interviews ausführt. Viele Eltern oder Elternteile waren auch erfreut, dass sich die Forschungsgruppe für die sprachliche Vermittlungspraxis in der Familie interessiert.

Die in Abbildung 1 eingefügte Sprach- und Mobilitätskarte von Elsa mag für Aussenstehende auf den ersten Blick nicht verständlich sein. Aus der Rekonstruktion der Forschenden auf die skizzierte Kartografie kann gedeutet werden, dass die Flaggen von Spanien, Galizien und Frankreich für die aktuell im Familienverband benutzten Sprachen stehen; sie sind rot, unterstrichen und bilden die kommunikative Basis für das Familienleben mit den Kindern und den (Gross-)Eltern. Flaggen sind eine oftmals beigezogene Lösung, um ein linguistisches Repertoire symbolisch abzubilden. Die von einem grünen Kreis erfassten Klötzchen erinnern an ein Podest und könnten als Sprachhierarchien interpretiert werden; in diesem Fall steht das rote Wappen mit dem gelben Bären für das Berndeutsche, das als lokale Sprache sowohl das Deutsche wie auch das Französische überragt. Die darüberstehenden Sterne erinnern an die Europäische Union und symbolisieren die unterschiedlichen Reisen und Aufenthalte der Befragten in Amerika. Sie könnten durchaus auch als Traum gedeutet werden. Der grüne Kreis, an dessen Rand das Ungarische der Grossmutter mütterlicherseits sichtbar wird, könnte als Sprachkosmos oder eigenes Weltbild betrachtet werden. Diese kleine ungarische Flagge lässt eine Assimilationsgeschichte erahnen: der Fokus liegt nach Angaben der Interviewpartnerin Elsa auf dem Französischen.

Abb. 1: Sprach- und Mobilitätskarte von Elsa

Diese Sicht auf die eigene Sprachwelt ist ganzheitlich, lässt eine Wertschätzung und Identifizierung mit diesen Sprachen vermuten.

3 Bewusst gewählte Praktiken in der familialen Sprachenpolitik

Wir werden sehen, dass die im Forschungsprojekt aufgedeckte familiale Sprachenpolitik nach dem Modus der gouvernance funktioniert. Wenn man Foucaults Definition auf den Familienkontext anwendet, sieht man, dass gouvernance ganz bewusste Ambitionen der Eltern widerspiegelt.

Unter «Gouvernementalität» verstehe ich die Gesamtheit, die aus den Institutionen der elterlichen Autorität, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und Taktiken besteht, die es ermöglichen, diese ganz spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptziel [die Gruppe der Kinder] hat. (Foucault 2004: 111)3 [Übersetzung durch die Autorinnen]

Das offene, sozialwissenschaftliche Konzept der Gouvernementalität ermöglicht einen erweiterten Blick auf familiale Sprachenpolitiken. Bei der Auswertung der verschriftlichten Interviewtranskriptionen nach der Grounded Theory wurden die Aussagen in Sinnabschnitte gegliedert und Codes zugeordnet. Bei diesem Kodieren werden die «Daten aufgebrochen und konzeptualisiert» (Strauss/Corbin 1996: 39), um aus dem untersuchten Phänomen in einem zirkulären Prozess der Auswertung eine Theorie zu entwickeln. Im Folgenden werden drei sprachpolitische Typen vorgestellt, die sich aus den laufenden Analysen herauskristallisieren: «Realistischer Pragmatismus», «Sprachliche Ambitionen» sowie «Globalisierte Elite». Diese Typologien von Sprachenpolitiken sind nicht trennscharf, sondern befinden sich vielmehr auf einem Kontinuum (vgl. Adam 2020: 233).

3.1 Familiensprachenpolitik Typus «Realistischer Pragmatismus»

Die selbst mehrsprachig aufgewachsene Elsa erlebt die Sprachenvielfalt als Selbstverständlichkeit (s. Abbildung 1). In ihren Erzählungen betont die 41-Jährige dabei immer wieder, wie wichtig die eigenen Erfahrungen mit den Sprachen während ihrer Kindheit gewesen seien. Sie bilden laut Elsa die Grundlage für alles andere. In ihrem Familienalltag jongliert sie mit diesen für sie selbstverständlichen Ressourcen und wechselt mit grosser Leichtigkeit von einer Sprache zur anderen: mit ihrem spanischsprechenden Partner spricht sie Schweizerdeutsch, mit dessen Eltern Castellano, also Spanisch, und mit seinen Grosseltern Galizisch. Mit ihren Kindern spricht Elsa Französisch und in ihrem Berufsalltag dominiert der schweizerdeutsche Dialekt oder aber das Schweizerhochdeutsch. Das während ihrer Jugendzeit häufig verwendete Englisch kommt momentan weniger zum Einsatz.

Und um die Mehrsprachigkeit der Familie bewusst aufrecht zu erhalten, haben Elsa und ihr ebenfalls mehrsprachiger Partner (Spanisch, Deutsch, Italienisch, Französisch, Englisch) ihre beiden Kinder in einer spanischsprachigen KiTa angemeldet. Die dem Entscheid zu Grunde liegende Überlegung der in Bern wohnenden und arbeitenden Eltern war die Aufrechterhaltung der innerfamiliären Kommunikation der Kinder mit den Grosseltern väterlicherseits (vgl. Haque 2019: 45). Dies wird auch vom Vater der Kinder als Beweggrund angeführt, der mit den beiden Kindern Spanisch spricht und so die Kontakte zu den Grosseltern unterstützt. Diese Familiensprachpolitik ordnen wir nach dem theorieorientierten Kodieren nach der Grounded Theory Methodology (vgl. Strauss/Corbin 1996: 39) dem Typus «Realistischer Pragmatismus» zu.

In dieser als bildungsnah gekennzeichneten Familie gehören Sprachen zum Alltag. Elsa hat in den ersten Wochen nach der Geburt mit ihrer Tochter Berndeutsch gesprochen und ist dann zum Französischen gewechselt, ein Entscheid, den sie bis heute nicht bereut:

Ich habe nach zwei Monaten bemerkt, nachdem die erste Tochter auf der Welt gewesen ist, dass es für mich nicht stimmt von der Sprache, im Sinne, dass ich ganz viele Begriffe, die ich nur auf Französisch hatte, oder die mir viel näher liegen, wenn ich diese auf Französisch sage, Lieder und Geschichten; da habe ich wieder die alten Kinderbücher hervorgenommen, welche meine Eltern aufgehoben haben, ganz viele Erinnerungen, und da habe ich plötzlich bemerkt, dass es - ich weiss nicht wie man das nennt - die Kindersprache. Das war für mich sehr seltsam, Berndeutsch mit meiner Tochter zu sprechen, und dann habe ich nach zwei Monaten nach der Geburt gewechselt. (Elsa)

Die von Elsa bewusste Sprachwahl Französisch, das Idiom aus ihrer eigenen Kindheit zu sprechen und so weiter zu tradieren, anstatt auf die Umgebungssprache Berndeutsch zu wechseln, diesen Entscheid hält sie auch nach acht Jahren Elternschaft aufrecht, auch wenn er mit kleinen Schwierigkeiten verbunden ist.

Französisch - mit meinen Kindern spreche ich nur Französisch, bei N. [ihrem ersten Kind] wird es langsam schwierig, weil sie lediglich auf Berndeutsch antwortet, was völlig normal ist, und dann falle ich allmählich auch etwas da rein, also da muss ich sehr aufpassen, dass man da konsequent bleibt. (Elsa)

Diese Selbstverständlichkeit, die eigenen Sprachen den Kindern weiterzugeben, ist auch beim französischsprachigen Eric die Motivation, mit seinen beiden Kindern ausschliesslich Französisch zu sprechen. Dieses Beispiel zeigt, dass es auch die Väter sind, die sich bei der Sprachwahl bewusst für die Weitergabe ihrer Sprache entscheiden (vgl. Cognini 2019; Heller/Levy 1994; Robin 2021c):

Ich hoffe, dass wir das weitergeben können, eine Affinität zur Sprache (…). Ich meine, wenn sie es schaffen, zu lesen, zu kommunizieren, Kontakte mit französischsprachigen Menschen zu knüpfen, ohne Probleme wegen der Sprache zu haben, dann ist das natürlich gut. Ich denke, das wird möglich sein. (Eric)4 [Übersetzung durch die Autorinnen]

Eric gibt an, die Frankophonie seiner Kinder durch kleine alltägliche Strategien zu unterstützen: Vorlesen von Geschichten auf Französisch, diskrete Wiederholung und Modellierung von fehlerhaften Sätzen oder Wörtern in korrektem Französisch, bewusste Wahl der Sprache für Zeichentrickfilme usw. Die Reichweite dieser Strategien schätzt er jedoch sehr realistisch und gelassen ein. Die Ambitionen sind gemässigt und die Sprachpolitik der Familie, die von Fachlektüre zu diesem Thema und häufigen Diskussionen mit seiner Partnerin begleitet wird, ist nur einer von vielen Aspekten in seinem Leben als frankophoner Vater in einem deutschsprachigen Umfeld. Die elterliche Sprachenpolitik von Eric könnte, wie bei der Familie von Elsa, mit «Realistischem Pragmatismus» bezeichnet werden.

3.2 Familiensprachenpolitik Typus «Sprachliche Ambitionen»

Eine Gruppe der befragten Eltern zu den familialen Sprachenpolitiken könnte mit einer Form von Ehrgeiz umschrieben werden. Diese Eltern waren besonders willens, ja wurden von einem Sendungsbewusstsein motiviert, von ihren Praktiken und Überlegungen im Familienalltag zu sprechen. So erzählt das binationale Elternpaar – Yann kommt aus dem italienischsprachigen Tessin und Lisa ist Französin – dass sie sich die Option freihalten, für ein Jahr ins Tessin zu den (Schwieger-)Eltern zu ziehen:

Ja, das heisst, zu sagen: «Also, das Schuljahr, das nächste Schuljahr, ziehen die Kinder und wir ins Tessin». Ich mache ein bisschen Home-Office, komme für ein paar Tage in der Woche hierher, aber wir behalten die Arbeit und alles natürlich hier, aber sie können wirklich davon profitieren, Italienisch zu lernen und die Tessiner Kultur zu erleben (…).

Man darf nicht zu lange warten, denn, je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es. (Yann)5 [Übersetzung durch die Autorinnen]

Wenn Sprachweitergabe in der Familie mitunter einen Wohnsitz bestimmt, respektive einen temporären Umzug motivieren kann, wird ihre Bedeutung und die daraus resultierenden elterlichen Taktiken deutlich. Mutter Lisa unterstreicht die Bedeutung einer solchen Überlegung, indem sie sich fragt: «On sait pas s’ils perdent une année en fait déjà». Die geschilderte Unsicherheit, ob man aus sprachlichen Ambitionen ein Jahr verlieren kann, illustriert die so gekennzeichnete Kategorie.

Die Wichtigkeit für und die Sensibilisierung auf die Sprachen in den Familien ist selbst bei den Kindern spürbar. So zeichnet Adèle, Tochter von Yann und Lisa, während dem Interview mit den Eltern spontan ihre Sicht auf die gelebte Mehrsprachigkeit. Wie in Abbildung 2 ersichtlich, ist die 9-jährige Adèle stolz auf ihre sprachlichen Ressourcen in Deutsch, Französisch und Italienisch. Der Fokus liegt (noch) nicht auf der Perfektion von Orthografie und Grammatik (was altersgerecht ist, unabhängig von der Sprache), sondern auf der Möglichkeit, sich in verschiedenen Sprachen ausdrücken und kommunizieren zu können.

Abb. 2: «Sprachliche Ambitionen», Zeichnung von Adèle, Tochter von Yann und Lisa, 9-jährig

Diese Praktik, die von der Forschungsgruppe unter dem Typus «Sprachliche Ambitionen» subsumiert wird, ist auch in der Familie von Romane zu finden, denn auch diese mehrsprachige Familie spielt mit dem Gedanken eines sprachbedingten Wohnsitzwechsels, damit sich ihre Tochter in einem optimalen Sprachumfeld bewegen könne (vgl. Spolsky 2009: 24). Die frankophone Mutter Romane erinnert sich an die erste Zeit in der Familie wie folgt zurück:

Er sprach mit ihr Italienisch. Sie ging ab sechs Monaten in die Krippe (…) auf Schweizerdeutsch. Also das war gut, sie hatte die drei Sprachen. Und dann (…) haben wir eine Tagesmutter gefunden, die Italienerin war (…) und wir haben uns gesagt: «Gut, der Papa, der Italienisch spricht, die Nanny, die Italienisch spricht, das ist ein bisschen, vielleicht sogar viel. Und deshalb gibt es kein Deutsch mehr. Also hat der Papa die Sprache gewechselt und von diesem Tag an hat er Schweizerdeutsch gesprochen». (…). Als die italienische Nanny Ende letzten Jahres umzog und wir sie wechseln mussten und die neue Nanny Schweizerdeutsch ist, hatten wir wieder kein Italienisch mehr. Ich versuchte, dem Vater zu erklären, dass es gut wäre, wenn er mit seiner Tochter wieder Italienisch sprechen würde… Er fand den Kompromiss, zu sagen: «So, die ersten fünf Tage des Monats sprechen wir Italienisch» (…). Momentan überlegen wir uns, in eine Gemeinde zu ziehen, die französischsprachig ist. (Romane)6 [Übersetzung durch die Autorinnen]

Romane ist auf eine Familiensprachenpolitik ausgerichtet, deren Umsetzung eine hohe Disziplin der Eltern erfordert. Sie folgt damit bürgerlichen Bildungsidealen und kann als ambitioniert bezeichnet werden. In ihren Überlegungen geht es um die Beherrschung von drei Sprachen. Sprachen stehen im Mittelpunkt ihres Familienprojekts und bestimmen sowohl die Art und Weise der intimen, zwischenmenschlichen Beziehungen als auch die Wahl des Wohnorts und der Menschen, mit denen sie in Kontakt treten möchte. Im Namen einer Gleichgewichtung von drei Sprachen Französisch, Deutsch, Italienisch, denen Romane ihre Tochter aussetzen möchte, werden die Lebensmodalitäten der gesamten Familie überprüft und angepasst: Betreuungsperson, Schulwechsel, Umzug bis zu Änderungen der sprachlichen Gebote im Familienalltag.

3.3 Familiensprachenpolitik Typus «Globalisierte Elite»

Clara kam bereits früh in ihrem Elternhaus mit unterschiedlichen Sprachen in Kontakt. Der aus Tschechien in die Schweiz geflohene Vater sprach neben seiner Herkunftssprache auch Russisch, ihre Basler Mutter erlernte durch ihn das Tschechische so gut, dass es zur Partnersprache und gegenüber den Kindern auch zur Geheimsprache wurde. Ihr Interesse an Sprachen scheint durch die osteuropäisch erweiterte Familie (Grossmutter und Kusinen) zusätzlich angeregt worden zu sein. Mehrsprachigkeit wird zur Normalität (vgl. Adami 2015), die sie auf ihre drei Kinder überträgt. So berichtet Clara, dass die Kinder ihrer Kusine in eine englische Schule in Prag gehen würden und nun die Kinder gemeinsam kommunizieren könnten. Wichtig sei ein persönlicher Zugang zu Sprachen, so wie sie dies durch die Migrationsgeschichte ihres Vaters miterlebt habe, und eine Offenheit sich den Herausforderungen zu stellen.

Abb. 3: Beispiel eine Kartografie der Mobilitäten, gezeichnet von der mehrsprachigen Mutter Clara

Sie selber machte während der gymnasialen Schulzeit ein Austauschjahr in Australien, beendete ihr Studium zur Ärztin in Lausanne, qualifizierte sich weiter und folgte ihrem Partner nach Hongkong, der dort aufgewachsen ist und neben Englisch, Deutsch und Französisch auch Mandarin spricht. Damit die in Hongkong zur Welt gekommenen Kinder diese weltweit am häufigsten gesprochene Sprache nach dem Umzug nach Bern weiter pflegen können, kommt eine Taiwanesin einmal in der Woche in die Familie.

Und jetzt haben wir eine tolle junge Frau aus Taiwan, die einmal pro Woche am Freitagnachmittag kommt. (…) Sie hören zu. Genau, ich habe auch ein bisschen darüber gelesen, dass Kinder manchmal nicht sprechen, weil sie noch in der Phase sind, in der sie sich in eine Sprache einhören. (Clara)7 [Übersetzung durch die Autorinnen]

Der jüngste Sohn besucht seit der Rückkehr der Familie nach Bern eine deutschsprachige Spielgruppe, während die mittlere Tochter damals in Hongkong ihre Spielgruppe und die ersten Klassen in einer zweisprachigen Schule Mandarin/Englisch besuchte. Die kleinen Unsicherheiten in Bezug auf die sprachliche Familienpolitik, insbesondere von Seiten des Vaters artikuliert, wurden alsbald ignoriert. Die von Clara selbst erlebten, überaus positiven Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit(en) durch Mobilitäten dominieren heute den familialen Diskurs:

Und dann sagte ich: «aber sie werden es lernen». Und dann war er sehr skeptisch. Und ich war mir aufgrund meiner eigenen Erfahrung sicher, denn ich war im Kindergarten und sprach kein Wort Deutsch. Also habe ich mir gesagt: «Sie werden es lernen. Wenn sie in die Sprache eingetaucht sind, werden sie lernen». Und das war vielleicht ein bisschen eine Wette, ich weiss nicht, aber für mich war es eine Selbstverständlichkeit. Mein Mann war etwas skeptischer. Er sagte: «Ja, aber was ist, wenn es nicht klappt». Und siehe da, eigentlich habe ich die Wette gewonnen (lächelt)8. (Clara) [Übersetzung durch die Autorinnen]

Obwohl sie nicht mit einer Form von Elitarismus in Verbindung gebracht werden möchte, spiegeln Claras Aussagen über die Sprachenpolitik der Familie sehr wohl den Typus «Globalisierte Elite». Das Wissen um das tradierte Sprachenrepertoire der Kinder, das ohne besondere Anstrengungen seitens der Eltern verfügbar ist, entspricht einem klassischen Elitedenken. Da Clara und ihr Mann selbst der Mobilität und einem reichen und prestigeträchtigen Sprachenrepertoire auf dem «Sprachenmarkt» (Bourdieu 1977; Calvet 2002) ausgesetzt waren, zeigen die Eltern eine Gelassenheit, sich um ihre Kinder diesbezüglich keine Sorgen machen zu müssen. Es handelt sich um ein Musterbeispiel von «mehrsprachigem und multikulturellem Kapital» (Coste/Moore/Zarate 1997) sowie «Mobilitätskapital» (Murphy-Lejeune 2001), die ungehindert weitergegeben werden. Die Entschlossenheit bezieht sich dabei eher auf eine Art, in der Welt zu sein, ein être-au-monde, und damit auf eine Haltung der Offenheit und des Interesses für Sprachen und Kulturen, denn als auf die Beherrschung tatsächlicher Sprachkenntnisse.

4 Diskussion und Fazit: Ambitionen de luxe?

Ob es sich um pragmatische oder ehrgeizige Ambitionen handelt, die Familiensprachenpolitik spiegelt in jedem Fall die Bestrebungen der Eltern, die Sprachen als Kapital (im Sinne Bourdieus 1980) zu vermitteln. In diesem Sinne drückt die im Titel zitierte Aussage von Yann, «Il ne faut pas trop tarder – Wir dürfen nicht zu lange warten», die Furcht vor einem möglichen Verlust des Kapitals der Sprachen aus, oder beinhaltet den Gedanken, dass es nicht genutzt oder ausgeschöpft wird.

Derweil scheint die Tatsache, ob eine Person französischsprachig aus der Schweiz stammt oder französischsprachig aus dem Ausland kommt und sich in Bern niedergelassen hat, in unserem Forschungsfeld kein relevanter Parameter zu sein. Vielmehr stellt sich heraus, dass die soziale Schicht von zentraler Bedeutung im Sinne der untersuchten Fragestellung ist. Wie im Kapitel 2 aufgezeigt, auch unter Mithilfe der Statistischen Dienste der Stadt Bern, konnten wir keine Forschungspartnerinnen und -partner aus anderen sozialen Schichten finden. Die Beteiligung der befragten Eltern am lokalen Leben (Kontakt mit den Behörden und Institutionen, Vereinen usw.) gehen laut unserem Datenkorpus und gemäss dem Bildungsniveau miteinander einher. Diese Eltern repräsentieren eine Kategorie von Akteurinnen und Akteuren, die gebildet sind, eine gute Ausbildung geniessen konnten und französisch- (respektive mehrsprachig) sind. Die hier analysierte Gruppe lässt sich von schulischen Institutionen nicht beeindrucken. Das sprachliche, wirtschaftliche und kulturelle Kapital sowie die Erfahrungswerte der eigenen Sozialisierung verleiht ihnen eine gewisse Unabhängigkeit in Bezug auf offizielle Interaktionen.

Eine wichtige Erkenntnis der vorliegenden Studie ist, dass Eltern bewusste Entscheidungen in der Wahl der Sprache(n) fällen und das in allen drei von uns vorgenommenen Typologisierungen. Die gesprochenen Sprachen in den Familien beruhen auf Strategien, auch wenn sie sich in den Erzählungen oft unterschiedlich manifestieren. So werden diese Entscheide beim Typus «Sprachliche Ambitionen» ganz klar thematisiert und dominieren den Familienalltag, während vergleichbare Strategien am Beispiel der «Globalisierten Elite» kaum thematisiert oder benannt werden. Wie es den Aussagen von Clara, zu dieser Gruppe gehörig, zu entnehmen ist, findet die gelebte Mehrsprachigkeit fast ohne explizite Erwähnung statt, obwohl auch diese von Mobilität geprägte Familie immer wieder bewusste Entscheide für die Wahl der Sprachen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern trifft oder nahe Kontaktpersonen wie Nanny und Haushaltsunterstützung aufgrund ihrer Herkunftssprachen auswählt.

Die Ergebnisse sind eindeutig und unterstützen die Annahme, dass ein Grossteil der 7 % französischsprachiger Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Bern einer Elite angehören: universitärer Abschluss, prestigeträchtige Arbeitsplätze, hohes berufliches Engagement, Mehrsprachigkeit, urbaner Habitus mit frei gewählten Mobilitätsverläufen (s. Tabelle 1). Die vom Forschungsprojekt ins Zentrum gerückte Bevölkerungsgruppe der Frankophonen hat die Stadt Bern bewusst gewählt. Die von der Forschungsgruppe erwarteten Diskurse über Minderheitensprachen oder Minorisierungen (vgl. Robin 2021a) blieben aus, stattdessen häuften sich die Erzählungen über intra-nationale oder internationale Mobilität, die nach Bern führten. Die in Bern untersuchten französischsprachigen/mehrsprachigen Eltern, stellten sich als eine stark internationalisierte Gruppe von Französischsprachigen heraus, die zur Hälfte aus dem Ausland stammt, sehr mobil ist und freiwillig und bewusst in die Deutschschweiz gezogen ist. Das laufende Forschungsprojekt Politiques linguistiques familiales et institutions scolaires: les cas de parents francophones à Berne zeigt, dass die Weitergabe von Sprache(n) unter den Vorzeichen von Bildungsnähe und einer prestigeträchtigen Sprache mehr als eine Selbstverständlichkeit ist. Sie wird als zentrale, elterliche Aufgabe verstanden im Bewusstsein von Sprache als Kapital. Damit reiht sich ein weiteres subtiles Zusammenspiel zwischen individueller und institutioneller Mehrsprachigkeit inmitten von Europa ein (vgl. Brohy 2013). Die sprachliche Situation der offiziell viersprachigen Schweiz ist zwar stabil, führt jedoch zu neuen Diskussionen und Kontroversen innerhalb der jeweiligen Sprachgemeinschaften. Letztere vertreten keine homogene Meinung gegenüber den aufstrebenden, zweisprachigen Bildungsangeboten.

Notes

  1. Die fremdsprachigen Zitate wurden von den Autorinnen übersetzt. [^]
  2. Der Leitfaden der Interviews besteht aus einem gemeinsamen, für alle Interviews identischen und einem individuellen Teil. [^]
  3. Par « gouvernementalité », j’entends l’ensemble constitué par [les institutions d’autorité parentale], les procédures, analyses et réflexions, les calculs et les tactiques qui permettent d’exercer cette forme bien spécifique, quoique très complexe, de pouvoir qui a pour cible principale [la population les enfants] (Foucault 2004: 111). [^]
  4. « J’espère qu’on pourra le transmettre… une affinité avec la langue (…). Enfin, si elles arrivent à lire, à communiquer, à faire des contacts avec des gens francophones sans avoir de problèmes à cause de la langue, naturellement c’est bien. Je pense que ça, ça va être possible. » Eric [^]
  5. « Oui, c'est-à-dire que de dire bon, l'année scolaire, la prochaine année scolaire, les enfants et on déménage au Tessin. Moi je fais un peu de home office, un peu je viens ici quelques jours par semaine mais que on garde ici le travail et tout évidemment mais que eux ils puissent vraiment pour profiter aussi d'apprendre l'italien, de s'imprégner aussi de la culture tessinoise. (…) Il ne faut pas trop tarder parce qu'après, plus ça passe, le temps, plus c'est difficile.» Yann [^]
  6. « Il lui a parlé italien. Elle, elle allait à la crèche à partir de six mois (…) en suisse allemand. Donc, ça c’était bien, elle avait les trois langues. Et puis, (…) on a trouvé une maman de jour qui était italienne (…) et on s’est dit : « Bon, le papa qui parle italien, la nounou qui parle italien, ça fait un peu peut-être beaucoup. Et du coup y’a plus d’allemand ». Donc, le papa a changé de langue et depuis ce jour-là, il a parlé en suisse allemand. (…). Quand la nounou italienne a déménagé à la fin de l’année dernière, et qu’on a dû en changer et que la nouvelle, elle est suisse allemande, on n’avait de nouveau plus l’italien. Alors là, j’ai essayé d’expliquer au papa que ce serait bien qu’il reparle à nouveau en italien avec sa fille… Il a trouvé le compromis de dire : « Voilà, les 5 premiers jours du mois on parle italien. (…) « Ce qu’on pense maintenant, c’est de déménager dans une commune qui soit francophone ». Romane [^]
  7. « Et voilà, on a une super jeune femme de Taïwan qui vient une fois par semaine, le vendredi après-midi. (…) Ils écoutent. Exactement, j'ai aussi lu un peu là-dessus, finalement parfois les enfants ils ne parlent pas parce que voilà, ils sont encore dans cette phase où ils s’imprègnent ». Clara [^]
  8. Et puis j'ai dit « mais ils apprendront ». Et puis il était très sceptique. Et puis, moi, j'avais un peu cette assurance de ma propre expérience parce que moi, voilà, j'étais au Kindergarten et puis je ne parlais pas un mot d'allemand. Alors moi je me suis dit « voilà, ils vont apprendre. Quand ils seront immergés dans la langue, ils vont apprendre ». Et c'était peut-être un peu un pari, je ne sais pas, mais pour moi c'était une évidence. Pour mon mari, il était un peu plus sceptique. Il a dit « oui, et puis quoi, si ça ne va pas ». Et voilà, en fait, j'ai gagné le pari (sourire). Clara [^]

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Kurzbio

Irène Zingg ist Sozialanthropologin, Sprachwissenschaftlerin und Historikerin. Ihre Forschungstätigkeit bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Sozialanthropologie, Soziolinguistik und im Bereich Mehrsprachigkeit. Als Forschungsleiterin betreut sie Entwicklungsprojekte im Umfeld einer critical language awareness. Zingg interessiert sich für die Rolle der Sprache in der Konstruktion von sozialen Unterschieden und Ungleichheiten, insbesondere für die Sprachen der Migration und beschäftigt sich mit der qualitativen Sozialforschung. Sie lehrt an der Pädagogischen Hochschule Bern und ist Co-Leitern des Bilingualen Studiengangs am Institut Primarstufe.

Jésabel Robin ist Professorin für Sprachendidaktik und Soziolinguistik an der Pädagogischen Hochschule Bern, Schweiz. Hier ist sie ausserdem Co-Leiterin des Bilingualen Studiengangs am Institut Primarstufe. In ihrer Forschung thematisiert Robin die Dynamiken zwischen Akteur*innen und Bildungssystemen, Mobilitätserfahrungen, Zwei-/Mehrsprachigkeit und die Beziehungen zwischen den Schweizer Sprachregionen sowie Familiensprachenpolitiken. In ihrem aktuellen Forschungsprojekt leitet sie ein transdisziplinäres Team (Sprachendidaktik, Sozialanthropologie und Soziologie) mehrsprachiger Forscherinnen (mit den Erstsprachen Albanisch, Deutsch und Französisch).

Anschrift:

PHBern

Institut Primarstufe

Fabrikstrasse 8

CH-3012 Bern

irene.zingg@phbern.ch

PHBern

Institut Primarstufe

Fabrikstrasse 8

CH-3012 Bern

jesabel.robin@phbern.ch

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  • Irène Zingg (Pädagogische Hochschule Bern)
  • Jésabel Robin orcid logo (Pädagogische Hochschule Bern)

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Themenschwerpunkt: Mehrsprachigkeit und Spracherhalt im Kontext von schulischen, außerschulischen und familiären Lernorten

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