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Aufsatz außerhalb des Themenschwerpunkts

Interkulturelles Sprachenlernen in europäischer Perspektive –  eine Projektskizze des MONTAIGNE-Programms 2. Teil: Anwendung

Abstract

In Teil 1 (Grundlagen) ist erklärt worden, inwiefern die Entfremdung von der EU bei Studierenden das Bedürfnis weckt, selbständig herauszufinden, was Europa für ihr Leben bedeutet. Ausgehend von den Grundbegriffen der Neuen Phänomenologie bietet das MONTAIGNE-Programm ihnen mit dem ‚Europa-Semester‘ die Möglichkeit, über das Einwachsen in eine unbekannte Sprache und das Sich-Einleben in der einbettenden Lebenspraxis ein neues Lebensgefühl zu erschließen. Während eines Urlaubssemesters ohne Fachveranstaltungen erwerben die Studierenden über vorsprachliche Interaktion in Anlehnung an den Erwerb der Muttersprache ein leibliches Gespür für die neue Sprache. Eine neue implantierende Situation mit zahlreichen implantierenden Mikrosituationen entsteht. Ergänzt durch bewährte kognitive, interaktive und explorative Methoden kann eine affektive mehrsprachige und mehrkulturelle Kompetenz entstehen. Dadurch zeichnet sich die Epigenese der Person als Europäer bzw. Europäerin ab.

Intercultural Language Learning in a European Perspective - a project outline of the MONTAIGNE programme Part 2: Application  
In Part 1 (Basics), it was explained to what extent the alienation from the EU awakens in students the need to find out independently what Europe means for their lives. In consideration of the basic concepts of the New Phenomenology, the MONTAIGNE programme offers them the opportunity to develop a new attitude to life by encorporating themselves in an unknown language and settling into the surrounding way of life. During a European semester off without specialist courses, students acquire a corporeal feel for the new language through pre-lingual interaction in the style of their mother tongue acquisition. A new implanting situation with numerous implanting micro-situations arises. Supplemented by proven cognitive, interactive, and explorative methods, an affective multilingual and multicultural competence can develop. In this way, the person's epigenesis as a European is looming.

Keywords: Spracherwerb als Lebenspraxis, implantierende Situation, Europa als affektiver Raum, affektive Mehrsprachigkeit, Language acquisition as life praxis, implanting situation, Europe as affective space, affective plurilingualism

How to Cite:

Müller-Pelzer, Werner (2024): Interkulturelles Sprachenlernen in europäischer Perspektive – eine Projektskizze des MONTAIGNE-Programms. 2. Teil: Anwendung. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 29: 2, 259–281. https://doi.org/10.48694/zif.3979

1 Affektive Mehrsprachigkeit in Europa regenerieren

Im ersten Teil des vorliegenden Aufsatzes (Müller-Pelzer 2024a) ist hervorgehoben worden, dass sich das interkulturelle Sprachenlernen in europäischer Perspektive von der distanzierten, globalen Perspektive unterscheidet, wie sie bei der Betrachtung von Sprachen, dem Spracherwerb und der Mehrsprachigkeit in Europa aktuell vorherrscht (vgl. stellvertretend Roche 42020). Die globale Perspektive der Analytiker ist reduktiv (vgl. Gerhards 2010; van Parijs 2011; dazu kritisch Inal 2022 und Nagel 2012). Man denke an folgendes Beispiel: Wer Äpfel über alles liebt, wird kaum akzeptieren, dass Äpfel etwa mit Birnen unter der Kategorie Obst im Namen der Gerechtigkeit ‚gleich‘ behandelt werden können. So wie Äpfel und Birnen sind Sprachen für diejenigen, denen sie subjektiv etwas bedeuten, auf objektiver Grundlage nur unter Abstrahierung der charakteristischen Qualitäten, also in verarmter Weise miteinander verrechenbar.1 Im vorliegenden Text ist demgegenüber die Perspektive des affektiv von einer europäischen Sprache Betroffenen der Maßstab der Untersuchung. Der Nutzen, den das globale Englisch heutzutage hat, kann in keiner Weise die subjektive Bedeutsamkeit z.B. des Ungarischen als ausgebaute Hochsprache für die Ungarisch Sprechenden und ggf. für die Ungarisch Lernenden schmälern. Wer als Sprecherin oder Sprecher in das Ungarische in seiner ganzen Breite eingewachsen ist, wird auch über die Umgangssprache hinaus auf keinen Anwendungsbereich verzichten wollen. Der Erwerb der Muttersprache gehört zu den markantesten subjektiven Eindrücken, die sich in den Leib ‚einschreiben‘ und dem Ich im weiteren Leben Kontinuität vermitteln.2 Sprachen und Sprachenpolitik unter dem Gesichtspunkt der Funktionalität zu kommentieren, betrifft ein anderes Thema. Doch in beiden Fällen gilt: Die europäischen Sprachen vor das Tribunal der Gerechtigkeit (van Parijs) zu zitieren, ist verfehlt. Im Fall der subjektiv nahegehenden Muttersprache gibt es keinen (unparteiischen) Richter, und im Fall der sprachlichen Funktionalität geht es um ein kluges Abwägen von Vor- und Nachteilen. Deshalb sollte zusätzlich zu Art. 22 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union: „Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.“ der Art. 7 in Kapitel I eingefügt werden unter dem Titel „Recht auf den Erhalt der Landessprachen“: „Jede Person hat das Recht auf den Erhalt der Landesprache in ihrem vollen Umfang.“3

Das im vorliegenden Text erörterte interkulturelle Sprachenlernen in europäischer Perspektive ist kein Sachverhalt, der in erster Linie aus methodischer Distanz analysiert werden könnte,4 – so als ließe sich nach einer Herztransplantation über das neue Organ das Wesentliche aus der distanzierten ärztlichen Perspektive sagen. Es ist ein schneidender Unterschied, ob die eventuell auftretenden Komplikationen mich unmittelbar leiblich betreffen oder ob sie über einen Monitor für jede/n beliebige/n Spezialistin oder Spezialisten weltweit objektiviert werden. ‚In europäischer Perspektive‘ meint hier, dass der gegenwärtige und vermutlich zukünftige Zustand europäischer Sprachen bei ausreichender Erfahrung einem so nahe gehen kann, wie es im Fall der zitierten Herztransplantation der Fall ist. Wenn bei Sprachen wie beim eigenen Herzen von affektiv Betroffenen eine kritische Lage konstatiert wird, die ohne sachkundige Maßnahmen zum Tod führen dürfte, werden die Betroffenen in beiden Fällen die wissenschaftliche Distanz kaum als die einzig angemessene Perspektive akzeptieren. Die notwendige Rettung wird in beiden Fällen für die Betroffenen eine subjektiv gespürte Dringlichkeit erhalten, die sich im Fall des Herzens von der objektiven (kardiologischen) Dringlichkeit zu handeln grundsätzlich unterscheidet, selbst wenn es von außen betrachtet um dieselben Maßnahmen geht. Entsprechendes gilt für die eigene Sprache.

Aus diesem Grund wird die affektive Mehrsprachigkeit in Europa von der funktionalen Mehrsprachigkeit unterschieden, wie sie von den EU-Eliten vertreten wird. Allerdings stößt man damit in der Praxis auf Schwierigkeiten. Es gibt zwar unabsehbar viele Gelegenheiten und Weisen, um sich von einer unbekannten Sprache atmosphärisch berühren oder leiblich ergreifen zu lassen (siehe Beispiele in Müller-Pelzer 2024b: 144–166). Doch die von ökonomischen Interessen angetriebene Verbreitung des globalen Englisch in Europa desensibilisiert in der Breite den unwillkürlichen, von gesellschaftlichen Zwecken unbelasteten Zugang zu einer unbekannten Sprache und der diese einbettenden Lebenspraxis5. Zunehmend mehr Lebensbereiche werden in den Nutzenkalkül des globalen Wirtschaftens hineingezogen: In erster Linie zwischen ‚Gewinnern‘ und ‚Verlierern‘6 zu unterscheiden, hat ein gesellschaftliches Klima entstehen lassen, das gegenläufige Maßstäbe ausblendet: Affektivität kann in der Tat so formatiert werden, dass sie „zur „Abwehr oder Neutralisierung möglicher Weltbezüge“ (Slaby 2023b: 1) dient und damit zur Entwirklichung (vgl. Slaby 2023a) führt. Angesichts der verunsichernden Gleichung ‚Europa = Europäische Union und sonst nichts‘ dürften Diskrepanzerfahrungen für europäische Studierende, die sich Klarheit über Europa verschaffen wollen, deshalb unausweichlich sein.

Aus lernpsychologischer Sicht können Entfremdungserfahrungen als Lernsituationen in einem nicht-trivialen Sinn bezeichnet werden. Jene haben es – wie Jürgen Straub (1993) unter Hinweis auf Klaus Holzkamp sagt – stets mit der Diskrepanz zu tun, mit einem Problem nicht auf die gewohnte Weise fertig werden zu können. Durch das Scheitern bisheriger Problemlösungen geht der betroffenen Person das eigene Unvermögen schmerzlich nahe, sich einen Zugang zu ihrer Umgebung zu verschaffen, der ihrem Erlebnis- und Handlungspotenzial entspricht. „Die besagte Diskrepanzerfahrung muss am eigenen Leib gemacht und als Provokation bewertet werden.“ (Straub 2010: 73) Aus bildungstheoretischer Perspektive ergänzt Dietrich Benner, dass negative Erfahrungen im Lern- und Bildungsprozess unvermeidlich und unentbehrlich sind (Benner 2005: 19). Die grundlegende Rolle negativer Erfahrungen für existenziell bedeutsame Bildungserfahrungen hebt der Autor unter Rückgriff auf das Platonische Höhlengleichnis mit dem Ausdruck der „Umlenkung des Blickes“ (Benner 2015: 485), bzw. dem der „Blickwendungen“ (483, 488) hervor.

Aus phänomenologischer Perspektive handelt es sich um die Zuspitzung eines Prozesses, die Hermann Schmitz folgendermaßen charakterisiert: „Im plötzlichen, elementar-leiblichen Betroffensein tritt Wirklichkeit hervor […].“ Oder anschaulich formuliert: „Der Träumer fällt auf den Boden der Tatsachen.“ (Schmitz 21995: 51). Deshalb bedarf es einer Analyse, um Wege aufzuzeigen, wie europäische Studierende den Erfahrungen der Selbstentfremdung (Vigo Pacheco: 2023: 8; Müller-Pelzer 2024b: 220) begegnen und Europa als affektiven Raum in ihr Leben integrieren können. Damit wird deutlich, dass sich mit dem MONTAIGNE-Programm das methodische Spektrum des Fremdsprachenerwerbs für Erwachsene um eine neue Facette erweitert.

Ein lebenspraktisch basierter Spracherwerb in europäischer Perspektive, der im jeweiligen Land für europäische Studierende aller universitärer Disziplinen frei von Fachveranstaltungen vom ‚Nullniveau‘ aus angeboten wird, ist ein Novum – und ein Wagnis. Neuartig ist das Einbeziehen der präreflexiven Erfahrung in den Prozess des Spracherwerbs. Von einem sprachlichen ‚Nullniveau‘ kann deshalb nur unter Vorbehalt (in Anführungszeichen) gesprochen werden, denn die leibliche Kommunikation und Interaktion ist von Anfang an ‚da‘ – beim Neugeborenen wie beim ‚Novizen‘ in einem unbekannten Land. Leibliche Kommunikation ist darüber hinaus das Medium des sich von Situation zu Situation wandelnden Lebensvollzugs, des Affiziert-Werdens durch Atmosphären sowie des Ergriffen-Werdens durch Gefühle. Die aus dem chaotisch mannigfaltigen Lebensvollzug herauswachsende Sprache expliziert diesen je nach Bedarf als bestimmte Einzelheiten: Jetzt kann von diesem Sachverhalt, diesem Programm oder diesem Problem gesprochen werden, ohne den diffusen „Hof der Bedeutsamkeit“ (Schmitz 2002: 26) der hintergründigen Situation zu eliminieren. Die satzförmige Rede in der Zielsprache zu erschließen, ist deshalb nicht reduktiv als ein kognitiver Prozess, sondern als Abstandnehmen von einer subjektiv affizierenden, aber binnendiffusen Situation sowie als Abheben von Bedeutungen (Sachverhalten, Programmen und Problemen) zu verstehen. Dementsprechend wird im Europa-Semester nicht die sprachliche Virtuosität im Sinne der messbaren Kompetenzniveaus des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens Sprachen (GERS) angestrebt; ebenso wenig spielen einschlägige sprachliche und kulturelle Progressionsmodelle eine Rolle, die mit Datensätzen operieren, welche über abstrahierende Messverfahren ermittelt worden sind. Der Erfolg des MONTAIGNE-Programms bemisst sich vielmehr am Gruppenfortschritt, mit zunehmend anspruchsvollen Begegnungssituationen im Land sprachlich und leiblich-atmosphärisch kompetent umgehen zu können. Ein, aber nicht der einzige Gradmesser dürfte es sein, ob Studierende in Erwägung ziehen, im Anschluss ein optionales Praktikum bzw. ein optionales reguläres Studiensemester zu wählen.

Wagnis: Den Spracherwerb nicht vorwiegend als Technik, sondern als Teil der Lebenspraxis aufzufassen, schließt ein, dass von präreflexiven Erfahrungen wie Stimmungen, Atmosphären und Gefühle nicht abstrahiert wird. Hebende und faszinierende Eindrücke (vgl. Müller-Pelzer 2024b, Kap. 4) können sich mit prägenden Spracherwerbserfahrungen verbinden. Die These, die hier vertreten wird, lautet, dass auch Diskrepanz- und Entfremdungserfahrungen dadurch überwunden werden können. Grundsätzlich gilt, wie Jan Slaby es ausdrückt: „Affektivität ist der Hintergrund jeglicher Thematisierung – sie ist also immer schon ‚da‘, wenn Seiendes überhaupt manifest wird.“ (Slaby 2013: 27)7

Der Einfluss der verbreiteten positivistischen Weltanschauung sollte allerdings nicht unterschätzt werden. Warum, so dürfte vor der Entscheidung für das MONTAIGNE-Programm ein Einwand lauten, soll ich nicht vor dem Antritt des Urlaubssemesters einen Sprachkurs besuchen? Selbst wenn bereits im Vorbereitungssemester an der Heimathochschule eine fundierte Antwort gegeben worden ist, muss bei ersten Widerständen im Zielland damit gerechnet werden, dass diese Frage erneut gestellt wird. Deshalb ist darauf hinzuweisen, dass die übliche, im Hochschulstudium eingeübte distanzierte Haltung es allein mit einer ‚halbierten‘ Empirie zu tun bekommt, dass aber die Absicht des MONTAIGNE-Programms die Überwindung dieser Reduktion und Schienung der Perspektive ist. „The normal subject experiences no gap between the cognitive and the pathic: their feelings are a precise reflection of the subject’s relationship – qua psychophysical being – with their environment.“ (Griffero 2020: 96)8

Die fünf meistgelernten europäischen Sprachen Englisch, Deutsch, Spanisch, Französisch und Italienisch scheiden bei der Sprachenwahl aus: Um utilitaristische Überlegungen der politischen, praktischen und symbolischen Machtsteigerung zu vermeiden, sind allein die zahlreichen übrigen europäischen Sprachen wählbar. In unvorhersehbarer Weise wirken vielsagende Eindrücke auf die Studierenden ein und fordern die bisherige persönliche Fassung heraus.

Das Thema ‚Sprachenwahl‘, wie es sich in konventionellen Austauschprogrammen früher stellte, wird damit durch die Frage ersetzt: Was berührt mich, was zieht mich an, wenn ich an diese oder jene europäische Sprache in diesem oder jenem Land denke? Bereits zu Beginn des MONTAIGNE-Programms die pathische Haltung einzunehmen, ist von großer Bedeutung: Das Nützlichkeitsdenken in der gegenwärtigen Gesellschaft hat die Vorstellung, sich von vielsagenden Eindrücken leiten zu lassen, fast zu einem skándalon, zu einem Stein des Anstoßes werden lassen. In dieser den leiblich affizierenden Eindrücken geöffneten Haltung spiegelt sich bereits das außerordentliche Potential Europas als affektiver Raum.

Unter Anleitung des pädagogischen Teams werden die zusammenkommenden Studierenden gleichsam einen Schritt zurücktreten, um das Sichfinden in der Umgebung über leibliche Kommunikation9 und speziell über die „Einleibung“ (Schmitz 21995: 135–153; ders. 2011: 29–53) zu erleben. Alle vielsagenden Eindrücke, die auf einen eindringen, werden vorsprachlich bearbeitet, weil „Brückenqualitäten […] sowohl am eigenen Leib gespürt als auch an Gestalten wahrgenommen werden können“ (Schmitz 2005: 137; 2011: 29–30), nämlich als Bewegungssuggestionen (z.B. Zeigen, Auffällig-Werden von leiblich imponierenden, visuellen und akustischen Gestalten, bei architekturaler und städtebaulicher Gestaltung) und als synästhetische Charaktere (das Sanfte, Raue, Schwingende, Harte usw.) bei natürlichen Phänomenen (Wind, Landschaft, Wald, Felsen), beim ganzheitlichen Eindruck begegnender Personen, beim Sich-Artikulieren der Menschen usw. Die Bedeutsamkeit der jeweiligen Situation wird gespürt; sie ist als vorsprachliche noch binnendiffus, d.h. noch nicht begrifflich bestimmt, sehr wohl aber charakteristisch, so dass man bei der Rückbesinnung mit einem kundigen Gesprächspartner im Nachhinein sagen kann: ‚Nein, das war es nicht.‘ oder: ‚Genau, das war es!‘

Die dann in der ersten Woche des Europa-Semesters pädagogisch motivierten Aktivitäten lassen sich grob in vier Aktionsarten einteilen.

2 Die vier Dimensionen des Europa-Semesters

Im Verlauf des Europa-Semesters im Rahmen des MONTAIGNE-Programms stellt sich konkret eine vierfache Aufgabe:

  1. die Diskrepanzerfahrungen europäischer Studierender zu bearbeiten und die Entfremdung von Europa als affektivem Raum abzubauen,

  2. die positivistische Reduktion, Schienung und Filterung der Lebenserfahrung rückgängig zu machen und die präreflexive, präpersonale und vorsprachliche Erfahrung zu erschließen,

  3. den an die kindliche Epigenese angelehnten Spracherwerb aus leiblicher Betroffenheit mit einem regelgestützten Sprachunterricht zu kombinieren,

  4. sich einem unbekannten Europäisierungsstil taktvoll zu nähern, sich über die dabei gesammelten Eindrücke klar zu werden und diese in der Zielsprache ansatzweise zu explizieren.10

Den vier Aufgaben entsprechen vier pädagogische Pfade (ausführlich Müller-Pelzer: 2024b, Kap. 3).

2.1 Die Auflösung von Diskrepanzerfahrungen

Die verunsichernden Eindrücke und verstörenden Gefühlsatmosphären, die mit den zurückliegenden Diskrepanzerfahrungen verbunden sind, stellen den hauptsächlichen Grund für die Wahl des MONTAIGNE-Programms dar. Sie üben einen großen Druck auf die Fassung der betroffenen Studierenden aus. Deshalb kann die Behandlung dieses Problems nicht hinausgeschoben werden. So wird das pädagogische Team im Rahmen des ersten pädagogischen Pfades in der ersten Semesterwoche die Gruppenmitglieder einladen, von ihren Erfahrungen zu erzählen11, die bei ihnen individuell zur Teilnahme am MONTAIGNE-Programm geführt haben. Dieser pädagogische Pfad kommt nicht ohne den Rückgriff auf eine von den anwesenden europäischen Studierenden gesprochene bzw. verstandene Sprache aus. Welche dies sein wird, hängt von der Zusammensetzung der Gruppe ab.12 Das pädagogische Team übernimmt in dieser Situation die Funktion von Coaches, die die Studierenden in der Selbstklärung ihrer biographischen Lage unterstützen. Diese Coaching-Tätigkeit ist keine therapeutische Praxis, sondern daran ausgerichtet, zu einem verständnisvollen Umgang mit dem anzuleiten, was den Studierenden widerfahren ist. Das Motto wird sein: ‚Die Sache ernst nehmen, aber sich selbst nicht zu ernst zu nehmen.‘ „Sich-Erzählen“ (Straub 2019) im geschützten Raum der MONTAIGNE-Gruppe stellt eine Form der Distanznahme dar, die einen ersten Spielraum eröffnet, um sich das eigene Verhalten vor Augen zu führen und vorsichtig vom starren Festhalten am hohen Niveau personaler Emanzipation (z.B. Ich habe recht. oder Ich lasse mich nicht unterkriegen.) abzurücken. Für den Fall einer schon brüchigen Fassung gilt: Selbst bei der ausweglos erscheinenden, von Momenten aufflackernder Empörung unterbrochenen Niedergeschlagenheit (personale Regression) lässt sich beim Sich-Erzählen mitunter ein unbeachtetes, aber hilfreiches Detail ausmachen. Indem die zurückliegende Diskrepanzerfahrung als Phase der Lebensgeschichte aller thematisiert wird, dürfte sich schnell herausstellen, welche unangenehmen bis schmerzhaften Erfahrungen den übrigen Teilnehmern beim Thema Europa zugestoßen sind. So kann z.B. die peinliche Erinnerung an die Hörigkeit gegenüber der Formel Europa = EU als gemeinsame Erfahrung verständlich und nach dem Austausch mit anderen Studierenden von sich abgerückt werden. Das Sich-Erzählen wird für die anwesenden Gruppenmitglieder zunehmend zu einer Anregung, die eigenen Erfahrungen zu rekapitulieren und neu zu gewichten, Ähnlichkeiten und Differenzen im eigenen Erleben festzustellen, Ergänzungen beizusteuern, Korrekturen vorzuschlagen und neue Motive einzubringen. Sich über Diskrepanzerfahrungen auszutauschen, eröffnet den Studierenden schrittweise die Chance, die leiblich engende Last drohender personaler Regression abzuwerfen, ja sogar über sich selbst zu lachen13. Lachen lässt die personale Regression nicht nur zu, sondern nutzt seine komplexe Leistung für die Rückgewinnung einer flexiblen Fassung (vgl. Schmitz 21995: 167–168). Im Lachen kann die personale Regression bejaht werden: Das Eintauchen in affektives Betroffensein erfolgt in der Erwartung, danach ein flexibleres Niveau personaler Emanzipation zu erreichen. Im vorliegenden Fall werden die erzählten, auf persönliche Distanz gebrachten Diskrepanzerfahrungen enttabuisiert. Vor allem aber können die MONTAIGNE-Teilnehmer ohne theoretische Erörterungen bereits in der ersten Woche an sich selbst exemplarisch die subjektive Erfahrung des leiblichen Betroffenseins machen, d.h. sich der Grundlage versichern, von der alle Aktivitäten des Programms ihren Ausgang nehmen.

2.2 Sich-Einleben in gemeinsame Situationen

In der anfänglich angespannten Lage wird im weitgehend vorsprachlichen, zweiten pädagogischen Pfad auf leiblich-körperliche Interaktion zurückgegriffen, um die bei manchen Gruppenmitgliedern verhärtete Fassung aufzulockern bzw. bei anderen deren labile Fassung zu stützen. Das Einwachsen in implantierende gemeinsame Situationen während des Europa-Semesters ist für europäische Studierende eine unerlässliche Erfahrung, um die Vereinzelung durch die leiblich affizierenden Diskrepanzerfahrungen zu überwinden. Gelegenheiten zu erhalten, um in unverbindlicher Weise aus sich herausgehen zu können, bedeutet, sich einer aktuell gespürten Situation, einer subjektiv berührenden Atmosphäre oder einer momentanen Laune zu überlassen, d.h. personale Regression spielerisch zuzulassen. Affektive Blockade bzw. affektive Unsicherheit, zusammen mit dem sie begleitenden Missvergnügen oder Leiden, welche vom Ernst des Lebens diktiert werden, sollen im Spiel aufgelöst und mit Belustigung oder Lachen quittiert werden. Um eine solche Flexibilisierung der Fassung zu ermöglichen14, ist die Einstellung spielerischer Identifizierung15 unerlässlich. Im Spiel, d.h. durch die Einklammerung der Tatsächlichkeit, besteht die Aussicht, dass entweder die unter Druck stehende, starre Fassung ein wenig gelockert oder aber die labile Fassung entlastet werden kann. Die Techniken des Improtheater erinnern insofern an die vom Programm vorgesehene, punktuelle spielerische Übernahme der Rolle eines Kindes, als die einbettenden gemeinsamen Situationen die sprunghafte Affizierbarkeit und den schlagartigen Wechsel der Aufmerksamkeitsrichtung ‚abfedern‘. Zudem stehen praktische, vorsprachliche Übungen auf dem Programm, die denen des Schauspielunterrichts ähneln (vgl. Peier/Felder/Slamanig 2019). Im Europa-Semester geht es jedoch weder um ein (fiktives) Bühnenspiel, noch um (fingierte) Alltagssituationen (Improtheater), sondern darum, als Mitglieder einer Studiengruppe durch Probehandlungen ihr wirkliches Sich-Finden in Lebenssituation zu zeigen. Indem jede / jeder versucht, das eigene, diffus gespürte Selbst-Sein den Gruppenmitgliedern spielerisch zu vorzustellen, kommt leibliche Kommunikation in der Spielart der wechselseitigen Einleibung16 in Gang. Hinlänglicher vitaler Antrieb, Reizempfänglichkeit und die Fähigkeit, ‚mitgehen‘ zu können, sind die Voraussetzungen, um voneinander vielsagende Eindrücke aufzunehmen, zu verarbeiten, verstärkend oder modulierend zu bearbeiten und zu einer eigenleiblichen Resonanz zu gelangen.

Mit dem Rückgang auf präreflexives, leibliches Spüren und Fühlen wird das kulturell verschüttete, durch aktuelle Diskrepanzerfahrungen zusätzlich blockierte leibliche Kommunizieren unter den Beteiligten aktiviert. Die zunächst ungewohnte Interaktion – das Mitschwingen mit dem Befinden der anderen Gruppenmitglieder – fördert vom ersten Tag an das Überschreiten einer konventionellen includierenden gemeinsamen Situation. Die tägliche Begegnung bei den gemeinschaftlichen Tätigkeiten sowie die implizite, auf Europa gerichtete affektive Intentionalität der Teilnehmer schafft umstandslos eine Atmosphäre des stillschweigenden Einvernehmens. Vor allem dürften durch gemeinsame Projekte und den Erfahrungsaustausch (dritter Pfad) anspruchsvolle gemeinsame Gefühlsatmosphären entstehen. Das leibliche Anteilnehmen unter den Partnern (leibliche Kommunikation) und das Entstehen von Sympathie und Verlass, dann auch von gegenseitigem Vertrauen und Zuversicht (Gefühlsatmosphären) sind Voraussetzungen für eine dauerhafte Gruppensolidarität (implantierende gemeinsame Situationen), zumal keine grundsätzliche Trennung von Spielern und Zuschauern vorliegt: Turnusmäßig werden Spieler zu Zuschauern und umgekehrt. Voraussetzung ist der geschlossene Raum der Gruppe, der den Beteiligten vor einer befürchteten Bloßstellung bzw. einem Fassungsverlust Schutz gewährt. Sich spielerisch in sprachfreie Situationen hineinzubegeben, erleichtert das Erfassen der Bedeutsamkeit gemeinsamer Situationen (und die dann schrittweise erfolgende Einleibung in die Rede).

Diese allgemeine Charakterisierung der Einleibung als Fühler für das, ‚was atmosphärisch los ist‘, dürfte sich auf besondere Weise beim Erschließen eines kollektiven Resonanzraumes bewähren, wie er beim Zusammentreffen der europäischen Studierenden im Rahmen des MONTAIGNE-Programms entsteht.

2.3 Einwachsen in eine unbekannte Sprache

Allerdings können Übungsformen, die ganz auf Sprache verzichten, lediglich eine punktuelle Entspannung, aber keine nachhaltige Neuordnung der erschütterten Fassung bewirken. Die erlittene personale Regression nur schematisch und kurzfristig zu überspielen, reicht nicht aus, um der jeweils individuellen Diskrepanzerfahrung auf den Grund zu gehen. Die permanente leibliche Interaktion (Formen wechselseitiger Einleibung) ist der Grund, warum statt von einem gezielten Spracherwerb hier vom ‚Einwachsen‘ in eine unbekannte Sprache gesprochen wird: Es handelt sich nicht um einen einseitig aktivischen Prozess, sondern um eine Verschlingung von präpersonaler und personaler Erfahrung.17 Durch ihre prosodische Ausdrucksgestalt kann die Rede in einer gemeinsamen Situation bei hinreichender leiblicher Rezeptivität den Anstoß geben, um ‚aus sich herauszugehen‘, d.h. die binnendiffuse Situation gestisch-sprachlich durch das zunächst rudimentäre explizierende ‚Aufspießen‘ einzelner Sachverhalte zu überschreiten. Die satzförmige Rede ist der „Ausbruch aus der Gefangenschaft“ der Situationen (Schmitz 2017: 14). Das pathische Moment des Leiblichen (vgl. Böhme 2003: 60) wird überholt durch den Zug zu personaler Emanzipation. Mit dem Einwachsen in die neue Sprache brennen sich nicht selten die ersten auswendig gelernten Kollokationen, Sätze und Liedtexte als prosodisches Modell gleichsam ins Gedächtnis ein und bleiben häufig ein Leben lang abrufbar. Bereits vor einem analytischen Verstehen des Gehaltes kann – bei jedem Sprachlerner unterschiedlich – z.B. die Lautgestalt eines Spruches oder eines Verses, die Eigenart der Sprecherin oder des Sprechers, die gemeinsame Situation in der Lerngruppe oder auch alle Faktoren zusammen, eine leiblich affizierende Atmosphäre hervorrufen, die als subjektive „Adressiertheit“ der binnendiffusen Bedeutsamkeit der Situation erfahren wird (Schmitz 1997: 41). Mit der dann einsetzenden Explikation der Situationen durch satzförmige Sprache kommt es zu einer Veränderung der persönlichen Situation (Persönlichkeit): Im aktuellen Vollzug oder nach einer gewissen Zeitspanne drängt sich die Evidenz auf: ‚Das gehört zu mir.‘ Dieser Eindruck ist nicht in Einzelnes zu zerlegen, ist nicht ‚dekonstruierbar‘.

Die Anlehnung an die kindliche Epigenese bedarf aber einer Ergänzung. Alle Studierenden verfügen bereits über mehrere konventionelle Sprachlernerfahrungen; dementsprechend kann sich die Sprachaneignung während des Europa-Semesters nicht auf das kindliche ‚Aufschnappen‘ ungeordneter, sprachlicher Fragmente beschränken. Deshalb werden neben interaktiven (und später explorativen) Methoden ergänzend vertraute kognitive Lernmethoden eingesetzt, die dank der analytischen Distanz zur Rede Regelwissen ermöglichen (vgl. Hallet/Königs/Martinez 32019). Dabei ist nicht zu vergessen: Auch die Konzentration auf bestimmte sprachliche Regelmäßigkeiten, Strukturen, Wortfelder usw. geht mit einer leiblich spürbaren Engung einher; die erfolgreiche Aneignung wird als leibliche Weitung gespürt, das Anbahnen und Führen eines Gesprächs durch antagonistische, wechselseitige Einleibung vorbereitet und unterstützt. In diesem Prozess wird das neu Gelernte durch die ursprüngliche leibliche Affizierung mit der subjektiven Bedeutsamkeit zusammengeschlossen: Was leiblich als auffällig, aber diffus gespürt wurde, wird durch die explizierende Rede dank der sich abhebenden Sachverhalte, Programme und Probleme durchsichtig; umgekehrt erscheinen diese in einer tieferen Bedeutsamkeit, wenn der affizierende, situative Hintergrund durchscheint.

Anders als das Kind leben die Studierenden bereits auf unterschiedlichen Niveaus personaler Emanzipation und verfügen über ein Weltwissen, das ihnen die Beherrschung des im Ausland Begegnenden durch die Bildung abstrahierender Konstellationen erlaubt. Statt wie beim Kind die personale Emanzipation zu unterstützen, besteht die Aufgabe der europäischen Studierenden darin, in die ganzheitliche pragmalinguistische Kompetenz bei Gesprächs- und Begegnungssituationen der neuen Kultur durch Einleibung einzuwachsen. Was als wiederkehrend, ausdrucksstark, affizierend oder ergreifend empfunden wird, kann sich zu Kristallisationspunkten einer Gefühlsatmosphäre verdichten, die in der wiederholenden Erinnerung als Referenzpunkte der Persönlichkeitsentwicklung dienen.

Die sich in der Lerngruppe einspielende leibliche Einprägung der Lautung (Artikulation der Vokale, Konsonanten, Silben, Worte, Satzbetonung usw.) wird zu Übungszwecken auch durch eine überdeutliche Kopf- und Mundhaltung unterstützt. Die durch die leiblich ansprechenden Vorübungen geweckte Sensibilität für das Melodische (Hebungen – Senkungen, Dehnungen – Verkürzungen) sowie für die Rhythmik (Wortbetonung, Satzbetonung) etwa beim Lautieren (Melodie der Satztypen), chorischem Sprechen und beim Chorgesang, können für ein affektives Verhältnis zu Sprache und Kultur kaum überschätzt werden. Die akustische Eindrücklichkeit sprachlicher Regelmäßigkeiten und die affektive Tönung treiben einander voran: Wer bereit ist, sich von der Rede in einer neuen Sprache affizieren zu lassen, will sie möglichst korrekt sprechen, und wer die sprachliche Performanz verbessert, verstärkt dadurch die affektive Bindung an die Sprache. Die Formung der Lautketten durch Wiederholung ist im Ergebnis von ihrer situativen Bedeutsamkeit nicht zu trennen und kann sich als partnerschaftliche, familiäre, schichtenspezifische, lokale, regionale oder national-kulturelle Färbung untrennbar mit der persönlichen Situation verbinden (vgl. detailliert Müller-Pelzer 2024b, Kap. 4).

Da die Studierenden als junge Erwachsene darin geübt sind, auf unterschiedlichen Niveaus personaler Emanzipation zu leben (Gelassenheit, Begeisterung, Kalkül, Ausgelassenheit, Gefasstheit, Resilienz, Zielorientierung, Fantasie usw.), bleibt es nicht beim anfänglichen, an kindliches Verhalten erinnerndes punktuelles Explizieren von Sachverhalten, Programmen und Problemen. Diese Gemeinsamkeit stiftende Anfangsphase wird durch das adulte Verknüpfen von Faktoren, das Erkennen von Mustern und das Bedürfnis nach Systematisierung sprachlicher Regeln überholt. Gleichwohl wird der halb ironische Rückgriff auf das kindliche Register (sachliche Verwechslungen, sprachliche Fehlgriffe, idiosynkratische Formen usw.) weiterhin erhalten bleiben.

Zusätzlich zur implantierenden Gruppensituation dürften sich Zweier- oder Dreiersituationen bilden (implantierende Mikrosituationen). Durch den intensiven täglichen Kontakt dürfte sich recht schnell herausstellen, wer sich mit wem über existenziell wichtige gemeinsame Themen verständigen will und kann. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Gesprächspartner über eine gemeinsame, ggf. dritte Sprache verfügen, über die sie sich zusätzlich verständigen können.

Das mit dem Beginn des Europa-Semesters einsetzende präpersonal-personale Verstehen über kulturelle Schwellen hinweg bricht mit der Annahme, dass Studierende in erster Linie über ein elaboriertes sprachliches Niveau sowie Diskurskompetenz, Schulung in Techniken der Distanzierung wie Ambiguitätstoleranz, Empathie, Dezentrierung usw. interkulturell kompetent werden. Die herrschende technische Zivilisation hält die Menschen dazu an, das eigene Befinden und das Verhältnis zu ihrer Umgebung aus der Beobachterperspektive zu betrachten und im Hinblick auf praktische Eingriffe konstellationistisch zu filtern und zu verkürzen. Demgegenüber bietet das Europa-Semester die Gelegenheit, sich leiblich ansprechen und betreffen zu lassen, – von den Dingen und Halbdingen (wie der Wind, der Schmerz, die reißende Schwere, die Stimme, Blicke u.v.m.; vgl. Schmitz 2016: 185–188), aber eben auch von der Ausdrucksgestalt der neuen Sprache (Schmitz 2016: 187). Ein Ausdruck ist charakteristisch, aber binnendiffus; er lässt sich nicht auf den Begriff bringen. Was der leiblich affizierende Ausdruck mitteilt, ist nicht selten ansprechend, packend, fesselnd, aber unübertragbar. Die Bedeutsamkeit wird mit hermeneutischer Intelligenz schonend umkreist; das Aufsprengen der Situation besorgt die sprachlich-zergliedernde Intelligenz.

2.4 Rede als Ausdrucksgestalt und als Explikation von Bedeutungen

Der dritte pädagogische Pfad wird für die jungen Erwachsenen zur Gelegenheit, um in selbständiger Prüfung auffälligen Situationen nachzugehen, um mit den Gruppenmitgliedern sprachlich zu explizieren,18 was diese ihnen ‚angetan‘ haben. Auf den ersten Blick scheinen die dafür notwendigen sprachlichen Fähigkeiten in der Kürze der verfügbaren Zeit schwer zu realisieren sein. Doch das zeitliche Volumen des vorgeschlagenen Europa-Urlaubssemesters mit einer Dauer von max. 16 Wochen ist nicht mit einem üblichen Studiensemester zu vergleichen, das von insgesamt ca. 480 Wochenstunden Arbeitsvolumen (durchschnittlich 20 Semesterwochenstunden Präsenz, maximal 10 Wochenstunden Vor- und Nachbereitung) ausgeht. Im Europa-Semester wird es keine Trennung zwischen fachspezifischem Studium und Freizeit geben, weil der nicht gelenkte Spracherwerb, das programmierte Sprachenlernen sowie das Sich-Einleben in der jeweiligen Kultur und Umgebung das alleinige Thema des Semesters sind. Die Bildung implantierender gemeinsamer Mikrosituationen sowie einer gemeinsamen, diese Situationen überwölbenden implantierenden Situation sprechen dafür, dass trotz der lediglich vier Monate Lebens- und Sprachpraxis das Verstehen mit externen Gesprächspartnern gelingen kann. Im Zusammenleben mit den europäischen Kommilitonen ist die „Sensibilität für das Mitschwingen-können“ (Großheim 2008: 22) geweckt worden und bildet das leiblich-atmosphärische Potential, das bei Kontakten mit der Bevölkerung vor Ort19 den sprachlich zunächst noch rudimentären Ausdruck stützt.

Die im vierten pädagogischen Pfad vorgesehene explorative Tätigkeit zweier (oder dreier) Studierender dient dem Zweck, dass die Entdeckung eines affizierenden ‚Gesichts‘ von Europa keine individuelle Erfahrung einzelner Studierender bleibt, sondern dass die Verschiebung des Orientierungs- und Weltbezugs hin zu Europa als affektivem Raum aus der Gruppenerfahrung der MONTAIGNE-Gruppe erfolgt. Für sich genommen ist es bereits eine Erfahrung von Europa als affektivem Raum, wenn Studierende aus unterschiedlichen europäischen Ländern durch das Einwachsen in eine Sprache zu gemeinsamen Gefühlsatmosphären vorstoßen. Diese Evidenz ist als treibende Kraft notwendig, um darüberhinausgehend zusammen mit Vertretern der Gastkultur gemeinsame Situationen zu erschließen, die für die Erfahrungen der Studierenden anschlussfähig werden. Das heißt, es ist nicht mehr ein irischer bzw. niederländischer Student oder eine griechische bzw. litauische Studentin, die eine binäre Beziehung zu Vertretern des Gastlandes aufbauen, sondern es sind junge Europäer bzw. junge Europäerinnen, die die Erfahrung gemeinsamer Gefühlatmosphären in einem leiblichen Resonanzraum, d.h. in der MONTAIGNE-Studiengruppe, bereits gemacht haben. So verschlingen sich Spracherwerb, Persönlichkeitsentwicklung und Einwachsen in der Kultur im prädimensionalen Raum leiblichen Spürens und Kommunizierens.

Wie die kindliche Epigenese (vgl. Schmitz 2017) wird auch die zweite, europäische Epigenese etliche Störungen überwinden müssen: Auch die jungen Erwachsenen werden beim Kontakt mit Menschen aus der Umgebung die Erfahrung des ‚Fremdelns‘ (sozialer Gefühlskontrast), der stockenden Sprechfähigkeit (Explikationshemmung), der ungewohnten Regelung von interpersonaler Nähe und Distanz (leiblich-atmosphärische Passung) usw. machen. Um diese Hürden spielerisch zu nehmen, ist die Exploration zu zweit oder zu dritt hilfreich. Im Zusammenspiel der präreflexiven Ebene mit dem Erwerb situationsgemäßer Sprechmittel entsteht eine Kompetenz für kulturell differente Situationen, welche sich von konventionellen positivistischen Definitionen deutlich unterscheidet: Neben Regeln – so Schmitz – benötigen Menschen

ein Organ für Situationen mit ganzheitlich-binnendiffuser Bedeutsamkeit, im Sinne eines Verständnisses und eines Könnens, sich in dieser Bedeutsamkeit zu bewegen und damit umzugehen. Dieses Organ bezeichne ich als Kompetenz. […] Der Mensch erwirbt vom Anfang seines Lebens an, längst vor der Bereitschaft zum Gehorsam gegen einzelne Regeln, die Kompetenz für Situationen, und zwar […] durch leibliche Kommunikation vom Typ antagonistischer Einleibung […]. (Schmitz 2010: 263, Hervorhebung im Original)

Diese Charakterisierung lässt sich nutzbringend auf den interkulturellen Spracherwerb übertragen. Die Situationskompetenz, mit europäischen Begegnungssituationen angemessen umzugehen, ist wie die Lebenserfahrung ein unvollständig bleibender, mit Unsicherheiten und Irrtümern behafteter, unabschließbarer und nicht objektivierbarer Prozess. In erster Linie sind es nicht Kenntnisse und Kommunikationsstrategien, sondern die leiblich-sprachliche Situationskompetenz, die den Weg zur sekundären Epigenese der Person als Europäer bzw. Europäerin ebnet.

3 Kann das MONTAIGNE-Programm zum Frieden in Europa beitragen?

Dieses Kapitel widme ich Valentina Dwinskaja,

em. Deutsch-Professorin

der Universität Petrosawodsk,

Karelien, Russland

Nachdem skizziert worden ist, wie die einzelnen Teilnehmer/innen des MONTAIGNE-Programms über das Einwachsen in eine europäische Sprache Europa als affektiven Raum für sich entdecken können, stellt sich zum Abschluss die Frage, welchem gemeinsamem Ziel das MONTAIGNE-Programm dienen soll. Die Antwort fällt nun leicht: Einerseits weisen die europäischen Kulturen neben den Sprachen vor allem im Alltagsleben und in den hintergründigen kollektiven Erfahrungen erhebliche Unterschiede untereinander auf; andererseits haben die Studierenden aber auch die Erfahrung der Zusammengehörigkeit, eines diffusen europäischen Lebensgefühls gemacht. Bei dem Gefühl, angedeutet mit der Formel Das gehört zu mir, handelt es sich allerdings erst um ein „Plakat“ (Schmitz 2010: 331), d.h. um einen charakteristischen, auf einige aussagekräftige Züge komprimierten Eindruck, den Situationen oder Personen hinterlassen können. Diese Eindrücke können aber, so suggestiv sie auch sind, auch täuschen. Durch die Spannweite vielseitiger, auch widersprüchlicher, im Verlauf der Monate z.T. auch revidierter affizierender Erfahrungen hat sich die persönliche Situation (Persönlichkeit) der teilnehmenden Studierenden nachhaltig verändert. Während vor dem Beginn des Europa-Semesters die Abgrenzung von Eigenem und Fremdem deutlich erschien, verwischen die neu entstandenen implantierenden gemeinsamen Situationen diese Grenze. Der Widerstreit von Plakat-Wahrheiten und der Erfahrung ungeahnter Differenzen führt zu einer irritierenden Labilität der persönlichen Situation, welche nach einer Klärung verlangt. Übertragen auf das Zusammenleben der europäischen Völker ist damit der ‚Motor‘ gefunden, der die Suche nach einer kollektiven „convergence herméneutique“ (Bouchard 2018) der Gefühlsatmosphären antreiben kann.

Durch den Umgang mit Gefühlsatmosphären ist bei den Studierenden eine Sensibilität geweckt worden, die ihnen nahelegt, sich bei bestimmten Anlässen ‚angemessen‘ zu verhalten: Bestimmte Situationen können in Verbindung mit atmosphärischen Zumutungen auftreten, denen man z.B. mit Respekt (leiblich imponierende Abstandnahme), Takt (Gespür für die interpersonelle Nähe-Distanzregelung) und Geschmack (Geschick, Beschämung zu vermeiden) begegnen und sie damit bannen kann. Bei heftig ergreifenden Gefühlen können die Vorgefühle des Zorns und der Scham diese abwenden, etwa wenn sich Empörendes oder Traumatisierendes bemerkbar macht, womit in Europa stets gerechnet werden muss. Zusammengefasst können diese Kompetenzen als ein ethisches Gespür bezeichnet werden, das für die gelingende interkulturelle Praxis unerlässlich ist.

Die neuere phänomenologisch und pragmatistisch orientierte Forschung hat eine Reihe von sog. „deontologischen Gefühlen“ analysiert, d.h. die ein Sollen bzw. Dürfen nahelegen. Insbesondere Henning Nörenberg hat ihnen eingehende Untersuchungen gewidmet (vgl. Nörenberg 2021; 2022; 2024), deren Struktur auch für Europa als affektiven Raum relevant ist.20 Als erstes ist festzuhalten: Das sich erschließende europäische Lebensgefühl hat nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine ethische Seite. Europäerin bzw. Europäer zu werden, impliziert, mit einem subjektiv nahegehenden, präintentionalen Hintergrundgefühl, mit einem Lebensgefühl, oder anders ausgedrückt: mit einer existenziellen, leiblich spürbaren Orientierung zur Welt zu tun zu haben. Dieses Hintergrundgefühl kann gestört sein: punktuell oder chronisch. Im vorliegenden Fall kann dies z.B. die Erfahrung sein, in einem Europa zu leben, das vom globalen Englisch und der Gewinnermentalität beherrscht und von Gefühlsatmosphären (Diskrepanzerfahrungen bis hin zur Selbstentfremdung) begleitet wird, die Europa um seine Orientierungskraft bringen. Umgekehrt können sich aber auch – wie etwa im MONTAIGNE-Programm – Gefühle bemerkbar machen, die mit dem Sich-Einleben in einem bis dahin unbekannten europäischen Lebensgefühl (Sprache und Kultur als Europäisierungsstil) die Regeneration der Orientierungskraft von Europa als affektivem Raum in Aussicht stellen. Dann können diese Gefühle ein Sollen vermitteln sowie einen berechtigten Anspruch (vgl. Nörenberg 2024: 11–15), gegen die entfremdenden Eingriffe vorzugehen. Dadurch lässt sich das verlorene Gefühl der Selbstwirksamkeit und der Zugehörigkeit zu einer Welt mit bedeutsamen Handlungsoptionen zurückgewinnen.

Ein neues Untersuchungsfeld öffnet sich: Wenn das Einwachsen in eine unbekannte europäische Sprache meine leibliche und damit meine ethische Sensibilität verändert, fragt es sich, wie damit umzugehen ist. Lehrreich ist hier Nörenbergs Hinweis, dass bei kontrovers diskutierten, gesellschaftlich relevanten Themen, beispielsweise das der Erderwärmung, die Reaktionen der Betroffenen u.U. weit auseinander liegen können (vgl. Nörenberg 2024: 10), obwohl der Sachverhalt weitgehend anerkannt ist. Im Fall der europäischen „convergence herméneutique“ kommen weitere Hürden hinzu. Man denke etwa an den Ukrainekrieg. Es ist zwar richtig, auf den im westlichen Europa verbreiteten defizienten Kenntnisstand und den geringen Bildungsgrad in Bezug auf die osteuropäischen Kulturen hinzuweisen: Dadurch wird in der Tat eine ernsthafte Urteilsbildung behindert und ggf. fehlgeleitet sowie die ideologische Verzerrung der Wirklichkeit begünstigt. Doch andererseits ist offenkundig: Angesichts der Bandbreite der vertretenen Positionen (siehe stellvertretend Baud 2023; Gehler 2022; Gestwa 2023) können die betroffenen Europäerinnen und Europäer nicht auf die wissenschaftliche Klärung der Streitfragen warten. In dieser Situation dürfte der Rückgriff auf die Erfahrungen mit dem MONTAIGNE-Programm nützlich sein. Das Einwachsen in die jeweilige europäische Landessprache und das Sich-Einleben in der sie einbettenden Kultur scheint ein geeigneter Weg zu sein, um einen neuen, leiblich-atmosphärischen Zugang zu Frieden und Verständigung in Europa zu finden.

Im Ergebnis stellt sich heraus, dass das phänomenologisch informierte Einwachsen in eine unbekannte, wenig erlernte europäische Sprache sich deutlich vom Sprachunterricht auf kognitiver oder konstruktivistischer Basis unterscheidet. Statt sich auf ‚Gehirnerzählungen‘ zu beziehen, wird von der ganzheitlichen Erfahrung ausgegangen, in der präpersonale und personale Erfahrungen ineinander verschlungen sind. Sprache wird nicht aus der Lebenspraxis herausgelöst, sondern umgekehrt als Medium des Sich-Einlebens in der jeweiligen Kultur praktiziert. Damit wird abschließend die Tragweite des Unterschiedes zwischen funktionaler und affektiver Mehrsprachigkeit deutlich. Die funktionale Mehrsprachigkeit ist Gegenstand staatlicher und überstaatlicher Sprachenpolitik und kann beliebig variierbaren Zwecken dienen: Handel und Verkehr, Mobilität und Ausbildung, Kommunikation und Forschung, aber auch Ausbeutung und Umweltzerstörung, imperiale Lebensweise und Konsumfixierung, Entwurzelung und Krieg. Das MONTAIGNE-Programm steht demgegenüber für die affektive Mehrsprachigkeit, in deren Perspektive Europa als mehrkultureller, affektiver Raum des Zusammenlebens aufgefasst wird. Inwiefern die affektive Mehrsprachigkeit mit dem europäischen Zivilisationstyp verbunden ist, lässt sich an drei Leitsprüchen erkennen, die ein Ergebnis des altgriechischen Nachdenkens über den Menschen sind. Was ursprünglich als anthropologische Wegmarken gemeint war, lässt sich heute auf die Bedeutsamkeit der europäischen Sprachen ummünzen. Diese von mir vorgenommene Übertragung markiere ich im Folgenden mit dem Ausdruck ‚Sprache in europäischer Perspektive‘.

  • Weder andere beherrschen wollen noch sich von anderen beherrschen lassen.21 Die affektive Bindung an tyrannische Macht oder die Unterwerfung unter sie wurde schon in der griechischen Antike als eines freien Mannes (heute: Menschen) unwürdig abgelehnt. Sprache in europäischer Perspektive: Weder andere Sprachen beherrschen wollen noch sich von anderen Sprachen beherrschen lassen.

  • Werde, der du bist.22 Der Mensch kann sich von seiner animalischen Festlegung auf Programme und von theologisch-ideologischen Dogmen emanzipieren, Person werden und damit etwas Neues verwirklichen. Sprache in europäischer Perspektive: Werde, im Umgang mit dir selbst, anderen Europäerinnen und Europäern und ihren Sprachen lernend, was du für eine/r bist.23

  • Erkenne dich selbst! Sei besonnen!24 Eine selbstkritische und weltkundige Urteilskraft befähigt den Menschen, weder sich zu überschätzen noch sich zu erniedrigen. Sprache in europäischer Perspektive: Eine selbstkritische und zugleich selbstbewusste Haltung zur Muttersprache hält die Europäerinnen und Europäer dazu an, die eigene Landessprache weder zu überschätzen noch sie zu erniedrigen.

Notes

  1. Diese Unterscheidung ist nicht trivial. Siehe die Erläuterung in Müller-Pelzer (2024a), Kap. 1. [^]
  2. Sozialwissenschaftliche Identitätskonstrukte (vgl. stellvertretend Kresić 2016) beziehen sich auf relative Zuschreibungen, die auf horizontaler Ebene verfügbar und beliebig wählbar bzw. ablösbar sind, doch diese Erklärung ist unvollständig: „Alle diese Rollenzuweisungen sind Vorschläge für die Selbstzuschreibung des Bewussthabers, etwas für sich zu halten. Sie haben einen gemeinsamen Fehler: Sie kommen zu spät. Sie muten dem Bewussthaber zu, etwas mit sich zu identifizieren. Es stellt sich aber heraus, dass jedes identifizierende Sichbewussthaben ein nicht identifizierendes, eine vorgängige Bekanntschaft mit sich selbst, voraussetzt, weil ihm sonst das Relat – womit identifiziert wird – fehlen würde.“ (Schmitz 2016: 8) [^]
  3. Zur Bedeutung der Landessprache in der Wissenschaft vgl. Gehrmann, Siegfried (2021): Braucht Wissenschaft Mehrsprachigkeit? Sprachen- und gesellschaftspolitische Anmerkungen zur Anglophonisie-rung der Wissenschaft in Zeiten der Globalisierung. Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft 7: 2, 13–56 sowie dazu Müller-Pelzer, Werner: Affektive Mehrsprachigkeit und europäische Nostrifizierung. Was der Plurilinguismus in den Wissenschaften braucht. In: Ferber, Markus; Mocikat, Ralph (Hrsg.): Wissenskommunikation und Landessprache. [Aktuelle Analysen der Hanns Seidel-Stiftung: 99]. München: Hanns Seidel-Stiftung, 48–53. [^]
  4. Schmitz (1997: 37) hat auf die irrige Annahme hingewiesen, man könne nur das methodisch korrekt behandeln, was von jedermann zu jeder Zeit und an jedem beliebigen Ort nachgemacht werden kann. [^]
  5. Der Terminus Lebenspraxis wird hier nicht im sozialwissenschaftlichen, sondern im neuphänomenologischen Sinn der ganzheitlichen (präreflexiven und reflexiven) Lebenserfahrung verwandt. Handeln bezeichnet hier das Einwachsen in bedeutsame (mit vielsagenden Eindrücken, Stimmungen, Gefühlsatmosphären und Normen angereicherte) Situationen der Lebenspraxis von Menschen einer noch unbekannten europäischen Kultur. [^]
  6. In der sozialwissenschaftlichen Literatur ist vom Globalismus als zeitgenössischer Ideologie die Rede. Siehe Streeck (2021: 9). Die Kritik an von Hayek und von Mises findet sich bereits bei Ulrich (42008) und Sloterdijk (42016), 217–218; ferner Chiapello/Boltanski (2003); Dawson/Enderlein/Joerges (2015), vor allem Teile II und III; Stiglitz/Charlton (2006). [^]
  7. Hans Bernhard Schmid (2017: 152) sagt demgegenüber: „Emotions are practical knowledge par excellence. As such, they are indispensable, at least for our kind of agency. To put all of this in a simple slogan: emotions are our way of getting our act together.“ Doch darin erschöpfen sie sich nicht! [^]
  8. Vgl. die klimatischen „Nähe-Beziehungen“ in atmosphärisch aufgeladenen Sphären, auf die Peter Sloterdijk verweist (Sloterdijk 2012: 27), zitiert in Müller-Pelzer (2024a): Interkulturelles Sprachenlernen in europäischer Perspektive – eine Projektskizze des MONTAIGNE-Programms, 1. Teil: Grundlagen. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 29: 1, 12–13. https://zif.tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/article/id/3622/ [^]
  9. Leibliche Kommunikation, insbesondere als Einleibung, ist eine fundamentale Bestimmung des Sichfindens des Menschen in seiner Umgebung (Schmitz 2011: 29-53). Mit dem Terminus der leiblichen Kommunikation bereinigt Schmitz das widersprüchliche Feld von Empathie und Einfühlung. [^]
  10. Diese vier Aufgaben lassen sich analytisch trennen, aber in der Praxis werden beim zweiten und dritten pädagogischen Pfad schon von Anfang an Überlappungen und Mischungen vorherrschen, weil der phänomenologisch informierte Erwerb der Zielsprache aus einem beständigen Wandern zwischen dem Leben in Situationen und dem vereinzelnden Abheben von Bedeutungen durch die Sprache besteht. Darüber hinaus werden die vier Aktionsarten wegen des sich wiederholenden Wochenrhythmus‘ aufeinander reagieren. [^]
  11. Dieser Aspekt stellt eine wichtige Verbesserung dar gegenüber Müller-Pelzer (2021) und (2023). [^]
  12. Im Hinblick auf die parallel stattfindenden Phasen des Sich-Einlebens in gemeinsamen Situationen (zweiter pädagogischer Pfad) sowie des Einwachsens in die Zielsprache (dritter pädagogischer Pfad) stellt der parallele Rückgriff auf eine andere Sprache kein Hindernis dar. Die europäischen Studierenden sind junge Erwachsene, die den Wechsel von einer zur anderen Sprache gewohnt sind und ihn während des Europa-Semesters ohnehin praktizieren werden. Das Ziel des MONTAIGNE-Programms ist nicht, für die neu zu erwerbende Sprache ein Monopol anzustreben. [^]
  13. Damit ergibt sich eine Nähe zum Provokativen Coaching. Der provokative Stil nutzt die Kraft des Humors und des Lachens als Ressource in der Veränderungsarbeit. Er geht auf Frank Farrelly zurück. Sein Prinzip lautete: ‚Mit anderen lachen, nicht über sie lachen‘. Siehe Deutsches Institut für Provokative Therapie (DIP) sowie Noni Höfner / Charlotte Cordes (22023) sowie Charlotte Cordes / Florian Schwartz (2022). [^]
  14. „Der Zwiespalt von personaler Emanzipation und personaler Regression ist die Labilität der Person. […] In dieser labilen Zwischenlage kann sich die Person nur durch spielerische Identifizierung stabilisieren, indem sie sich eine Fassung gibt als etwas, das fester bestimmt ist, als sie wirklich ist.“ (Schmitz 2012: 52) [Hervorhebung im Original] [^]
  15. Schmitz (21995: 175): „So nenne ich das Identifizieren – d.h. das Vorschweben eines Sachverhalts der Art, daß etwas mit etwas identisch ist, und Sich-Einlassen darauf – ohne Rücksicht auf Tatsächlichkeit der Identität. Das bequemste Beispiel ist die Bildnahme. Wer sich unbefangen in ein Bild vertieft und sich nicht bei ästhetischer oder kritischer Reflexion auf Vorzüge oder Mängel der bildlichen Darstellung aufhält, sieht das Bild nicht als Bild, sondern als das Abgebildete […].“ Außerdem Schmitz 2016: 174–180). [^]
  16. Schmitz (2011: 29–54). Dieser Vorgang setzt nach Schmitz mit der (zunächst einseitigen, dann wechselseitigen) Einleibung (Spielart leiblicher Kommunikation) ein. Zunächst handelt es sich um „includierende gemeinsame Situationen“, das heißt Situationen mit geringerer affektiver Implikation, welche bei abnehmender Bindekraft auch aufgelöst werden können, oder aber um „implantierende gemeinsame Situationen“; dies sind Situationen mit starker affektiver Implikation, welche nur um den Preis von Verletzungen gelöst werden können. Der Kontext der sog. Wir-Identität muss an einer anderen Stelle erläutert werden. Vgl. Zahavi, Dan (2024): I, You, and We: Beyond Individualism and Collectivism. Australasian Philosophical Review, 1–18. https://doi.org/10.1080/24740500.2024.2302443 ; Tris Hedges (2023): We and us: The power of the Third for the first-person plural. European Journal of Philosophy:1-14. https://philarchive.org/rec/HEDWAU ; Landweer, Hilge (2011): Der Sinn für Angemessenheit als Quelle von Normativität in Ethik und Ästhetik, in: Andermann, Kerstin & Eberlein, Undine (Hrsg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin: Akademie, S. 57-78. [^]
  17. Epigenetisch betrachtet scheint beim Menschen ein Explikationsdruck angesichts bedrängender Eindrücke vorzuliegen, der als Ungenügen an der Orientierung in binnendiffusen Situationen gespürt und von der satzförmigen Rede befriedigt wird (vgl. Demmerling 2018: 376–378). Zur aktuellen Diskussion über die Entstehung der Sprache siehe Tomasello (2020). [^]
  18. Der systematische Unterricht wird nach Bedarf bekannte grammatikalische, lexikalische, syntaktische usw. Begriffe aus den vertretenen Herkunftssprachen verwenden. Wegen der disziplinären Mischung der Studiengruppe ist mit sehr unterschiedlichen Niveaus textlinguistischer und pragmatischer Informiertheit zu rechnen. Eine Störung des Zielsprachenerwerbs ist dank der verstetigten gemeinsamen Atmosphären (Verlass, Vertrautheit, Vertrauen, Zuneigung usw.) dadurch nicht zu erwarten. [^]
  19. Das Bemühen dieser Studierenden löst bei den Gesprächspartnern erfahrungsgemäß Wohlwollen aus, sodass in der Regel günstige kommunikative Umstände anzunehmen sind. [^]
  20. Nörenberg (2024: 2): „Lebensgefühle sind auch Rechtsgefühle, oder etwas technischer ausgedrückt: ‚Existenzielle Gefühle‘ als leiblich-affektive Hintergrundorientierungen in und zu der umgebenden Welt (vgl. Ratcliffe 2008) bedingen mit, was die entsprechenden Individuen als ihre Verpflichtungen und ihre Berechtigungen anerkennen.“ [^]
  21. Herodot: „Weder will ich nämlich herrschen noch mich beherrschen lassen.“ zitiert bei Arno Baruzzi (1999: 7). [^]
  22. Pindar: Zweite Pythische Ode, übersetzt von Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, Fünftes Hauptstück, Aphorismus 263 (KSA 2: 219); Die fröhliche Wissenschaft, Drittes Buch, Aphorismus 270 (KSA 3: 519). [^]
  23. Angelehnt an die Übertragung von Großheim (2019). [^]
  24. Schmitz (1997: 14): „So ist auch der Auftrag gemeint, den die berühmte Inschrift am Tempel des Apollon in Delphi den Griechen zum Philosophieren gab: ‚Erkenne dich selbst!‘ Das ergibt sich aus ihrer Verbindung mit der anderen Inschrift: ‚Sei besonnen!‘ (Σωφρόνει) Gemeint ist also eine Selbsterkenntnis, die den Menschen lehrt, für sich und seine Selbstschätzung am Verhältnis zu dem, was ihn umgibt und ihm begegnet, die angemessenen Proportionen einzustellen, statt sich zu überheben oder zu demütigen.“ [^]

Literatur

(ergänzt das Verzeichnis des 1. Teils des vorliegenden Aufsatzes)

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Kurzbio

Dr. phil. Werner Müller-Pelzer war von 1990 bis 2014 Studiengangsleiter für die Studiengänge International Business deutsch-französisch und deutsch-spanisch an der FH Dortmund. Er leitet die Forschungsstelle für interkulturelle und europäische Studien und ist Herausgeber des eJournals impEct.

Anschrift:

Fachhochschule Dortmund, Fachbereich Wirtschaft

Emil-Figge-Straße 44

44227 Dortmund

https://www.fh-dortmund.de/hochschule/wirtschaft/publikationen/impect/ueber_impect.php

werner.mueller-pelzer@fh-dortmund.de

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