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Aufsatz zum Themenschwerpunkt

„Arabisch kann ich einfach nicht lernen“ – (vergebliche) Spracherhaltungsbemühungen und Mehrsprachenpotenziale von Jugendlichen zwischen Familie, Schule und Peers. Einblicke in ein Schulprojekt

Abstract

Der vorliegende Beitrag basiert auf Erfahrungen aus einem Praxisprojekt an einer innovativen staatlichen Gesamtschule. Seit über zwei Jahren gibt es dort das Angebot einer Sprachenwerkstatt, welche u.a. von Lehramtsstudierenden betrieben wird. Es werden zwei mehrsprachig aufwachsende Teilnehmende der Werkstatt vorgestellt und folgende Aspekte diskutiert: Spracherhaltungsbemühungen und Identitätsentwicklung, Mehrfachzugehörigkeiten und Sprachlernmotivation, beiläufiges Sprachenlernen im urbanen Raum, symbolische Macht Englisch sowie die Wirkungsmacht der Institution Schule. Theoretisch gerahmt wird das Projekt durch Zugänge über das Primat der Nachhaltigkeit (vgl. UN 2015), Spracherwerbstheorien (vgl. Darvin/Norton 2016) sowie die Ungleichheitsforschung (vgl. El-Mafaalani 2020). Das Erkenntnisinteresse gilt dabei der Frage, wie Potenziale mehrsprachiger Lernender besser erkannt und für Bildungsverläufe produktiv gemacht werden können.

„I just can't learn Arabic“ ‒ (futile) language maintenance efforts and multilingual potentials of adolescents between family, school, and peers. Insights into a school project
This contribution is based on empirical evidence from a teaching project at an innovative state comprehensiv eschool. For more than two years, a special course has been on offer which is run by student teachers, among others, and which aims to address local multilingualism. Two multilingual participants of the course will be presented and the following aspects will be discussed: language maintenance efforts and identity development, multiple (ethnic) affiliations and language learning motivation, incidental language learning in urban spaces, the symbolic power of English and the systemic impact of school as an institution. The project is theoretically framed by the notion of sustainability (cf. UN 2015), language acquisition theories (cf. Darvin/Norton 2016) and inequality research (cf. El-Mafaalani 2020). The focus of interest tackles the question as to how the potential of multilingual learners can be better recognized and used for higher school qualifications.
„Jednostavno ne mogu naučiti arapski“ – (bezuspješno) napori održavanja jezika i višejezičnog potencijala mladih između obitelji, škole i vršnjaka. Uvid u školski projekt
Predmetni se članak temelji na iskustvima jednog praktičnog projekta na jednoj inovativnoj državnoj srednjoj školi. Više od dvije godine tamo se održava takozvana ‘radionica jezika’, koju između ostalog vode i studenti i studentice nastavničke službe. Predstavit će se dvije osobe koji sudjeluju u radionici te odrastaju višejezično i raspravljati će se o sljedećim aspektima: Nastojanja očuvanja jezika i trud razvoja identiteta, višestruka pripadnost i motivacija za učenje jezika, uzgredno učenje jezika u urbanim sredinama, simbolička moć engleskog jezika i utjecaj škole kao ustanove. Teoretski, projekt je uokviren pristupima kroz Primat Održivosti (UN 2015), teorije stjecanja jezične kompetencije (Darvin/Norton 2016) te istraživanje nejednakosti (El-Mafaalani 2020). Fokus je na pitanju kako se potencijal višejezičnih učenika može bolje prepoznati i učiniti produktivnim za razvoj obrazovanja.

„Arapça öğrenemiyorum“ ‒ (nafile) dil koruma çabaları ve gençlerin aile, okul ve akranları arasındakiçok dilli potansiyelleri. Bir okul projesine ilişkin içgörüler
Bu makale, yenilikçi bir devlet okulundaki uygulamalı bir projeden elde edilen deneyimlere dayanmaktadır. Orada iki yılı aşkın bir süredir bir dil atölyesi düzenlenmekte ve kısmen öğretmen adayı tarafından yürütülmektedir. Atölye, çok dilli olarak büyümüş iki katılımcıyı tanıtmakta ve şu konuları tartışmaktadır: dil koruma çabaları ve kimlik gelişimi, çoklu bağlılıklar ve dil öğrenme motivasyonu, kentsel alanlarda günlük dil öğrenimi, İngilizcenin sembolik gücü ve okul kurumunun etkisi. Proje teorik olarak, sürdürülebilirlik önceliği (BM 2015), dil edinim teorileri (Darvin/Norton 2016) ve eşitsizlik araştırmaları (El-Mafaalani 2020) yaklaşımlarıyla çerçevelenmiştir. Bilgi ilgisi, çok dilli öğrencilerin potansiyellerini nasıl daha iyi kullanabilecekleri ve bunu eğitim için nasıl verimli hale getirebilecekleri sorusuna odaklanmaktadır.

Keywords: urbane Mehrsprachigkeit, Identitätsentwicklung, nachhaltiges Sprachenlernen, Sprachlernpotenzial, informelles Lernen, Chancengleichheit, urban multilingualism, identity development, sustainable language learning, language learning potential, informal learning, equal opportunities

How to Cite:

Küppers, Almut (2023): „Arabisch kann ich einfach nicht lernen“ – (vergebliche) Spracherhaltungsbemühungen und Mehrsprachenpotenziale von Jugendlichen zwischen Familie, Schule und Peers. Einblicke in ein Schulprojekt. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 28: 2, 89–110. https://doi.org/10.48694/zif.3652.

1 Einleitung

Die Sprachenwerkstatt, von der hier die Rede sein wird, befindet sich als hybrider Erfahrungsraum für ein- und mehrsprachige junge Menschen im Grenzgebiet zwischen universitärer Lehrer*innenausbildung und schulischer Praxis1. Im Zentrum des Beitrags stehen zwei Jugendliche, die in einem äußerst diversen, vielstimmigen urbanen Umfeld in mehrsprachigen Familien aufwachsen und die beide nach eigenen Aussagen nur eine Muttersprache sprechen: Deutsch. Diese Selbsteinschätzungen wurden nicht hinterfragt (oder gar getestet), obgleich es gut möglich ist, dass beide in ihren nichtdeutschen Familiensprachen rezeptive Fähigkeiten besitzen (vgl. Anstatt 2018 sowie Abschnitt 2.3). Denn das Erkenntnisinteresse dieses Beitrages kreist um den Aspekt des Bildungspotenzials, das diese beiden jungen Menschen besitzen, sowie um die Frage, inwieweit die institutionellen Rahmenbedingungen, innerhalb derer Bildungsprozesse verlaufen, für einen Spracherwerb förderlich oder sogar hinderlich sind. Die Einblicke in den spannungsreichen Praxiskontext zwischen Schule, Familie und Peers liefern dabei Hinweise auf die große Bedeutung z.B. von Reisen ins Herkunftsland der Eltern für die Entwicklung von Sprachlernmotivation oder aber von sozial-emotionalen Faktoren für die Ausbildung von Mehrfachzugehörigkeiten. Die Praxisbeobachtungen können daher als wertvolle Ergänzungen zu vorliegenden Erkenntnissen aus quantitativen Studien zur Erforschung von Spracherhalt und Sprachverlust (vgl. Mehlhorn 2021; Olfert 2019) sowie zu qualitativen Studien zum Erwerb von natio-ethno-kulturellen Mehrfachidentitäten (vgl. Cennamo 2017) betrachtet werden. Die sprachbiographischen Reflexionen der Journalistin Hadija Haruna-Oelker (2022) dienen einleitend als hilfreicher Bezugsrahmen, um die beiden Fallstudien besser einordnen und weiterführende Fragen produktiv machen zu können. Die abschließende Diskussion wirft Schulentwicklungs- und Forschungsfragen auf, die vor dem Hintergrund von Bildungsungerechtigkeiten (vgl. El-Mafaalani 2020) und Ressourcenverschwendung (vgl. Robinson/Aronica 2016) die diagnostischen Fähigkeiten von Lehrpersonen in den Blick nehmen, aber auch die Notwendigkeit einer integrativen Betrachtung sprachlicher Bildungsprozesse thematisieren (vgl. Küppers 2022a).

2 Sprachenlernen als politischer Akt in der Migrationsgesellschaft

Sprachenlernen ist nach Darvin und Norton ein hochpolitischer Akt, denn Sprache ermöglicht Teilhabe und Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Darvin/Norton 2016:19 mit Verweis auf Bourdieu 1991). Menschen investieren daher in Sprachen: sozial, kulturell, ökonomisch, politisch, individuell oder emotional. In einer sprachlichen Handlung unterliegt Sprache aber stets auch institutionellen und historischen Bezügen, Traditionen und Verwicklungen und lässt sich durch extreme Unterschiede und Ungleichheiten in Bezug auf Status, Repertoires, Reichweiten charakterisieren. (vgl. Blommaert/Jie 2011: 8 mit Verweis auf Hymes 1996). Darvin und Norton konstatieren:

Learners invest in a language because it will help them acquire a wider range of symbolic and material resources, which will in turn increase the value of their cultural capital and social power (2016: 20).

Wie nachhaltig historische, soziale und ökonomische Machtverhältnisse Spracherwerb, Teilhabe und Identitätsentwicklung beeinflussen können, dafür liefert die in Deutschland geborene Journalistin und Moderatorin Hadija Haruna-Oelker in ihrem Buch Die Schönheit der Differenz (2022) ein facettenreiches biographisches Beispiel.

2.1 Ungelernte Familiensprachen und ihre Wirkungen

Die Autorin Haruna-Oelker ist die Tochter einer weißen Deutschen und eines Ghanaers, der Asanti, Hausa und Twi spricht. Nach Hadijas Geburt möchte die Großmutter nicht, dass die Enkelin diese Sprachen lernt, also in diese Sprachen investiert wird. Haruna-Oelkers Mutter bittet den Ehemann schließlich mit der Tochter Englisch zu sprechen. Das wiederum lehnt er ab, denn als Vater möchte er nicht durch die Sprache der Kolonialist*innen mit seiner Tochter verbunden sein. Die kleine Hadija wächst in ihrer Familie daher nur mit Deutsch auf, vermutlich zur Erleichterung der Großmutter, denn „sie ging davon aus, dass mir das nur Nachteile bringen würde. Sie hatte seine Sprache [Hausa] nicht für lernwürdig, schlimmer noch, für schädigend für mich und meine Entwicklung gehalten“ (Haruna-Oelker 2022: 69). Als junge Erwachsene erkennt die Autorin, was für einen Verlust es für sie bedeutet, sich über die ungelernten Vatersprachen nicht mit Verwandten, Menschen und Orten in Ghana verbinden zu können. Sie nennt diesen tiefgehenden Schmerz „Phantomschmerz“ (ebd.: 70). Medizinisch betrachtet wird unter Phantomschmerz ein Schmerzempfinden in einem amputierten Körperteil verstanden. In einem auf Sprache übertragenen Sinn, kommt in dem Begriff die Sehnsucht nach den Worten der Vatersprache zum Ausdruck und die Trauer darüber, diese nie gelernt zu haben (ebd.: 70). Die Journalistin spürt einen schmerzhaften Verlust über etwas, was sie nie besessen hat – eine Sprache, die ein wichtiger Teil ihrer Identität hätte sein können (vgl. Krumm 2020).

Vielschichtige Spracherwerbssituationen, wie die, in welcher die Journalistin Haruna-Oelker aufwächst, lassen sich mithilfe des von Darvin und Norton (2015) entwickelten Investment-Modells in den drei Dimensionen Identität, Kapital und Ideologie analysieren. Weil dabei auch die Bedingungen von Migration, Globalisierung und Digitalisierung erfasst werden, lassen sich damit systemische Strukturen und institutionelle Prozesse in den Blick nehmen, die kommunikative Praktiken im 21. Jahrhundert – wie z.B. Sprachenlernen in Familie, Schule und Gesellschaft – ermöglichen oder aber auch verhindern. Dieses Modell ist in Abkehr von rein kognitiven Ansätzen zu sehen, in denen lerner*innenbedingte Faktoren wie Alter, Geschlecht, Neigung oder Motivation als zentrale Faktoren für erfolgreichen Spracherwerb betrachtet wurden (vgl. Daase 2012). So reicht das wichtige Konstrukt der Motivation z.B. nicht aus, um zu erklären, warum ein/e Lerner*in hochmotiviert sein kann, sich aber dennoch Gelegenheiten widersetzt, in Kontexten zu sprechen, in denen man z.B. aufgrund ungleicher Machtverhältnisse nachteilig positioniert ist. Statt zu fragen, „Ist Schülerin X motiviert, eine Sprache zu lernen?“ ist es mithilfe dieses Modells ertragreicher zu fragen, „to what extent are students and teachers invested in the language and literacy practices of a given classroom and community?“ (Darvin/Norton 2016: 20).

2.2 Spracherwerbsbemühungen und migrantische Identitätsfindung: A site of struggle

Der Phantomschmerz, den Haruna-Oelker als Trauer über eine nie erlernte Vatersprache verspürt, beeinflusste vermutlich ihre Studienwahl nach dem Abitur. Sie beginnt ein Studium der Afrikanistik und erlernt Hausa an der Universität „nur in der Theorie“ (Haruna-Oelker 2022: 72), indem sie sich mit Funktionen und Grammatik der in West- und Zentralafrika verbreiteten Tonsprache beschäftigt. Am Ende ihrer Investition in das Studium nimmt sie an einer zweimonatigen Projektreise nach Ghana teil, wo sie schließlich auch Gelegenheit hat, die Familie des Vaters zu besuchen. Während der freudigen Begegnungen mit Angehörigen und Menschen in Ghana und der Besuche historischer Orte der Sklaverei findet Haruna-Oelker „das fehlende Teil meines inneren Puzzles“ (ebd.: 73). Die Journalistin versteht, dass sie nicht auf einer Reise durch Ghana und Afrika ist, sondern eigentlich auf einer Reise zu sich selbst, und sie damit auch ein tiefsitzendes Trauma bearbeitet: „Es ist ein transgenerationales Trauma, das Schwarze Menschen weltweit als Nachkommen einst versklavter und kolonialisierter Menschen in sich tragen“ (ebd.).

Das Beispiel der Journalistin zeigt, dass Identitätsfindung nicht allein an den Sozialisationsorten Familie, Schule, Peers und Medien stattfindet. In Migrationsgesellschaften kann die Identitätsentwicklung einzelner Individuen auf subtile Weise mit historischen Ent- und Verwicklungen sowie ideologischen Weltanschauungen verwoben sein, was indirekt auch Spracherwerbsprozesse beeinflussen kann. Die starken Ressentiments der Großmutter den afrikanischen Muttersprachen ihres Schwiegersohnes gegenüber sowie ihre Befürchtungen, das Erlernen einer dieser Sprachen könnte der Enkelin sogar schaden, lassen sich auf tief verwurzelte, rassistische Vorstellungen über Schwarze Menschen zurückführen. Indem die Großmutter erfolgreich verhindern kann, dass die Enkelin eine dieser Vatersprachen lernt, wirkt eine menschenverachtende Ideologie bis in die Familie hinein fort und beeinflusst die Persönlichkeitsentwicklung der Enkelin maßgeblich2. Haruna-Oelkers Beispiel zeigt aber auch, wie umkämpft und veränderbar Identitäten als site of struggle sind: “because identity is multiple and frequently a site of struggle, investment is also complex, contradictory, and often in a state of flux” (Darvin/Norton 2016: 20).

Studien im Feld der interdisziplinären Herkunftssprachenforschung bestätigen diesen Befund. Helena Olfert konstatiert am Ende ihrer quantitativen Untersuchung zu hemmenden und begünstigenden Faktoren zum Spracherhalt im Kontext von Migration: „Für alle das Individuum betreffenden externen Faktoren bildet somit die gesellschaftliche Makroebene die Basis und bestimmt vorrangig über Spracherhalt- und Sprachverlustprozesse“ (Olfert 2019: 266 mit Verweis auf Weinreich 1974: 83).

2.3 Ethnische Zugehörigkeit als Spracherwerbsmotivation in der Adoleszenz

Vor dem Hintergrund der biographischen Erzählungen von Haruna-Oelker wird auch deutlich, wie schwierig eine Kategorisierung als Herkunftssprecher*in allein nach sprachlichen Fertigkeiten oder Spracherwerbsbedingungen ist. Denn gängige Einordnungen definieren diese als Personen, die in einer Familie aufwachsen, in der sie „eine Herkunftssprache als Erstsprache simultan oder sukzessiv zur Mehrheitssprache erworben haben“ (Olfert 2022: 106; vgl. auch Mehlhorn 2022). Dies trifft für Haruna-Oelker nicht zu, deren Spracherwerb in der Mehrheitssprache Deutsch stattfand. Ob die Terminologien (near-native) receptive bilingal oder aber childhood overhearer als Klassifizierung geeigneter sind (vgl. Anstatt 2018: 16–20), lässt sich nicht abschließend beurteilen. Diese Begriffe beschreiben das oft beobachtete Phänomen des „rezeptiven Bilingualismus“ (ebd.): Eine Person verwendet eine ihrer Sprachen ausschließlich rezeptiv und die sprachliche Produktion erfolgt in einer oder mehreren anderen Sprachen. Tanja Anstatt plädiert dafür, rezeptiven Bilingualismus als ein wertvolles Potenzial zu betrachten und entsprechend als Bildungsressource zu nutzen, weil sprachliche Kompetenzen vorhanden sind, die ausgebaut werden könnten. Aber rezeptiver Bilingualismus scheint den Fall der Journalistin nicht hinreichend zu erfassen. Passend erweist sich in ihrem Fall eher die Kategorie der ethnischen Identität (vgl. Olfert 2019) und eine über dieses Zugehörigkeitsgefühl zum Herkunftsland des Vaters ausgelöste hohe Motivation, als junge Erwachsene in eine der nicht in der Kindheit gelernten Vatersprachen zu investieren.

Die Spracherwerbsbemühungen der Autorin Hadija Haruna-Oelker, insbesondere die Aspekte Motivation, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Sprachlernpotenzial, dienen später als Folie für die Vorstellung der beiden eigentlichen Protagonist*innen dieses Beitrags, Paolo und Sana. Dazu wird zunächst die schulische Sprachenwerkstatt vorgestellt, in welcher wir die beiden Jugendlichen kennengelernt haben. Der Praxiskontext wird schließlich eingebettet in den Diskurs um die doppelte Benachteiligung von Kindern, die in sogenannten Problemlagen aufwachsen (vgl. El-Mafaalani 2020).

3 Praxiskontext integrative Gesamtschule

Die Sprachenwerkstatt, die Gegenstand dieses Beitrags ist, wurde im Schuljahr 2020/21 an einer noch jungen, innovativen staatlichen Gesamtschule im Großraum Frankfurts eröffnet. Im Ballungsraum Frankfurt ist die Lebenswirklichkeit vielfältig und mehrsprachig; in der Stadt Frankfurt stammen etwa 75% aller eingeschulten Erstklässler*innen aus Familien, in denen neben oder statt Deutsch noch andere Sprachen gesprochen werden (vgl. Foroutan 2015: 1). Das Umfeld der staatlichen Sekundarschule ist somit superdivers (vgl. Vertovec 2023). Es offeriert ein Bildungsangebot von Klasse 5 bis Klasse 10 für die Bildungsgänge Haupt-, Realschule und Gymnasium. Die konzeptionelle Ausrichtung dieser pädagogisch selbständigen Schule, die zu dem Kreis der Schulen im Aufbruch3 gehört, ist ungewöhnlich. Im Gründungsjahr 2016 wurde das Fundament der Schule nicht auf den klassischen Pfeilern des traditionellen Schulsystems errichtet: Es gibt keine Klassen, sondern jeweils drei Jahrgänge zusammenfassende Kontinente. Es gibt keine Fächer, sondern für die klassischen Hauptfächer Deutsch, Mathematik und Englisch sogenannte Fachbüros4 sowie das interdisziplinäre Fach Leben, in dem aus der Perspektive verschiedener Fächer ausgewählte Themen projektartig bearbeitet werden. Es gibt keine Hausaufgaben, keine Klausuren und keine Noten, sondern individuelle Lernzeiten, Zertifikate und Lernentwicklungsberichte. Lehrkräfte verstehen sich als Lernbegleiter*innen, die die Leistungen der Kinder nicht miteinander vergleichen, sondern deren Potenziale und Persönlichkeiten durch autonomes Lernen und individuelles Feedback sowie Handlungsorientierung und Projektarbeit zu fördern versuchen.

3.1 Nachhaltiges Lernen in Resonanzräumen

Die Schulen im Aufbruch richten ihre Bildungsarbeit zudem explizit an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen aus (vgl. UN 2015) und verstehen ihre Lernräume als Resonanzräume (vgl. Rosa/Endres 2016), um die Schüler*innen von heute dazu zu befähigen, als Gestalter*innen von morgen für die in der Gesellschaft dringend notwendigen sozial-ökologischen Transformationen Verantwortung zu übernehmen. Kernaufgabe aller Schulen sei die Potenzialentfaltung der Lernenden und die Bildung ist gekennzeichnet durch Selbstbestimmung, Handlungsorientierung und Realitätsgebundenheit. „Die Lernerfahrung erfolgt in einer Gemeinschaft, in der Vielfalt und Teilhabe selbstverständlich sind“, heißt es weiter auf der Webseite der Schulen im Aufbruch (vgl. dazu auch Rasfeld 2022)5. In den offenen und flexiblen Strukturen dieser Schule wurde kurz vor den ersten pandemiebedingten Schulschließungen im Frühjahr 2020 ein Raum eröffnet, in dem auch die Mehrsprachigkeit ihr Potenzial entfalten können sollte.

Die Sprachenwerkstatt ist im Wahlpflichtangebot der Schule verankert und hat damit den Stellenwert einer zweiten Fremdsprache – an der Schule sind das Spanisch, Italienisch und Französisch. Das Angebot ist inklusiv und richtet sich auch an Kinder, die nicht mehrsprachig aufwachsen. Besondere Bedeutung haben performative Lernformen und Peerlearning sowie der lokale und digitale Anwendungsbezug der gelernten Sprachen an außerschulischen Lernorten, in der urbanen Nachbarschaft und virtuellen Gegenwart. Ziel ist es, dass mehrsprachige Studierende den teilnehmenden Schüler*innen kommunikative Grundlagen in ausgewählten Migrationssprachen vermitteln, wobei auch der lokale hessische Dialekt eine Rolle spielt. Außerdem sollen die Kinder und Jugendlichen in der Werkstatt lernen, wie sie sich eine (neue) Sprache eigenständig aneignen oder verbessern können6. Während sich der klassische Fremdsprachenunterricht traditionell an einem Später (für Urlaub, Konsum und Beruf) orientierte, bereitet die Werkstatt auf Sprachenlernen im Jetzt vor: Die Sprachen können mittags gelernt und schon auf dem Schulhof oder nachmittags auf dem Weg nach Hause, beim Einkaufen oder im Sportverein benutzt und damit nachhaltiger verankert werden. Die Werkstattarbeit nutzt somit lokale Ressourcen der urbanen Stadtgesellschaft und zielt konkret auf die Nachhaltigkeitsziele Nr. 3, 4 und 11 der Vereinten Nationen (vgl. UN 2015)7. Es soll aber auch zu einem positiven Umgang mit Mehrsprachigkeit im Schulalltag beigetragen und gesellschaftlich wenig prestigereiche Sprachen sollen in der Schulgemeinschaft aufgewertet werden. Idealerweise werden individuelle Kompetenzen einzelner Schüler*innen erweitert mit positiven Effekten für Selbstwirksamkeit und Identitätsentwicklung. Einsprachige Kinder und solche mit anderen Familiensprachen können durch das Erlernen nicht-europäischer Sprachen zudem wertvolle Sprachlernerfahrungen machen.

3.2 Mehrsprachenpotenziale an Schule und Universität

In dem Kooperationsprojekt der Universität Frankfurt mit der Schule erleben die Studierenden und angehenden Englisch-Lehrpersonen ebenfalls einen Mehrwert für ihre biographische Mehrsprachigkeit, in dem ihre Mitarbeit durch ECTS für den Studienverlauf angerechnet werden kann. Gleichzeitig werden zum Teil verblasste Beziehungen zu den eigenen Familiensprachen (wieder) intensiviert oder vertieft. Durch die Vermittlungsaspekte können die Kompetenzen zudem fundiert und weiterentwickelt werden. In universitären Lehrveranstaltungen lernen sie moderne, inklusive Ansätze der Englischdidaktik kennen und übertragen diese auf ihre Familiensprachen. In dem innovativen Praxiskontext der Gesamtschule können sich die Studierenden außerdem als Change Agents (vgl. Viebrock 2018: 52 mit Verweis auf Bach 2015) erleben und erwerben gleichzeitig Handlungskompetenzen im Umgang mit Schüler*innen und Kolleg*innen sowie bei der Erstellung von Unterrichtseinheiten und (digitalen) Materialien. Für schnelle und flexible Absprachen von Woche zu Woche und um Beobachtungen zu einzelnen Kindern und Ideen für kommende Sitzungen zu teilen, wurde innerhalb des Werkstatt-Teams eine Chatgruppe in einem Messenger-Dienst eingerichtet. So können im Chat auch Reflexionen mit den Mitgliedern geteilt werden, die an den Sitzungen selbst nicht teilnehmen können, und Eindrücke aus den Sitzungen verschriftlicht werden. Insgesamt können die Studierenden sich in diesem Werkstattkontext somit auch als Reflective Practitioner (vgl. Wallace 1991) erleben und ihre pädagogischen Reflexionskompetenzen entwickeln.

3.3 Mechanismen doppelter Benachteiligung in Einwanderungsgesellschaften

Die Eltern der Kinder, die die Sprachenwerkstatt besuchen, arbeiten als Schneider, im Handwerk, im Servicebereich oder im Gastronomiegewerbe. Einige Familien haben eine Fluchterfahrung, die meisten Familien gehören nicht zur sozio-ökonomischen Mittelschicht. Der Erziehungswissenschaftler Aladin El-Mafaalani weist darauf hin, dass die Schule für viele Kinder aus armen Familien ein Ort der doppelten Benachteiligung ist (vgl. El-Mafaalani 2020: 94). Einerseits sei soziale Ungleichheit ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Viele internationale Studien zeigen immer wieder, dass in Deutschland die soziale Herkunft maßgeblich über den Bildungserfolg eines Kindes entscheidet. Ein sogenannter Migrationshintergrund sei aber nicht per se mit schlechteren Bildungsaussichten verbunden, argumentiert El-Mafaalani. Ein viel besserer Indikator für Schulerfolg sei schlicht die Adresse eines Kindes (a.a.O.). Andererseits werden durch die vielen eingebauten Selektionsmechanismen im deutschen Schulsystem soziale Ungleichheiten nicht nur legitimiert, sondern können über Strukturen, Programme, institutionelle Routinen zudem verstärkt werden. Besonders hervorgehoben werden muss im Zusammenhang mit institutioneller Diskriminierung das monolinguale Selbstverständnis der Institution Schule (vgl. Gogolin 1994). Orientiert sich die habituelle Praxis der Menschen, die in der Schule arbeiten, an einsprachigen Normalitätsvorstellungen ihrer mehrsprachigen Schülerschaft, so kann das Wirkungen entfalten, die Irene Cennamo mit Praktiken des „Doing Difference“ bezeichnet (Cennamo 2017: 85). Gleichzeitig ist die Schule – insbesondere die Grundschule – der einzige gesellschaftliche Bereich, an dem alle Kinder erreicht werden und entsprechend der zentrale Ort, an dem soziale Benachteiligungen abgebaut werden könnten (vgl. El-Mafaalani 2020: 77).

3.4 Soziale Herkunft als Einflussfaktor bei Bewertungen

Die Mechanismen doppelter Benachteiligung von Kindern, die in Armut aufwachsen, illustriert El-Mafaalani am Beispiel eines 9-jährigen Kindes, das in der Schule durchschnittliche Leistungen erbringt, obwohl es in schwierigen Familienverhältnissen aufwächst (vgl. 2020: 80–81): Nachmittags kümmert sich der Junge um einen jüngeren Bruder mit einer Behinderung, weil die Mutter ein Jahr zuvor verstorben ist. Der Vater ist arbeitslos und hat eine Suchterkrankung. Der Alltag dieses Jungen sei von Armut im Hinblick auf jede Kapitalart geprägt: ökonomisch, kulturell, sozial und emotional. Die Resignation der Erwachsenen in seinem Umfeld sei spürbar, vermutlich sogar stark. El-Mafaalani hält es für nicht abwegig, dass ein Kind, das unter diesen Bedingungen durchschnittliche Schulleistungen erbringen kann, ein überdurchschnittliches Potenzial besitzt und möglicherweise sogar große Begabungen hat. Lehrpersonen sehen im Unterricht, dass ein solches Kind vielleicht häufig abwesend, unsicher und wenig souverän wirkt, so dass bei Bewertungen soziale Verzerrungen auftreten können. El-Mafaalani nennt den Befund „brutal“ (ebd.: 81), dass Kinder aus unteren Milieus mit gleichen Kompetenzen und gleichen Schulnoten nachweislich eine deutlich geringere Chance haben, für ein Gymnasium empfohlen zu werden. Somit ist nicht nur das Ignorieren der sozialen Bedingungen, unter denen ein Kind bestimmte Leistungen erbringt, problematisch, sondern auch die Tatsache, dass soziale Herkunft als Zuschreibung und Stigmatisierung (aufgrund von Sprache, Migrationsgeschichte und ökonomischem Status der Familie) die Bewertung dieser Leistungen negativ beeinflussen kann. Daher geht El-Mafaalani mit der Lehrer*innenausbildung im Hinblick auf die Diagnosefähigkeiten angehender Lehrpersonen, individuelle Potenziale eines Kindes zu erkennen, hart ins Gericht. Er bezeichnet sie als

mangelhaft, vielleicht sogar nah am Dilettantismus. (…) Die soziale Herkunft spielt bei dem wenigen, was man im Bereich Diagnostik lernt, praktisch keine Rolle. Die Ausbildung diagnostischer Kompetenzen ist blind für die soziale Herkunft. Wo man blind ist, kann man auch nicht fördern (El-Mafaalani 2020: 80).

Auch das sprachliche Potenzial mehrsprachiger Kinder wird oft übersehen oder kann von Lehrkräften nicht eingeschätzt werden. Angenommen, der oben beschriebene Junge hat über seine Mutter neben Deutsch eine zweite Sprache gelernt und über diese Sprache ist er mit der Großmutter eng verbunden, die in der Familie seit dem Tod der Tochter viel Verantwortung übernommen hat. Lehrpersonen wissen durchaus, wenn Schüler*innen mehrsprachig aufwachsen, und dass Eltern weitere Sprachen sprechen. Aber oft fehlt ihnen das Wissen darüber, welche Kompetenzen ein Kind in der Familiensprache tatsächlich besitzt, ob es kommunizieren oder lesen oder sogar schreiben kann, oder nur einige wenige Worte versteht (vgl. Küppers 2022b). Weil die Großmutter wenig Deutsch spricht und der Vater krank ist, hat die Schule kaum Kontakt zu den Erziehungsberechtigten unseres fiktiven Schülers. Diagnostische Fähigkeiten im Bereich der Mehrsprachigkeit wären neben einem geschulten Blick für die soziale Herkunft somit wichtige Kompetenzen der Lehrer*innenausbildung, die helfen könnten, Potenziale zu erkennen, um Bildungsbenachteiligungen entgegenzuwirken. Die beiden Jugendlichen, die nun vorgestellt werden, wachsen zwar nicht in vergleichbaren Problemlagen auf, aber in mehrsprachigen Familien. Sie erhielten von ihren Grundschulen jeweils eine Hauptschulempfehlung, obgleich sie über große Potenziale verfügen.

4 Zwei jugendliche Fallbeispiele

Wir lernten Sana und Paolo im ersten Werkstatt-Jahr kennen. Die insgesamt 15 teilnehmenden Schüler*innen im Alter von 13 bis 16 Jahren gehörten zu drei unterschiedlichen Kontinenten aus den Jahrgängen 7, 8 und 9. Es waren vornehmlich Haupt- und Realschüler*innen, denen davon abgeraten wurde, eine zweite Fremdsprache zu belegen, um sich auf das Lernen von Deutsch und Englisch konzentrieren zu können. Die Lernenden kannten sich noch nicht als Gruppe. In der ersten Vorstellungsrunde wirkten daher einige noch sehr zurückhaltend, als sie erzählten, was sie an der Sprachenwerkstatt interessierte und welche Sprache in ihren Familien zuhause sind. Der Impuls für die Vorstellungsrunde zielte bewusst nicht auf produktive Sprachkompetenzen. Welche Sprachen sprichst du?, wurde daher nicht gefragt, sondern die Jugendlichen sollten selbst entscheiden können, was sie mit der Gruppe teilen wollten8. Allerdings hatten wir die Jugendlichen durchaus ermuntert, nach der ersten Vorstellung auch etwas in ihren Familiensprachen zu sagen, um diese Sprachen für alle erklingen zu lassen. Im ersten Jahr waren das u.a. Türkisch, Arabisch, Farsi, Kroatisch, Polnisch, Russisch, Bengalisch oder Vietnamesisch.

4.1 Paolo, 15 Jahre, Hauptschüler

Paolo besuchte die Sprachenwerkstatt zwei Jahre lang bis zu seinem Realschulabschluss nach der 10. Klasse. Wir lernten ihn als Hauptschüler im Alter von 15 Jahren kennen. Er war von Anfang an ein Schüler, dessen Arbeitshaltung, Motivation, Lebensfreude und Zuverlässigkeit uns positiv aufgefallen waren. Vieles über ihn und seine schulische und familiäre Situation haben wir in informellen Situationen in der Werkstatt oder bei Ausflügen erfahren, aber auch in den Gesprächen, die in jedem Schulhalbjahr für die Lernentwicklungsberichte geführt werden9.

Paolo wirkte auf uns sofort sehr selbstbewusst. Das Erste, was wir von ihm erfuhren, war, dass er Italiener sei, aber die Sprache leider nicht spreche. Er wurde in Bayern geboren und sei erst in der Grundschulzeit nach Hessen gezogen. Die Familie seiner Mutter stamme aus Sizilien, aber bei sich zuhause würde nur Deutsch gesprochen. Lediglich dann, wenn seine Mutter sauer sei und Anlass zum Schimpfen oder Fluchen habe, würde sie Italienisch benutzen. Paolos Stimme ist zwar kräftig, aber von seinen Italienischkenntnissen hörten wir zwei Jahre lang nichts. Er erzählt von regelmäßigen Urlauben in Italien und Familientreffen, so dass wir vermuten, dass er durchaus rezeptiv bilinguale Fähigkeiten besitzen könnte (vgl. Anstatt 2018), also in Alltagsdialogen je nach Thema viel versteht und auch durchaus einiges auf Italienisch (in frozen forms) zum Ausdruck bringen kann. Zu spüren ist vom ersten Treffen an die große Bedeutung der biographischen Bezüge zu Italien und Sizilien; eng damit verbunden sind aber auch Ambivalenzen, die spürbar wurden, wenn Paolo sich selbst positionieren konnte – wie etwa in der Vorstellungsrunde – als er offenbarte, dass er „ein Italiener [ist], der kein Italienisch spricht“. Im Interview erzählte er davon, dass er sich unwohl fühlt, wenn er die Erwartungen seiner Gesprächspartner*innen, z.B. während eines Italienurlaubes, enttäuschen muss, und erklärte das folgendermaßen: „Wenn die Leute versuchen, mit mir auf Italienisch zu sprechen und ich kann dann nicht antworten, deswegen ist es ein wenig blöd für mich“ (Z. 121–123). Als Konsequenz hat er für sich beschlossen, irgendwann Italienisch zu lernen.

Wir bemerkten bei Paolo gleichzeitig einen ausgesprochenen Stolz auf sein, wie er es nennt, „perfektes Deutsch“, womit er sich als junger Deutscher an seinem Wohnort verortet. Er bezieht sich dabei explizit auf die Aussprache, der man seine – Paolos – bayrische Kindheit nämlich nicht anmerke. Aber auch grammatikalisch sei er sehr zufrieden mit seinen Deutschkompetenzen. Paolo bekennt sich zwar auch klar zu seiner italienischen Herkunft, aber von Beginn an ist spürbar, dass er selbst mit den rezeptiven Fähigkeiten nicht zufrieden ist und so scheint es fast, als betrachte er seine ausgesprochen guten Deutschkenntnisse als eine Art Ausgleich für seine fehlenden produktiven Italienischkenntnisse. Schon in der Vorstellungsrunde erfuhren wir auch erstmalig von seinem Interesse an Türkisch, einer der Gründe, warum er an der Werkstatt teilnehmen wollte.

Nach dem Jahreswechsel 2021 wurden die Schulen aufgrund der pandemischen Situation wieder geschlossen und die Schüler*innen mussten erneut viele Wochen zuhause bleiben. Die Sprachenwerkstatt war auf den Umzug in die virtuelle Welt mit einem schon vorbereiteten Kurs auf der Schul-Moodle Lernplattform gut vorbereitet. Wir konnten den Jugendlichen auch rechtzeitig erklären, wie sie in die Online-Werkstatt finden würden, und wir hatten zu allen Email-Kontakt. Doch leider waren bei etlichen die organisatorischen Hürden so hoch – oder die technischen Voraussetzungen in den Familien so schlecht, dass viele den Weg in die Online-Werkstatt nie gefunden haben. Einige insbesondere der jüngeren Schüler*innen haben wir durch die Schulschließungen verloren und erst in der zweiten Hälfte des 2. Schulhalbjahres wiedergesehen, als Präsenzunterricht wieder möglich war. Paolo war jedoch einer der wenigen, die ab dem ersten Treffen in der virtuellen Werkstatt regelmäßig mit Begeisterung dabei waren, und der sich auch hier als motivierter, zuverlässiger und schnell lernender Teilnehmer entpuppte.

Wir hatten schon im Spätherbst 2020 mit dem Türkisch-Modul angefangen, welches federführend von einer Studentin geleitet wurde, deren Familiensprache Türkisch ist. Während dieser Wochen sahen wir Paolo geradezu aufblühen. In der Einstiegsphase, beim Sammeln bekannter Wörter und Ausdrücke auf Türkisch, sprudelte es förmlich aus ihm heraus. Paolo glänzte in dieser Sitzung und notierte interessiert die türkischen Ausdrücke, die von anderen genannt wurden und die er noch nicht kannte. Während der gesamten Einheit erlebte Paolo, dass er mit seinen Türkischkenntnissen etwas Besonderes kann und großen Erfolg hat. Über seinen besten Freund und dessen Familie hat Paolo Zugang zu Türkisch. Weil er viel Zeit mit Emrah verbringt und auch oft bei ihm zuhause ist, bekommt Paolo Alltag auf Türkisch mit und scheint beiläufig sehr viel zu lernen. Hierbei kommt ihm seine Haltung zum Sprachenlernen zugute, die sich an Kommunikation orientiert. Er wird von Emrahs Familie oft zum Essen eingeladen und illustrierte die Anforderungen in diesen Situationen folgendermaßen: „Man muss sich halt manchmal in die Gespräche mit einbeziehen und dann versucht man halt sein Glück auf Türkisch“. Türkisch in der Schule lernen zu können, das könne er sich sehr gut vorstellen. Seine Einstellung zu dieser Sprache ist durchweg positiv und er meinte, er wolle später einmal unbedingt die Türkei besuchen. Seinen eigenen Angaben zufolge sei sein Türkisch besser als sein Italienisch. Als Maßstab dienten ihm hier vermutlich die produktiven Fähigkeiten, also das Sprechen. Vermutlich ist er dabei auch weniger gehemmt, denn niemand erwartet, dass er sich auf Türkisch ausdrücken kann.

Damit kommen wir zurück zu Italienisch, Paolos Familiensprache. Diese Sprache wird an der Gesamtschule als 2. Fremdsprache angeboten, und weil es Paolos erklärtes Ziel ist, Italienisch zu lernen, wollte er sich dazu in der 7. Klasse anmelden. Doch die Englischlehrerin hatte ihm abgeraten. Er sei in Englisch nicht gut genug und solle lieber erst einmal Englisch vernünftig lernen und nicht noch zusätzlich Italienisch. Paolo erzählt: „Ich durfte Italienisch nicht wählen, weil ich mich auf Englisch konzentrieren sollte“ (Z. 240-241). Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er Italienisch einfach zusätzlich gelernt, „auch wenn ich in Englisch nicht so gut unterwegs bin“ (Z. 246).

Als Abschluss des ersten Werkstattjahres stand kurz vor den Sommerferien ein Besuch bei einem sogenannten Dönerci an, also einem Restaurant in der Nachbarschaft, in dem man türkische Gerichte auch auf Türkisch bestellen kann. Das Türkisch sprechende Besitzer-Ehepaar war auf den Besuch vorbereitet. Viele Jugendliche gaben ihre Bestellungen für Döner, Ayran und Limonata auf Türkisch auf, die Besitzerin war begeistert und spendierte eine Runde Zigarettenbörek. Paolo merkte man während des Ausflugs die Selbstsicherheit an, mit der er sich im türkischsprachigen Umfeld bewegt.

Im zweiten Jahr erlebten wir Paolo sehr wirkungsvoll im Team mit seinem besten Freund Emrah, der sich nun ebenfalls für unsere Werkstatt angemeldet hatte. Nach der Kennenlernphase starteten wir die Werkstattarbeit diesmal mit einer Einheit zum Thema Sprache und Rassismus, an deren Ende der Besuch eines Vertreters der Initiative Hanau 19.2. stand. Unser Gast war der Bruder eines der bei dem rassistischen Anschlag von Hanau getöteten Opfer. Auf den Besuch hatte sich die Gruppe vorbereitet und Fragen entwickelt. Paolo und Emrah hatten vorgeschlagen, dass sie die Moderation übernehmen könnten und sich auch eingebracht mit Ideen für eine Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer. Der Gast erzählte von der Tatnacht, den Ermittlungspannen der Polizei und den Versäumnissen der Behörden, aber auch von der Migrationsgeschichte seiner Familie, den Herausforderungen der Eltern, die deutsche Sprache zu lernen und der schweren Entscheidung in Deutschland zu bleiben. Wir erlebten Paolo und Emrah als einfühlsame Gastgeber und Moderatoren und stellten fest, dass sich durch die offene, authentische und herzliche Erzählweise unseres Gastes auch andere Jugendliche öffneten. So erfuhren wir z.B., wie stark es ein Junge aus der Abschlussklasse bedauert, dass er seine Familiensprache, Tamazight, nur sehr schlecht beherrscht, weil er sich kaum mit seinem Großvater unterhalten kann, der im Grunde kein Deutsch spricht. Auch Paolo teilte hier mit der Gruppe sein Bedauern über sein Unvermögen sich mit den Verwandten und Freund*innen aus Italien unterhalten zu können.

Schon nach dem ersten Halbjahr, aber auch in allen folgenden Lernentwicklungsberichten erhielt Paolo für seine Mitarbeit in der Werkstatt von uns ausgesprochen positives Feedback. Am Ende des 9. Schuljahrs stand in seinem Hauptschul-Abschlusszeugnis die Bestnote (1), ebenso wie in seinem Realschul-Abschlusszeugnis ein Jahr später. Nach zwei Jahren in unserer Werkstatt verabschiedete sich im Sommer 2021 ein selbstbewusster junger Mann mit vielen Talenten und Begabungen. Paolo wird erst einmal einen Beruf erlernen, erklärte er uns, Abitur wäre momentan nichts für ihn. Er hätte viele Voraussetzungen dafür.

4.2 Sana, 13 Jahre, Hauptschülerin

Sana lernten wir auch im ersten Werkstattjahr kennen. Sie war 13 Jahre alt und in der 7. Klasse und würde zunächst den Hauptschulabschluss machen, um anschließend wie Paolo den Realschulabschluss anzustreben. In der Vorstellungsrunde erzählte sie, dass sie nur Deutsch spricht; ihr Vater stamme aus Algerien, aber sie selbst spreche kein Arabisch. Sana wirkte auf uns selbstbewusst, aber auch abwartend, ruhig und beobachtend. Sie erschien zuverlässig und offen und ließ sich auch stets auf Übungen ein, die sie noch nicht kannte. In den ersten Wochen erfuhren wir, dass Sana noch drei Geschwister hat und es über die beiden Familien der Mutter Bezüge zu Italienisch und Portugiesisch gibt. Die Paarsprache der Eltern ist Deutsch, und Deutsch dominiert entsprechend auch die Familienkommunikation. Sana bezeichnete entsprechend Deutsch auch als ihre Muttersprache. In die Sprachenwerkstatt war sie gekommen, weil sie sich grundsätzlich für Sprachen interessiert. Sie kennt ein paar japanische Ausdrücke, die sie sich selbst beigebracht hat, und liest in ihrer Freizeit gerne und viel, besonders oft auf Wattpad.com, einer Storytelling-Webseite. Hockeyspielen ist ein weiteres ihrer Hobbys, sie trainiert in ihrem Verein ein jüngeres Mädchenteam.

Im zweiten Halbjahr des ersten Werkstattjahres gab es nach der Beendigung der Schulschließungen nach Ostern eine erneute kurze Vorstellungsrunde, weil einige Kinder wochenlang verschwunden waren. Auch Sana hatten wir nur selten in der Online-Werkstatt gesehen. Bei dieser Neustart-Runde waren wir sehr verblüfft über Sanas Selbstvorstellung. Sie erzählte wieder, dass sie nur Deutsch spricht, obwohl ihr Papa aus Algerien stamme und Arabisch spreche. Sie ergänzt dann aber, fast schon ein wenig schnippisch, dass man „später im Beruf auch nicht für alles Sprachen braucht“. Im Team wunderten wir uns sehr über Sanas Äußerung, die sich anhörte wie eine Rationalisierung. Sana ist eine person of color. Alltagsrassismen haben viele der Jugendlichen erlebt und in der Werkstatt auch davon erzählt. Möglicherweise war Sana im öffentlichen oder privaten Raum schon in Situationen, in denen Menschen sie aufgrund ihres Aussehens migrantisierten und Differenzerwartungen hatten, die auch ihre Sprachkompetenzen betrafen, die sie aber nicht erfüllte, weil sie eben nur Deutsch spricht, während Gesprächspartner*innen von ihr erwarteten, dass sie mehrsprachig sei.

Erst nach dem ausführlichen Feedbackgespräch am Schuljahresende verstehen wir Sanas Situation besser. Sie erzählte uns von einem Urlaub mit ihrem Vater in Algerien. Die Verwandtschaft sei erstaunt gewesen, dass sie kein Arabisch sprach. Über diese Urlaubserfahrungen reifte in Sana der Wunsch zuhause in Deutschland Arabisch lernen zu wollen. Wer sie in dieser Zeit beriet, wissen wir nicht. Im Alter von ca. zehn bis elf Jahren begann sie Arabischunterricht zu besuchen, da war sie vermutlich in der fünften Klasse. In ihren Erzählungen schwangen viel Enttäuschung und Frustration mit, als sie uns erklärte, dass sie zwei Jahre lang an drei verschiedenen Schulen versucht hätte, Arabisch zu lernen. Und schließlich hätte sie aufgegeben, weil sie festgestellt habe, „ich kann es einfach nicht lernen“. Wir fragten nach den Schulen und wollten genauer wissen, ob es in dem Unterricht um den Koran gegangen sei, also ob sie in Moscheeschulen war, oder ob sie es an Sprachenschulen versucht hätte oder in einem Herkunftssprachenunterricht an einer normalen Schule. Sie bestätigte unsere Vermutung, dass sie in Moscheevereinen versucht hatte Arabisch zu lernen. Es ließ sich allerdings nicht rekonstruieren, ob Sana dort Arabischkurse besuchte, die mit dem Alphabet schreiben beginnen und auf das Koranlesen in altem Hocharabisch vorbereiten, oder ob es Sprachkurse waren, die von einigen Moscheevereinen manchmal auch angeboten werden. Wir vermuteten, dass es Korankurse waren, denn Sana zeigte gerade auch während des Türkischmoduls, dass sie schnell lernt und sich traut, etwas in einer ihr unbekannten Sprache zu sagen. Von einem Sprachkurs für modernes Arabisch hätte sie vermutlich sehr profitiert und wäre nicht derart frustriert gewesen.

Wir fragten Sana auch nach dem Italienischunterricht, denn sie hatte ja über ihre Mutter auch einen Bezug zu dieser Sprache und hätte an der Schule beginnen können, Italienisch als eine zweite Fremdsprache zu lernen. Ihre Englischlehrerin hatte sie dazu aber nicht ermuntert. Und nach der Erfahrung mit dem Arabischlernen, fehlte es ihr auch an Selbstvertrauen sich noch einmal auf eine andere Sprache einzulassen. Sie sei einfach auch nicht mehr motiviert gewesen für Italienisch, erklärte sie uns.

Erst am Ende des Schuljahres wurde uns klar, dass Sana ein sehr belastetes Verhältnis zum Sprachenlernen hat. Wir ahnten, dass ihr Frust sehr tief saß. Denn die Niederlage mit dem Versuch, ihre Vatersprache Arabisch zu lernen, wertete sie als persönliches Scheitern. „Ich kann es einfach nicht lernen“ – bedeutete vielleicht sogar: ich bin nicht schlau genug für diese Sprache. Vielleicht hatte dieses Erlebnis sie sogar an ihren eigenen Fähigkeiten zweifeln lassen. Dass sie Arabisch vielleicht deswegen nicht sprechen gelernt hat, weil es nicht der Anspruch einer Koranschule ist, Arabisch kommunikativ zu vermitteln, das wusste sie nicht. Als wir ihr erklärten, dass es in den Moscheekursen vor allem darum geht, die Schriftzeichen zu lernen, um die Inhalte des Koran lesen und verstehen zu können, hörte sie sehr genau hin. Im Nachhinein verstanden wir besser, warum sie ihre Einsprachigkeit nach außen hin rationalisierte und fast schon verteidigte („man braucht nicht für alles Sprachen“) und warum sie sich nicht mehr auf Italienisch einlassen wollte.

4.3 Diskussion und Zusammenschau der Fallbeispiele

Paolo und Sana wachsen in einem superdiversen Umfeld auf, in dem Mehrsprachigkeit eine Alltagserfahrung in den Familien, an der Schule und in der Nachbarschaft ist. Für beide Jugendlichen ist die Zeit der Pubertät, des Ablösens von der Familie und der Suche nach der eigenen Identität aufgrund von Ambivalenzen, Zuschreibungen und Aushandlungsprozessen ein mehr oder weniger aufreibender „site of struggle“ (Darvin/Norton 2016: 20). Beide wachsen in mehrsprachigen Familien auf, aber erwerben als Muttersprache nur Deutsch. Beide interessieren sich grundsätzlich für Sprachen und haben eine positive Einstellung zum Sprachenlernen und zur Mehrsprachigkeit, weswegen sie zu uns in die Werkstatt kommen. Und beide verfügen über hohe Motivation und große Potenziale.

Paolos ausgeprägtes Sprachen(lern)-Potenzial und seine außergewöhnlich hohe Motivation für Sprache und Kommunikation bleiben während der sechs Jahre an der innovativen Sekundarschule (außer in unserer Werkstatt) als Bildungsressource quasi ungenutzt. Das ist umso bedauerlicher, als es sich um eine Schule im Aufbruch handelt, deren erklärtes Ziel es ist, mit alternativen pädagogischen Ansätzen die individuellen Potenziale ihrer Schüler*innen besser entdecken und fördern zu wollen. Gleichzeitig verfügt diese Schule sogar über die Rahmenbedingungen, die es Paolo hätten ermöglichen können, seine Familiensprache Italienisch zu lernen. Mit seinem Talent und einem direkten Zugang zu einer community of practice (seine Mutter und ihre Familienangehörigen und Freund*innen) hätte er vermutlich schnell große Fortschritte machen können mit entsprechend positiven Nebenwirkungen für seine Mehrfachidentität als Italiener und Deutscher. Doch das Fach Englisch und seine feste Verankerung als wichtigste Schulfremdsprache im Schulcurriculum scheinen über die der englischen Sprache dadurch verliehenen symbolischen Macht (vgl. Kramsch 2021) zu verhindern, dass Paolo produktive Sprachkompetenzen im Italienischunterricht aufbauen und entwickeln kann. Das hindert ihn zwar nicht daran, dennoch eine positive deutsch-italienische Mehrfachzugehörigkeit zu entwickeln. Doch mit einem Nachweis über die erfolgreiche Teilnahme am Italienischunterricht als zweite Fremdsprache wäre für ihn der Weg zum höchsten Bildungsabschluss, dem Abitur, leichter möglich gewesen. Nicht auszuschließen, dass er über diese Option nach dem Realschulabschluss sogar ernsthaft nachgedacht hätte.

Ein weiterer Aspekt ist an Paolo bemerkenswert. Durch beiläufiges Lernen in seinem privaten Umfeld hat Paolo Zugang zu Türkisch und damit zu einer lebendigen Gemeinschaft einer der großen Migrationssprachen in Deutschland. Er nutzt verschiedene lokale Lerninseln in der Stadtgesellschaft, wie z.B. die Familie seines besten Freundes, Musik, Gastronomie und Handel, um sich mit der türkischen Sprache zu umgeben und ihre Impulse aufzunehmen. Deutlich wird an Paolos Beispiel, wie groß das Potenzial der urbanen Stadtgesellschaften ist für beiläufiges Lernen, Peerlearning und autonomes Sprachenlernen mit digitalen Hilfsmitteln, und damit für nachhaltiges Lernen nicht nur in der lokalen mehrsprachigen Nachbarschaft, sondern auch in globalen, digitalen und mobilen Lebenswelten.

Während Paolo sich bewusst ist, dass die italienische Sprache ein wichtiger Teil seiner Identität ist und er zwar motiviert ist, Italienisch zu lernen, es aber nicht tut, macht Sana sich mit Beginn der Pubertät auf die aktive Suche nach dem fehlenden Puzzleteil ihrer Identität, der arabischen Sprache. Sie investiert viel Zeit und Mühen, ist dabei neugierig, hochmotiviert, ausdauernd und beweist einen starken Willen, was darauf schließen lässt, dass sie über außergewöhnliche Potenziale verfügt. Ähnlich wie die Journalistin Haruna-Oelker leidet Sana an undefinierbaren Phantomschmerzen, denn da gibt es einen Bereich ihrer Persönlichkeit, in dem ihr etwas spürbar fehlt; etwas, was sie nicht hat – aber haben könnte, weil man Sprachen ja lernen kann. Sie begibt sich also auf eigene Faust auf die Suche nach einem Zugang zu der algerischen Welt des Vaters, und damit auf eine Reise zu sich selbst. Ihre fast schon verzweifelte Suche nach Möglichkeiten, diese Sprache zu lernen, kann mit Darvin und Norton als ein politischer Akt bezeichnet werden, denn Sana wünscht sich Teilhabe auch in einer anderen Welt. Bei dieser Suche landet sie in Korankursen, die von Moscheevereinen oft kostenlos oder gegen geringe Gebühren angeboten werden. Vermutlich kann sich die Familie auch keine Sprachschule leisten. An ihrer Sekundarschule kann Sana auch niemand helfen, denn dort wird ihre Suche vermutlich nicht bemerkt. Selbst in unserer Werkstatt haben wir Sanas Situation erst im letzten Feedbackgespräch verstanden. Die frustrierenden Erfahrungen mit dem Arabischlernen hat sie als schmerzhafte Niederlage verbucht. Und weil sie vermutlich auch Scham erlebt und sich mit Selbstzweifeln gequält hat, muss sie diese Episode ihres Lebens vor sich selbst und anderen rationalisieren. Das traurige an ihrem Fall ist, dass sie sich schließlich eingerichtet hat in einer selbst erklärten Einsprachigkeit, ohne dass sie eine selbstbewusste deutsch-algerische Mehrfachzugehörigkeit entwickeln konnte. Damit entspricht sie vermutlich den Normalitätserwartungen der Institution Schule, in der Deutsch und Englisch symbolische Macht innehaben. Ihr Selbstfindungsprozess während der Pubertät wurde aber empfindlich gestört, und es ist eher unwahrscheinlich, dass sie irgendwann an einer Universität ein Studium in Afrikanistik beginnen wird.

5 Ausblick

Der britische Pädagoge Ken Robinson bezeichnete es als das größte Scheitern nationaler Schulsysteme, dass zu viele junge Menschen die Schule verlassen ohne eine konkrete Vorstellung davon, was ihre Talente und Potenziale sind und ohne eine Idee, was sie jenseits von Konsum, Reisen und Tourismus eigentlich mit ihrem Leben anfangen sollen (vgl. Küppers 2022a). Zusammen mit Lou Aronica spricht Robinson sogar von einer Klimakrise in der Bildung, da die Ressourcen, die Kinder in die Schulen mitbringen, verschwendet werden, wenn sie ihre Potenziale dort nicht entfaltet können. Dabei seien es die kreativen Ressourcen junger Menschen, die für die Bewältigung der anstehenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse so dringend benötigt werden (vgl. Robinson/Aronica 2016: 238).

Im dritten Jahr der Werkstatt arbeiten wir mit den jüngeren Jahrgängen 5., 6. und 7. und es sind wieder Kinder mit vielfältigen und großen sprachlichen Ressourcen gekommen. Ein Mädchen hat Bezüge zu den fünf Familiensprachen Moldawisch, Italienisch, Litauisch, Russisch und Deutsch, gleichzeitig einen Freundeskreis, in dem weitere Sprachen wie Polnisch, Arabisch, Chinesisch oder Albanisch gesprochen werden. Für die ukrainischen Kinder übernimmt sie über Russisch regelmäßig die Sprachmittlung, wenn wir mit Englisch nicht weiterkommen. Aufgrund der vielen ineinander greifenden Wechselbeziehungen und Migrationsbewegungen zwischen vielen Weltregionen wachsen Kinder zunehmend in Familien mit Bezügen zu verschiedenen natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeiten, mehreren Sprachen und unterschiedlichsten Kompetenzen auf. Irene Cennamo weist darauf hin, dass eine solche facettenreiche, sprachliche und soziale Vielfalt etliche neue Fragen für Forschung und Bildung aufwirft und wir mit den tradierten Konzepten, die sich an monolingualen Idealvorstellungen von Einzelsprachen orientieren, nicht mehr weiterkommen (vgl. Cennamo 2017: 100).

An Paolos und Sanas Sekundarschule gibt es etliche sinnstiftende Resonanzräume mit kreativen Bildungsangeboten, in denen Schüler*innen ihre Talente vielleicht leichter finden und ihre Potenziale besser entwickeln können (vgl. Rosa/Endres 2016). Dennoch bleibt zu fragen, wie diese Schule noch wirkungsvoller dabei helfen kann, dass Kinder und Jugendliche plurale Lebensentwürfe entwickeln und ganz selbstverständlich Mehrfachzugehörigkeiten zu unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen aufbauen können? Auch wenn es sich bei den beiden vorgestellten Fallbeispielen lediglich um Beobachtungen aus einem ungewöhnlichen Praxiskontext handelt und die Erfahrungen nicht generalisierbar sind, zeigt sich:

  • a) Wie stark sich die symbolische Macht von Englisch im Schulcurriculum auf andere Lernbereiche auswirken kann und in bester Absicht, die Schüler*innen nicht zu überfordern, die Entwicklung von Mehrsprachenpotenzialen verhindern hilft (vgl. Kramsch 2021).

  • b) Wie dringend notwendig eine gezielte Erweiterung der universitären Lehrer*innenausbildung im diagnostischen Bereich um die Aspekte soziale Herkunft und Mehrsprachigkeit ist, um Schüler*innenpotenziale besser entdecken, einordnen und entwickeln und in Bewertungsprozessen angemessen berücksichtigen zu können.

  • c) Dass es sinnvoll wäre, in den flexiblen (Zertifikats-) Strukturen dieser konkreten Schule einen festen Resonanzraum für Mehrsprachigkeit zu etablieren, um allen Schüler*innen und Familien ab der 5. Klasse eine individuelle Sprachberatung zu ermöglichen mit dem Ziel, in Kooperation mit außerschulischen Sprachanbieter*innen (solange dies die staatlichen Institutionen nicht leisten können oder wollen) vorhandene Sprachkompetenzen (auch digital) zu entwickeln und zertifizieren zu lassen (vgl. Woerfel/Küppers/Schroeder 2020).

  • d) Dass mehrsprachige urbane Stadtgesellschaften Lern- und Erfahrungsräume für selbstgesteuertes, autodidaktisches Sprachenlernen bieten und großes Potenzial besitzen für informelles und nachhaltiges Sprachenlernen mit hoher Lernwirksamkeit und systematische Forschungen dazu noch ausstehen (vgl. Wehner 2019; Mehlhorn 2021).

Schließlich ist die sprachliche Bildung insgesamt ein zentraler Bereich, um nachträgliche Anpassungen des nationalstaatlichen Bildungssystems an die mehrsprachigen und vielstimmigen Realitäten der postmigrantischen Gesellschaft vorzunehmen und damit einen Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit zu leisten: Sie integrativ zu denken und die Hierarchien zwischen den Deutsch und Englisch folgenden Sprachen (2. / 3. Fremdsprachen, Herkunftssprachen) aufzuheben und das schulische Sprachencurriculum theoretisch für alle Sprachen zu öffnen, wäre dazu ein erster wichtiger Schritt. Denn auch das historisch gewachsene Angebot des Herkunftssprachenunterrichts zementiert bislang eher die binäre Codierung in Wir und die Anderen, als dass es zur Überwindung der Differenzlinien zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund beiträgt (vgl. Küppers 2022a: 126). Der Neuausrichtung der sprachlichen Bildung, wie sie z.B. von der Europäischen Kommission (2015) empfohlen oder im Rat für Migration (vgl. Vogel 2020) diskutiert wird, könnte auf dem Weg in die offene mehrsprachige Gesellschaft dabei eine Schlüsselrolle zukommen (vgl. Küppers a.a.O.).

Notes

  1. Alle Angaben zu konkreten Orten und Personen wurden in diesem Beitrag anonymisiert. An der Werkstatt nehmen 15–20 Lernende und eine Gruppe von 3–10 Studierenden teil. Das Projekt wurde über QSL-Mittel (Qualitätssicherung in der Lehrerbildung) der Goethe-Universität gefördert. Für die Übersetzung des Abstracts auf Serbo-Kroatisch und Türkisch danke ich den mitarbeitenden Studierenden Kristina Kevilj und Mustafa Saygılı. [^]
  2. Die Journalistin kann rückblickend jedoch nachvollziehen, warum die Großmutter solch starken Ressentiments hegt: „Es ist kein Wunder, dass sie so dachte, wenn ich an ihre alten Schulbücher und die rassistische Darstellung und Sprache in Sütterlinschrift denke, die Schwarze Menschen als primitiv markierte“ (ebd.: 69). [^]
  3. https://schule-im-aufbruch.de/ (24.11.2022). [^]
  4. Die Schüler*innen entscheiden morgens selbst, in welchem der drei Fachbüros sie arbeiten wollen. Dass die Fachbüros für die drei Hauptfächer existieren, war eine Bedingung des Kultusministeriums im Genehmigungsverfahren. [^]
  5. https://schule-im-aufbruch.de/ueber-uns/vision/ (24.11.2022). [^]
  6. Als Start in das Modul Sprachenlernen ist zu Beginn jeden Jahres eine polyglotte Studentin zu Besuch, die über Kompetenzen in ca. 15 Sprechen verfügt und die den Teilnehmer*innen ihre fünf wichtigsten Sprachlerntricks beibringt. [^]
  7. Social Development Goals (UN 2015: n.d.): SDG 3 = health, well-being, SDG 4 = quality & equitable education, SDG 11 = inclusive & sustainable cities, vgl. https://sdgs.un.org/goals. [^]
  8. Beispielhaft hatten sich zuerst die Erwachsenen vorgestellt, also die Studierenden und ich als Projektleiterin. Bei meiner Vorstellung war es mir wichtig zu erwähnen, dass ich mich zwar auf Türkisch unterhalten kann, weil ich lange Zeit in Istanbul gelebt hatte, aber kein Dänisch spreche, obgleich meine Mutter in Dänemark geboren worden war und sie bis zu ihrem 6. Lebensjahr nur Dänisch gesprochen hatte, bevor sie nach dem Krieg nach Deutschland kam. [^]
  9. Mit ihm wurde später auch ein Leitfaden gestütztes Interview geführt, das im ersten Jahr im Rahmen einer wissenschaftlichen Abschlussarbeit entstanden ist. Da das Interview in transkribierter Form vorliegt, können einige – aber nicht alle – Äußerungen Paolos mit Zeilenangaben (Z) gemacht werden. [^]

Literatur

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Kurzbio

Dr. Almut Küppers ist Senior Researcher an der Goethe-Universität Frankfurt mit mehr als 30 Jahren Erfahrung als Lehrerin, Lehrkräfteaus- und fortbildnerin und Forscherin im Bereich ELT/(fremd-) sprachliche Bildung in Deutschland, Großbritannien, den USA und der Türkei. Sie wurde kürzlich zum Mitglied des Rates für Migration ernannt und untersucht derzeit die Rolle der Sprachbildung für nachhaltiges Lehren und Lernen in der post-migrantischen Gesellschaft. Zu ihren aktuellen Schwerpunkten gehören Mehrsprachigkeit, Migrations-/Herkunftssprachen und Chancengleichheit, Sprachenpolitik, inklusives Sprachenlernen sowie das Potenzial von Peerlearning und informellem Sprachenlernen in urbanen Räumen.

Anschrift:

Dr. Almut Küppers

Institut für England- und Amerikastudien

Goethe-Universität

Norbert-Wollheim-Platz 1

60323 Frankfurt am Main

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  • Almut Küppers (Goethe-Universität Frankfurt)

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Themenschwerpunkt: Mehrsprachigkeit und Spracherhalt im Kontext von schulischen, außerschulischen und familiären Lernorten

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