In den letzten dreißig Jahren wurde Leichte Sprache (LS) als Hilfe zur Teilhabe diskutiert, vor ca. 15 Jahren auch ein Regelwerk für diese Varietät erstellt. Im Alltag liegen als ein Ergebnis dieser Entwicklung nun Informationsangebote in LS vor (Netzwerk Leichte Sprache, online o.J.). So sollen z.B. mehr Menschen in die Lage versetzt werden, schriftliche Informationen in Broschüren und im Internet selbstständig zu lesen und zu verstehen.
Für die Schule gibt es zunehmend Lernmaterialien, die von den Anbietern unter einfache Sprache beworben werden, wobei der Unterschied von einfache und Leichte von den Rezipienten häufig nicht wahrgenommen wird. Im Gegensatz zur LS gibt es für (ver)einfach(t)e Sprache kein Regelwerk, allerdings wird meist in drei Punkten ähnlich verfahren: Vermeidung von Pronomina, Bindestrichschreibung von Komposita und kurze Sätze, zumindest kürzere (vgl. Bock 2019). Verlage postulieren für ihre Schulbücher z.B. im Bereich Hauswirtschaft, dass diese besonderen Wert auf die Wissensvermittlung in einfacher Sprache legten und Schülerinnen und Schüler mit Sprachdefiziten unterstützten. Lehrkräfte, die solche Materialien in der Hoffnung auf Verbesserung des Lernens eingesetzt haben, verweisen oft darauf, dass der Eindruck entstand, es sei für ihre Lerngruppe schwieriger als das normale Material gewesen (persönliche Kommunikation). Information zu Effekten von solchen Materialien findet sich bisher nicht. Immerhin gibt es erste empirische Ergebnisse wie das zur faktischen Hilfe durch Bindestrich-Schreibungen bestimmter Komposita, die zugleich kompetente Leser nicht beeinträchtigt (vgl. Larraß/Pappert 2020).
Ähnlich werden Lektüren kategorisiert, z.B. einfach lesen Niveau 1-3, oder für inklusiven Unterricht – Lesetexte in einfacher Sprache. Auch hier fehlt bisher Evidenz, was genau für welche Zielgruppe welche Effekte zeigt (für eine kritische Auseinandersetzung mit leichter Sprache in Bildungskontexten s. Heine 2017; Kilian 2017). Umso wichtiger, dass mit der Arbeit von Diana Nacarlı nun eine sehr konkrete, klar umrissene Untersuchung zu dieser Fragestellung vorliegt.
Nacarlı geht in ihrer Dissertation der Frage nach, inwiefern die Varietät Leichte Sprache im Kontext Schule Einfluss auf die Wortschatzkompetenz und damit auch das Leseverstehen hat (15), speziell für Jugendliche mit einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES).
In dem sehr persönlichen Vorwort über ihre besondere Motivation für das Thema nennt sie als Bezugspunkte Inklusion in der Schule sowie Deutschdidaktik, die einen politisch relevanten Beitrag leisten kann (5).
In der Einleitung und im gesamten Buch wird auf Lesekompetenz als wesentlich für die gesellschaftliche Teilhabe verwiesen (11), was Nacarlı von ihrem linguistischen Fokus, dem Wortschatz, nicht abgetrennt wissen möchte. Wortschatz wiederum steht im Zentrum, denn LS „setzt vor allem am Wort im Text an, paraphrasiert Lesarten … ändert die morphologische Struktur von Wörtern usw.“ (16).
Es folgt ein ausführlicher theoretischer Teil, in welchem nacheinander das Modell des mentalen Lexikons (Kap. 2), die Sprachentwicklung (lexikalisch-semantischer Fokus, Kap. 3) und Zusammenhänge zwischen Wortschatzkompetenz und Lesen (Kap. 4) vorgestellt werden, bevor sich die Autorin der Leichten Sprache und ihrem didaktischen Potential zuwendet und schließlich der Forschungslage zu LS und Wortschatzkompetenz (Kap. 5 und 6). Kapitel 7 stellt die empirische Erhebung sowie deren Auswertung dar, das abschließende achte Kapitel fasst die Ergebnisse knapp zusammen und reflektiert sie. Im Einzelnen:
In Kapitel 2 zum mentalen Lexikon und Wortschatzkompetenz wird das Konzept des individuellen Wortspeichers vorgestellt, wobei Nacarlı betont, dass die Diskussion zu modularem oder interaktivem Modell hier nicht von Interesse ist. Ihr geht es um die Klärung des Begriffs der Wortschatzkompetenz, die als die Fähigkeit auf Einträge im „Wortspeicher“ (23) zuzugreifen gefasst wird. Dabei zeigt sie die Problematik dieses Modells auf, zwischen Allgemeinwissen und Wortwissen unterscheiden zu müssen, was sie verwirft und das Ganze unter Weltwissen zusammenfasst (26) – vielleicht hätte hier ein genereller Verzicht auf die Metapher des „mentalen Lexikon“ mehr Klarheit erzeugt.
In Kapitel 3 geht es um den Bedeutungserwerb, wobei zunächst der ungestörte vorgestellt wird und zwischen ungesteuertem sowie institutionell (schulisch) gefördertem Erwerb unterschieden wird, um den es hier geht. Dabei verweist die Autorin darauf, dass Wortschatzarbeit in der Schule nur beiläufig erfolgt und keine angemessene Aufmerksamkeit erhält (36). Sie stellt didaktische Modelle und Prinzipien vor, mit denen Wortschatzerwerb bei Jugendlichen gefördert werden kann (soll), da fehlender Wortschatz die größte Hürde beim Textverständnis darstellt. Es folgen Erläuterungen zum Bedeutungserwerb unter Bedingungen einer SSES und vor allem zum Unterschied in der Wortschatzquantität und -qualität gegenüber ungestörtem Erwerb. Auch stellt sie Anforderungen wie die höhere Inputfrequenz und die Notwendigkeit der Entlastung des Arbeitsgedächtnisses für diese Zielgruppe heraus. Im Blick behält Nacarlı dabei stets die Frage, inwiefern das Prinzip der LS hilfreich sein kann. Abschließend erhalten die Leser praktische Informationen zur Diagnose Förderschwerpunkt Sprache einschließlich gesetzlicher Regelungen.
In Kapitel 4 – Wortschatzkompetenz und Lesen – wird der starke Zusammenhang zwischen diesen beiden Bereichen näher erläutert, indem Prozesse beim Lesen sowie beim fast mapping anhand von Theorien und Beispielen anschaulich gemacht werden. Auch hier ist der Überblick auf die Zielgruppe ausgerichtet. Es wird z.B. darauf verwiesen, welche Phänomene (nicht) sprachlich kodiert und (nicht) an der Textoberfläche erfassbar sind, woraus eine Unterspezifizierung von Texten resultiert, die außertextuelle Wissensbestände voraussetzt (56). Hier setzt die Theorie von scripts und frames an – Wissen um Situationen, das beim Lesen z.B. von Wörtern aufgerufen wird und parallel im Arbeitsgedächtnis verfügbar sein muss, um dem Text folgen zu können. So wird aufgezeigt, dass genau hier aufgrund der beeinträchtigten Kapazität des Arbeitsgedächtnisses eine Optimierung von Texten auf Wortebene von Interesse sein kann (62).
Um Leichte Sprache, deren didaktisches Potenzial und schulische Rahmenbedingungen geht es in Kapitel 5. Zunächst erhält man einen Überblick über das Konzept und die Ansätze der LS und deren primäre Adressaten, wobei LS für alle Menschen besser verständlich sein soll. Von mehreren Seiten werden die Richtlinien betrachtet, die sich auf lexikalisch-semantische Bereiche beziehen, sowie deren Auswirkungen auf Textebene. Hier wird das vielleicht größte Dilemma des Ansatzes aufgezeigt, nämlich „dass der Text zwangsläufig länger wird“ (75) und somit gerade die schwächsten Leser die längsten Texte bewältigen müssen. Des Weiteren erläutert Nacarlı die Diskrepanz zwischen den Regeln der LS und den Bildungsstandards (81–83) am Beispiel der Maximen auf Fachbegriffe verzichten vs. Fachbegriffe anwenden. Als weitere Dilemmata benennt Nacarlı das „Stigmatisierungspotential“ (85), die Einebnung von Textsortenspezifika und Änderung der sprachlichen Gestalt z.B. literarischer Texte, vor allem auch „die Gefahr einer systematischen Unterforderung“ (86).
Das letzte theoretische Kapitel referiert den Forschungsstand zu LS und Wortschatzkompetenz, was aufgrund der geringen Anzahl von Studien sehr knapp ausfällt. Trotzdem kann Nacarlı auch hier einerseits vielversprechende Ansätze herausarbeiten und andererseits auf Konkretisierungen der genannten Dilemmata hinweisen.
Im empirischen Teil (Kap. 7) gibt die Autorin die wesentlichen Informationen über die gewählte Methodik (explorativ, sowohl quantitativ als auch qualitative Betrachtung) sowie die eingesetzten Texte, Fragebögen und Aufgaben; über die Stichprobe aus Treatment- und Kontrollgruppe mit den hier „Gewährspersonen“ genannten Probanden (24 SuS mit SSES und Förderschwerpunkt Sprache / 20 SuS eines altsprachlichen Gymnasiums, alle 44 in der 8. Klasse) sowie über die Schritte der Durchführung, bei der ein Lesetext in den Varietäten Standardsprache und LS zufällig an jeweils die Hälfte der Gruppen verteilt wurde und dazu Aufgaben (Fragebogen) gelöst werden mussten. Daran schloss sich mit zeitlichem Abstand eine Clusteraufgabe an, bei der der zentrale Begriff des Lehrtextes (Imperialismus) im Zentrum steht, um so fast mapping-Ergebnisse zu elizitieren. Wiederum mit zeitlichem Abstand fand ein standardisiertes Interview mit einem Teil der Probanden statt, das vor allem im Hinblick auf Klärungsbedarf zu den Clustern geführt wurde sowie zur Einschätzung der Jugendlichen, ob sie einen schweren oder leichten Text gelesen haben.
Im Auswertungsteil werden die Ergebnisse detailliert dargestellt und soweit möglich auf Signifikanz geprüft. Nacarlı betont hierbei, dass es eher eine „Formulierung von Tendenzen“ (113) sei. So zeigt sich bzgl. der ersten Aufgabe, dass der standardsprachliche Text für die Treatmentgruppe verständlicher war, LS „also keinen positiven Effekt auf die Bearbeitung der Aufgabe hatte“ (115). Es wird jeweils auch der Einfluss der (mitgebrachten) Lesekompetenz auf die Leistung in dem Test untersucht und festgestellt, dass die „individuelle Lesekompetenz … einen viel stärkeren Einfluss auf ein erfolgreiches Textverstehen ausübte als die Varietät“ (123), was nur bei einigen Konstellationen von Gruppe x Aufgabe x Varietät nicht gilt. Abschließend wird detailliert über die Durchführung und Auswertung der Clusteraufgabe sowie zugehörigen Interviews berichtet, wobei die Interviews zum Teil Komponenten des Verständnisses von Imperialismus (fast mapping-Leistungen) zu Tage förderten, die in den Clustern nicht gezeigt wurden.
In ihrer Zusammenfassung mit Ausblick betrachtet die Autorin die Ausgangsfragen. Hier lässt sich festhalten, dass bei der Kontrollgruppe mit LS-Text bei Cluster und Interview reichhaltigere fast mapping-Repräsentationen ausgebildet wurden, also ein positiver Effekt erzielt wurde, die eigentliche Zielgruppe mit dem Förderbedarf Sprache dagegen eher nicht profitieren konnte. Das diesbezügliche Minimalergebnis findet man auf Seite 159, nämlich „dass Leichte Sprache im Rahmen dieser Erhebung keine besondere Verstehenshürde dargestellt hat.“ Aber eben auch keine Hilfe. Als Nachteile der LS werden noch Effekte der Textlänge (Demotivation) sowie die durch Übertragung in LS vorgegebene Interpretation (Vorenthaltung eigenständiger Interpretation) genannt (160). Als Lösungsmöglichkeit angedeutet wird ein Vorgehen, das sich von den Regeln der LS löst und flexibler auf die Bedarfe der Schülerinnen und Schüler ausgerichtet ist.
Insgesamt liegt mit dieser Forschungsarbeit ein gezielter und wichtiger Beitrag zur Frage des Abbaus sprachlicher Barrieren in der Schule vor. Aufbau und Darstellung der Inhalte erscheinen stimmig und durchweg von großem Interesse. Dass wieder nur eine kleine Studie mit wenigen (für die Ressourcen aber schon eher sehr vielen!) Probanden möglich war, ist weniger das Problem der Autorin als vielmehr ein strukturelles Problem in der hiesigen Forschungslandschaft. Es bleiben am Ende nur vage Tendenzen und viele Eventualitäten, die man bei derart beschränkten Mitteln in Kauf nehmen muss. So zeigt Nacarlı im Ausblick auf, dass das Erhebungsdesign näher an tatsächliche Unterrichtssettings hätte angelehnt sein können (163), an anderer Stelle taucht ein Problem auf, das auf fehlende umfangreiche Pilotierung von Erhebungsinstrumenten schließen lässt (115), nämlich eine Auswertungsmethode, die das Ankreuzen aller angebotenen Lösungen belohnt, da es keine Abzüge für falsche Antworten gibt. Das Nennen solcher Erfahrungen macht für mich eine der großen Stärken dieser Arbeit aus, da Rezipienten gerade daraus wertvolle Impulse mitnehmen können. Auch ihre konsequent von den Bedürfnissen der Menschen her gedachte Vorgehensweise und sowie Auswahl der Kriterien ist beispielhaft. Ebenso dass sie ihren Anspruch an die eigene Arbeit, an Mitteln und Wegen zu Teilhabe und Inklusion mitzuarbeiten über die gesamte Strecke des Buches nicht aus den Augen verliert: Stets beleuchtet sie neben Potentialen auch Fallstricke und Unzulänglichkeiten von Ideen und Möglichkeiten zum Einsatz von LS in der Schule und lässt ihre Leser so an einer ständigen ideen- und datengeleiteten Diskussion teilnehmen, was wiederum die Lektüre zu einem inspirierenden Vergnügen gemacht hat. Das Buch ist allen Studierenden, Lehrenden und Interessierten empfohlen, die sich für Möglichkeiten und Probleme beim Abbau sprachlicher Barrieren in der Schule, speziell auch im Kontext Inklusion interessieren.
Literatur
Bock, Bettina (2019): „Leichte Sprache“ – Kein Regelwerk. Sprachwissenschaftliche Ergebnisse und Praxisempfehlungen aus dem LeiSa-Projekt. Berlin.
Heine, Antje (2017): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache – eine besondere Form Leichter Sprache? Überlegungen aus der Perspektive des Faches DaF/DaZ. In: Fix, Ulla/Bock, Bettina/Lange, Daisy (Hrsg.): "Leichte Sprache" im Spiegel theoretischer und angewandter Forschung. Berlin, 401–414.
Kilian, Jörg (2017): „Leichte Sprache“, Bildungssprache und Wortschatz – Zur sprach- und fachdidaktischen Wertigkeit der Regelkonzepte für "leichte Wörter". In: Fix, Ulla/Bock, Bettina/Lange, Daisy (Hrsg.): „Leichte Sprache" im Spiegel theoretischer und angewandter Forschung. Berlin, 189–209.
Larraß, Anna & Pappert, Sandra (2020): Leichte Sprache im sprachsensiblen Biologieunterricht: Ein Experiment zum Lesen von Komposita. In: Lütke, Beate; Scherger, Anna-Lena; Ricart Brede, Julia; Müller, Anja & Montanari, Elke (Hrsg.): Migration und Mehrsprachigkeit. Beiträge aus den 14. und 15. Workshops „Deutsch als Zweitsprache, Migration und Mehrsprachigkeit“ 2018 und 2019. Stuttgart, 237–258.
Netzwerk leichte Sprache (online, 16. 8.2025) https://www.netzwerk-leichte-sprache.de/fileadmin/content/documents/regeln/Regelwerk_NLS_Neuauflage-2022.pdf
Dr. Gunde Kurtz