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Praxisbericht

„Sprachenexpedition rund um die Ostsee“. Erfahrungen aus einem internationalen Projekt des Goethe-Instituts zum mehrsprachigen Potenzial der Deutschlernenden

Abstract

Der Praxisbericht präsentiert das im Schuljahr 2021/2022 durchgeführte Projekt „Sprachenexpedition rund um die Ostsee“. Die Schüler*innen lernten die Mehrsprachigkeit im eigenen Land sowie in den Nachbarländern kennen und setzten ihre sprachlichen Ressourcen beim Erschließen neuer Sprachen ein. Die länderübergreifende Kooperation hob das Potenzial der Sprachenkenntnisse und die Brückenfunktion des Deutschen hervor. Die beteiligten Lehrkräfte wurden im Projekt kleinschrittig begleitet und für den mehrsprachigen Unterricht fortgebildet. Der Beitrag präsentiert das didaktische Gesamtkonzept und dessen Umsetzung. Die Erfahrungen der beteiligten Schüler*innen und Lehrkräfte runden den Bericht ab. Das Lehrmaterial ist mittlerweile publiziert und kann grundsätzlich weltweit im Deutschunterricht eingesetzt werden.

"Language expedition around the Baltic Sea". Experiences from an international Goethe-Institut project on the multilingual potential of learners of German            
The report presents the project "Language Expedition around the Baltic Sea", carried out in the 2021/2022 school year. The project aimed to educate students about multilingualism in their own and neighbouring countries and to help them use their linguistic resources to learn new languages. The international cooperation and the role of German as a bridge language were also emphasized. The participating teachers were supported and trained regularly to enhance their skills in multilingual teaching. The article presents the overall didactic concept and its practical implementations. The experiences of the students and teachers involved in the project are also shared. The teaching material has been published and can be used worldwide in German lessons.

Keywords: Mehrsprachigkeit, internationales Schüler*innen-Projekt, Lehrer*innen-Fortbildung

How to Cite:

„Sprachenexpedition rund um die Ostsee“. Erfahrungen aus einem internationalen Projekt des Goethe-Instituts zum mehrsprachigen Potenzial der Deutschlernenden. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 29: 2, 339–362. https://doi.org/10.48694/zif.4009

1 Zur Einleitung und Ausgangsidee für das Projekt

In den Jahren 2021/2022 übernahmen wir die Konzipierung und Durchführung eines Projektes, das von mehreren Goethe-Instituten (GI) in Ostseeanrainer-Ländern ins Leben gerufen wurde. Die Ausgangsidee, initiiert vom GI Schweden, wurde dann von den GI Finnland, Schweden, Dänemark, Estland, Lettland und Litauen gemeinsam entwickelt und beinhaltete diese Punkte:

Die Zielgruppe sollen Deutschlernende ab dem Niveau A2 nach dem Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen im Alter von 14 bis 17 Jahren sein. Das Projekt zielt darauf, die Schüler*innen sich mit der eigenen Muttersprache und denen der anderen Projektteilnehmenden beschäftigen zu lassen. Es geht vor allem darum, den Wert der eigenen Muttersprache und von Mehrsprachigkeit aufzeigen zu können, sodass man Sprachen über den reinen Nützlichkeitsaspekt hinaus auch als Brücke zwischen Menschen wertschätzen lernen kann. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen den Schülerinnen und Schülern Online-Workshops angeboten werden, außerdem soll der digitale Austausch über Lernplattformen erfolgen.

Nicht zuletzt waren auch Begegnungen in Echtzeit gewünscht, die jedoch, da noch mitten in der Pandemie-Zeit, vor allem als Online-Begegnungen denkbar waren. Den Expert*innen wurden aber auch ein paar offene Fragen für die Konzeptentwicklung mitgegeben:

  • Was ist bei diesen Zielen die Rolle des Deutschen?

  • Und kann die Mehrsprachigkeit überhaupt als verbindendes Thema im Projekt funktionieren?

In dem vorliegenden Bericht aus der Praxis möchten wir aus der Perspektive unserer Rolle als Expertinnen im Projekt zunächst beschreiben, wie es von dieser Idee bis zum Konzept entwickelt wurde. Bestimmte Grundbausteine bestimmten vor allem die Durchführung des Projektes. Anschließend möchten wir die Themenbereiche sowie die Aktivitäten, die in jedem Themenbereich den Lernenden angeboten wurden, präsentieren. An dem Projekt nahmen ca. 20 Deutsch-Lehrkräfte aus den baltischen und nordischen Ländern teil und sie gaben regelmäßig auch Feedback dazu, wie die Lernangebote von ihren Schüler*innen angenommen wurden. Daher bereichern wir unsere Schilderungen mit Auszügen aus diesem Feedback, um dann ein Fazit unserer Erfahrungen mit dem Projekt zu ziehen.

2 Zur Projekt-Entstehung und zu den konzeptionellen Grundlagen

In unserem Projektantrag haben wir die Rahmenbedingungen für die Durchführung des Projektes dahingehend verändert, dass die Schüler*innen-Aktivitäten nicht in von uns geleiteten Online-Workshops für ausgewählte Lernende angeleitet, sondern von den Deutschlehrkräften in ihren Klassen bzw. Gruppen durchgeführt werden. Somit haben wir das Projekt in erster Linie als ein Fortbildungsprojekt für DaF-Lehrkräfte angelegt.

Während also die DaF-Lehrkräfte an dem Projekt teilnahmen, um sich dem Thema Mehrsprachigkeit im DaF-Unterricht zu nähern und neue Unterrichtskonzepte auszuprobieren, begleiteten die Expertinnen die Lehrkräfte in allen Teilen des Projektes. Die Vorgehensweise für die Projektlaufzeit war wie folgt festgelegt:

Die Expertinnen erstellen Unterrichtsmaterialien auf Deutsch, die die Lehrkräfte in ihrem Unterricht einsetzen können. In mehreren Workshops werden diese Materialien vorgestellt und von den Lehrkräften selbst in der Lernenden-Rolle ausprobiert. Außerdem bekommen die Lehrkräfte Hintergrundinformationen zu den Themen und Aktivitäten. Diese sowie detaillierte Hinweise für die Arbeit mit dem Lehrmaterial sind auch in den Handreichungen für alle Unterrichtseinheiten zusammengestellt. Das heißt, auch ohne an den Workshops teilgenommen zu haben, können sich die Lehrkräfte kleinschrittig mit dem Lehrmaterial und kurzen theoretischen Einführungen in die Themen bekannt machen. Die Workshops dienen ebenso einem kurzen Erfahrungsaustausch unter den Lehrkräften und mit den Expertinnen darüber, wie der Einsatz der Materialien gelungen ist. Des Weiteren dient eine gemeinsame Moodle-Seite als Plattform für die interne Kommunikation im Projekt. Darüber kann man sich über die Workshops hinaus austauschen, die Lehrkräfte können da jederzeit Fragen stellen, da die Expertinnen durchgehend beratend zur Seite stehen. Außerdem kann die Plattform für die Vernetzung in bilateralen Aktivitäten genutzt werden. Schließlich wird im Rahmen des Projekts auch die Möglichkeit einer Online-Schüler*innenbegegnung angelegt.

Für die didaktische Konzeption und die inhaltliche Zusammenstellung des Lehrmaterials bildeten folgende Überlegungen den Ausgangspunkt:

  • Deutsch ist gerade in der Ostseeregion eine typische L3. Für ein Projekt, das in den Ostseeanrainer-Ländern durchgeführt wird, ist Deutsch als Grundlage geeignet, den Blick auf Sprachen zu richten und um den Aspekt Mehrsprachigkeit allgemein zu erweitern. Vor allem aufgrund der historischen Gegebenheiten ist Deutsch in der Ostseeregion präsent und hat auch Einfluss auf die Sprachen in den am Projekt teilnehmenden Ländern (vgl. Kursiša 2024: 166–168).

  • In der Regel werden die mehrsprachigkeitsdidaktischen Konzepte im Fremdsprachenunterricht benutzt, um das Erlernen der Zielsprache effizienter zu machen (vgl. bspw. Deutsch als zweite Fremdsprache in Neuner/Hufeisen/Kursiša/Marx/Koithan/Erlenwein 2009). In diesem Projekt sollen ebenfalls mehrsprachigkeitsdidaktische Konzepte genutzt werden, jedoch ist nun Deutsch nicht die Ziel-, sondern die Ausgangs- und Kommunikationssprache. Deutsch fungiert also als Basis für das Erschließen von neuen Sprachen.

  • Damit geht einher, dass Deutsch für die Kommunikation im Rahmen des Projekts verwendet wird. Alle Aufgaben werden zunächst in den jeweiligen Klassen/Gruppen bearbeitet. Anschließend können die Lehrkräfte auf der gemeinsamen Moodle-Plattform die Ergebnisse aus den Aufgaben anderen Lehrkräften zur Verfügung stellen. Auf diese Weise ermöglicht das von den Schüler*innen erarbeitete Material eine weitere Beschäftigung mit der Sprache bzw. den Sprachen und schafft eine weitere Sprachverwendungssituation. Wir gehen davon aus, dass die Schüler*innen neugierig auf die Ergebnisse aus anderen Klassengemeinschaften sind und das Deutsche dabei als Lingua franca fungieren kann.

Wie die Arbeit mit dem Unterrichtsmaterial konkret aussah, soll im nächsten Kapitel dargestellt werden.

3 Unterrichtsmaterial

3.1 Einleitende Bemerkungen

Die Arbeit mit dem Unterrichtsmaterial wurde basierend auf den folgenden grundlegenden Punkten konzipiert:

  • Erstens und in Bezug auf mögliche Themenbereiche beschlossen wir, die verschiedenen Ebenen der Mehrsprachigkeit aufzuzeigen: So sollte das Material die Schüler*innen nicht nur dazu anleiten, sich mit ihrer individuellen und der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit zu beschäftigen, sondern auch zwischen der inneren und äußeren Mehrsprachigkeit zu unterscheiden. Darüber hinaus sollten sie sich die unterschiedlichen Rollen und Statusverhältnisse einzelner Sprachen bewusst machen.

  • Zweitens und unter besonderer Berücksichtigung der Bedingungen für den Unterricht in einer zweiten Fremdsprache – durch wenig Kontaktunterrichtszeit und teilweise rigide Lehrpläne gekennzeichnet – sollen die Inhalte so aufbereitet werden, dass die Schwelle beim Einsatz dieses zusätzlichen Lehrmaterials möglichst gering bleibt. Im Rahmen des Projekts wurde den Lehrkräften grundsätzlich vorgeschlagen, sich die einzelnen Arbeitsblätter anzuschauen und zu entscheiden, inwieweit es für sie überhaupt möglich ist, diese im Unterricht mit ihren Klassen einzusetzen; wenn ja, dann auch zu entscheiden, welche Teile der Arbeitsblätter einzusetzen und welche nicht. Der Grundsatz lautete also: Alles kann, nichts muss.

Inhaltlich haben wir folgende Themenbereiche erarbeitet:

  • Thema 1: Sprachen in unserer Klasse

    Das Thema zielt darauf, dass die Schüler*innen die individuelle Mehrsprachigkeit und die Sprachenverwendung erkunden und länderübergreifend kennenlernen.

  • Thema 2: Sprachen verstehen und vergleichen

    In Orientierung an der Idee der rezeptiven Interkomprehension können die Schüler*innen mit Texten aus unterschiedlichen Sprachfamilien arbeiten und so ihre Mehrsprachigkeit ausbauen: Es geht dabei darum, Zugänge zu neuen Sprachen zu erkunden und mehrsprachiges Bewusstsein zu entwickeln.

  • Thema 3: Sprachen in unserem Land

    In diesem Themenbereich sind die Schüler*innen eingeladen, die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit in ihrem Land zu erforschen und anschließend interkulturelle Vergleiche zu ziehen.

  • Thema 4: Jugend-/Alltagssprache

    Mit diesem Themenbereich sollen die Schüler*innen über ihre innere Mehrsprachigkeit nachdenken und unterschiedliche sprachliche Register bewusst wahrnehmen, aber auch für sie bedeutende Themen vor dem internationalen Hintergrund präsentieren können.

Im Folgenden gehen wir auf alle Bereiche detaillierter ein, indem wir die Aktivitäten darstellen und auch das Lehrkräfte- bzw. Schüler*innen-Feedback aufgreifen.

3.2 Thema 1: Sprachen in unserer Klasse

Auf der Grundlage des mittlerweile weit verbreiteten Konzeptes des Sprachenporträts, das bspw. Krumm (2010; vgl. auch Busch 2017; Gogolin 2015) bereits früh in Klassengemeinschaften eingesetzt hat, um die Sprachenvielfalt der Schüler*innen aufzuzeigen, standen auch im vorliegenden Projekt die individuellen Sprachenporträts zunächst im Mittelpunkt des ersten Themenbereiches. Nach dem üblichen Vorgehen der Zuordnung der Farben zu den Sprachen und Körperteilen und dem Ausmalen der Figur mit anschließender Kurzvorstellung der Sprachenporträts wurden für dieses Thema zwei weitere Schritte hinzugefügt. Im ersten davon veranschaulichten die Klassengemeinschaften die Sprachen in der Klasse, indem sie alle in den Sprachenporträts aufgeführten Sprachen aufgelistet und mit der Anzahl der Nennungen dann sogenannte Wortwolken erstellt haben, wie in den Abb. 1, 2 und 3 zu sehen ist. Diese Abbildungen zeigen ein paar interessante Details: Zum einen sieht man an den Wortwolken der estnischen und der schwedischen Klasse, dass z.B. der besonderen Stellung des Estnischen resp. des Schwedischen als Landes- bzw. Unterrichtssprache größere Bedeutung eingeräumt wurde als allen anderen Sprachen. Die von den Expertinnen vorgesehene Aufgabe, mit der Anzahl von Sprachennennungen in den Sprachenporträts die Verwendung von jeder Sprache in der Klasse insgesamt aufzuzeigen, scheint also modifiziert zu sein. Zum anderen enthält die Wortwolke der estnischen Klasse auch die Gebärdensprache und in der Wortwolke der lettischen Klasse ist Lettgallisch (*Latgalisch) aufgeführt, ein Dialekt in Lettland. Man kann hier vermuten, dass sich die entsprechende Schule in der Region befindet, in der dieser Dialekt gesprochen wird. Darüber hinaus ist auch in dieser Wortwolke die Landessprache größer als andere Sprachen abgebildet. Ein Bewusstsein für den Sprachenreichtum bei den Schüler*innen ist bereits vorhanden und in den Wortwolken vorzüglich herausgearbeitet.

Abb. 1: Wortwolke aus den Sprachenporträts einer estnischen Klassengemeinschaft

Abb. 2: Wortwolke aus den Sprachenporträts einer schwedischen Klassengemeinschaft

Abb. 3: Wortwolke aus den Sprachenporträts einer lettischen Klassengemeinschaft

In dem Projekt-Workshop, der auf den Einsatz dieses Unterrichtsmaterials folgte, haben Lehrkräfte in der Feedback-Runde ihre Begeisterung für die Beschäftigung mit den Sprachenporträts und Wortwolken geäußert. Ebenso haben sie auf der Lernplattform ihre Eindrücke hinterlassen (s. Exzerpte 1 und 2)1:

    1. (1)
    1. […], dass einige Schūler viele Sprachen erwāhnt haben. Wir haben erfahren in der Klasse, dass einige mit den Verwandten Polnisch oder Ukrainisch sprechen.
    1. (2)
    1. Es war erstaunlich, wie ernst und gleichzeitig auch laessig, wie kreativ und tief denkend die Schueler in EA [Einzelarbeit] mit der Aufgabe fertig wurden.

Darüber hinaus bot ein weiteres Arbeitsblatt in diesem Themenbereich an, sich mit dem Konzept der Dominant language constellation (DLC) (vgl. Aronin 2016) zu beschäftigen, also mit der Sprachenverwendung, um herauszufinden, welche der vielen Sprachen im täglichen Miteinander inwieweit sichtbar werden. In der Abb. 4 ist die DLC einer finnischen Klassengemeinschaft zu sehen, und interessant ist hier nicht nur, dass einige Sprachen mit einem bestimmten Bereich wie Musik oder Ballett im Zusammenhang stehen, sondern dass die finnischen Schüler*innen zwischen dem Schwedischen und dem Schwedischen in Finnland (Finlandsvenska) unterscheiden und dass sie auch Finglisch aufführen, ein Mix zwischen Finnisch und Englisch. Ebenso ist ihnen bewusst, dass sie in ihrem Alltag sowohl Finnisch als auch den örtlichen Dialekt benutzen.

Abb. 4: Dominant Language Constellation einer finnischen Klassengemeinschaft

Ähnlich ist in der Abb. 5 zu sehen, dass auch die litauische Klassengemeinschaft sich der Unterscheidung zwischen dem Litauischen als Landessprache und dem regionalen Dialekt bewusst ist.

Abb. 5: Dominant Language Constellation einer litauischen Klassengemeinschaft

Wichtig war in diesem Themenbereich der schul- und länderübergreifende Austausch der Ergebnisse. Die Lehrkräfte veröffentlichten die Wortwolken und die Abbildungen der DLC auf der Moodle-Plattform und zeigten die Resultate aus anderen Schulen in ihrem Unterricht. Eine Lehrkraft beschreibt das so (s. Exzerpt 3):

    1. (3)
    1. Meine Achtklässler waren sehr neugierig und wollten wissen, welche Wortwolken andere Schüler ihres Alters erstellt haben. Nach dem Anschauen waren sie erstaunt und es gab den Grund für weitere Diskussionen schon in der Muttersprache.

Sowohl die Beispiele der Wortwolken als auch die der DLC veranschaulichen, dass es Gemeinsamkeiten zwischen den Klassen oder Ländern gibt, z.B. Nachbarsprachen oder Koreanisch als Sprache von Lieblingsbands. Aber es gibt auch Eigenheiten wie bspw. die Unterscheidung zwischen Schwedisch und Finnlandschwedisch, die Einblicke in die Sprachensituation ermöglichen, wie sie anders z.T. gar nicht möglich wären.

3.3 Thema 2: Sprachen verstehen und vergleichen

In diesem Themenbereich arbeiteten die Schüler*innen exemplarisch mit Texten und konnten dabei in die anderen Ostseesprachen im Projekt eintauchen. Mit gezielten Anweisungen wurden Zugänge zu unbekannten Sprachen in anderen Sprachfamilien erkundet. Bei der Erstellung der Arbeitsblätter war die Idee der rezeptiven Interkomprehension (vgl. Ollivier/Strasser 2013 oder Hufeisen/Marx 2014 in Bezug auf germanische Sprachen) leitend. Wir haben uns jedoch zwischen den Sprachfamilien bewegt und haben, inspiriert von Kordts Idee der sprachdetektivischen Textarbeit (vgl. Kordt 2015), die Annäherung an die Texte in den unterschiedlichen Sprachen anhand kleinschrittiger Anweisungen gestaltet, damit die Lernenden jeweils auf eine oder mehrere Stellen in einem Text fokussieren können und mit Hilfe von Vergleichen sowie unter Hinzuziehen ihres sprachlichen Vorwissens sowie Weltwissens die Bedeutungen herauszufinden versuchen.

Es gibt in diesem Themenbereich mehrere vom Aufbau her ähnliche Arbeitsblätter. Jedes Arbeitsblatt befasst sich mit einer der am Projekt beteiligten Sprachen. Basis für die sprachliche Arbeit liefert ein Text über die Hauptstadt des jeweiligen Landes (s. Abb. 6).

Abb. 6: Text des Arbeitsblatts für Estnisch

Die Lernenden können die Audio-Aufnahme des Textes mehrmals hören und dann miteinander besprechen, was sie verstehen konnten. Anschließend geht es zu den Fragen bzw. Arbeitsanweisungen, die zur detaillierteren Arbeit mit dem Text einladen (s. einige der Aufgaben in Abb. 7).

Abb. 7: Auszug aus dem Arbeitsblatt für Estnisch

Zum Schluss können die Lernende das im Text Verstandene in ihrer Muttersprache oder auf Deutsch zusammenfassen, wobei es dabei nicht um die Übersetzung des Textes geht, sondern eher um eine Bewusstmachung des Verstehens. Davor ist noch ein weiterer Schritt eingebaut, und zwar die Reflexion des Verstehensprozesses.

Im Projekt haben wir den Lehrkräften den Vorschlag gemacht, mit einer Sprache zu arbeiten, die nicht zu der gleichen Sprachfamilie gehört wie die Landessprache, z.B. haben die lettischen Schüler*innen den finnischen Text gelesen, die estnischen Schüler*innen den litauischen usw. Wichtig für das Erschließen der Textbedeutung ist, dass einige Teile aufgrund von Sprachkontakt zu erschließen sind, in anderen kann gerade das Deutsche behilflich sein.

Beim zweiten Arbeitsblatt, Kalender und Feiertage, steht der Sprachenvergleich im Vordergrund (s. Abb. 8). Auch hier ist die ursprüngliche Idee bereits länger bekannt, z.B. in den Ausarbeitungen zur Tertiärsprachendidaktik für Deutsch als zweite Fremdsprache nach Englisch, wo man dafür plädiert hat, den neuen Wortschatz im Deutschen im Vergleich zu Englisch und zur Mutter- bzw. Unterrichtssprache einzuführen oder mit Paralleltexten zu arbeiten (vgl. Neuner et al. 2009, aber auch Berger/Colucci 1999; Kursiša/Neuner 2006; Kursiša/Richter-Vapaatalo 2018; Richter-Vapaatalo 2022). Das vorliegende Arbeitsblatt entwickelt diesen Grundgedanken weiter, indem alle am Projekt beteiligten Landessprachen miteinander verglichen werden.

Abb. 8: Ein Ausschnitt aus dem Arbeitsblatt Kalender und Feiertage

Es gibt auf diesem Arbeitsblatt Kalenderblätter in dänischer, schwedischer, finnischer, estnischer, lettischer und litauischer Sprache. Da es sich um dieselben Daten bzw. um dieselben Feiertage handelt, können die Lernenden die Bezeichnungen für diese Feiertage, aber auch die Monatsnamen und Konventionen der Datumsnotierung vergleichen. So können sie sowohl Phänomene der Sprachenverwandtschaft als auch des Sprachenkontakts entdecken.

Wir haben die Lehrkräfte gebeten, einen kleinen Online-Fragebogen an Lernende weiterzureichen, damit wir erste Lernenden-Eindrücke von dieser Art sprachlicher Arbeit bekommen. Laut ihrer Antworten haben die Schüler*innen das Erschließen der Texte gut schaffen können. Auf die Frage, was ihnen beim Verstehen geholfen hat, gaben sie als Antwort: die Anleitung (z.B. Fragen zu den einzelnen Wörtern in den Texten, die Tabelle, in der man die Wörter aus den Kalenderblättern in unterschiedlichen Sprachen ergänzen sollte etc.); die Aufgaben; die Möglichkeit, Texte zu hören; das gemeinsame Arbeiten in der Gruppe; internationale Wörter sowie auch Wörter, die in der L1 ähnlich sind.

3.4 Thema 3: Sprachen in unserem Land

In diesem Themenbereich haben wir mehrere Arbeitsblätter und Aktivitäten für Schüler*innen erstellt, die unterschiedlich komplex waren und unterschiedliche Perspektiven auf Sprachen anboten. Der gemeinsame Nenner waren dabei die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit und auch die sozialen Dimensionen des Sprachbewusstseins (vgl. bspw. Wildemann/Bien-Miller/Akbulut 2020: 119–120).

Zum einen ging es unter dem Titel Sprachen in meinem Ort um die Erforschung von Linguistic Landscapes im Ort, z.B. in der Schule, auf den Straßen, in den Geschäften bzw. auf Verpackungen oder in der Bibliothek (vgl. Androutsopoulos 2017; Ricart Brede 2014), möglicherweise aber auch im eigenen Zimmer oder Zuhause (vgl. Krompák 2018). Das Arbeitsblatt Sprachen in unserem Land bot eine andere Perspektive an: Die Schüler*innen konnten die Sprachen im eigenen Land erkunden, indem sie überlegten, welchen Status bzw. welche Rolle eine Sprache in einem Land oder was für eine unterschiedliche Rolle die gleiche Sprache für unterschiedliche Personen haben kann (vgl. Hu 2017; Riemer 2017; Venohr 2021; Wulff 2021). Nachdem die Schüler*innen die unterschiedlichen Begriffe kennengelernt haben, können sie sich über ihre Sprachen aus dieser Perspektive austauschen (s. einen Auszug aus dem Arbeitsblatt in Abb. 9). Während eine Sprache für die Mehrheit der Schüler*innen die Erstsprache ist, ist sie für jemanden in der Klassengemeinschaft vielleicht die Zweitsprache oder gar eine Fremdsprache. Genauso kann die Erstsprache ein Dialekt oder eine Regionalsprache sein. Sogar mit Grundkenntnissen in der deutschen Sprache ist ein solcher Austausch im Fremdsprachenunterricht möglich und kann den Schüler*innen Einsicht geben in die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit und in die sozialen Dimensionen der Mehrsprachigkeit und kann sie für die unterschiedlichen Rollen einer Sprache sensibilisieren.

Abb. 9: Zwei Aufgaben aus dem Arbeitsblatt Sprachen in meinem Land

Wie die Arbeit mit diesen Arbeitsblättern gewesen ist, illustriert das Feedback einer Lehrkraft im Exzerpt 4:

    1. (4)
    1. Die SuS [Schülerinnen und Schüler] haben Präsentationen zum Thema „Sprachen in Lettland. Linguistic landscapes“ gemacht. Die Präsentationen waren interessant. Die SuS waren der Meinung, dass es gar nicht leicht war, konkrete Daten zu finden. Linguistic landscapes zu finden, hat einigen Schülern viel Spaß gemacht. Sie haben danach in der Altstadt, auf verschiedenen Verpackungen, im Bücherregal und auf der Kleidung gesucht. Es gab keine sehr überraschende Entdeckungen, aber die SuS waren kreativ.

Deutsch wird hier als Kommunikationssprache benutzt und somit in einer Art und Weise authentisch zum Präsentieren im Schulkontext genutzt.

Zum anderen haben wir in diesem Themenbereich kürzere Arbeitsblätter zu den Themen Feiertage und Wünsche und Situationen und Wünsche angeboten. Ein Arbeitsblatt war der Idiomatik der Farbbezeichnungen im interkulturellen Vergleich gewidmet. Solche Unterrichtssequenzen sind aus dem herkömmlichen Fremdsprachenunterricht bereits recht bekannt; das Neue ist jedoch, dass dabei, wie in der Abb. 10 zu erkennen ist, den Schüler*innen zugemutet wird, Feiertagswünsche in mehreren für sie unbekannten Sprachen zu erschließen. Auch hier, wie oben bereits ausgeführt, werden die tertiärsprachendidaktischen Ideen erweitert. Aus der Beschäftigung mit den Texten in diesen Sprachen im Themenbereich 2 kennen die Schüler*innen bereits den Klang und Besonderheiten der Sprachen. Diese Kenntnis bzw. evtl. sogar nur ein Eindruck, ein Gefühl oder Intuition sollen mit diesen Arbeitsblättern entwickelt werden.

Abb. 10: Ein Auszug aus dem Arbeitsblatt Feiertage und Wünsche

Die Lehrkräfte meldeten zurück, dass diese Arbeitsblätter als Zusatz in den letzten Schultagen vor den Weihnachtsferien sehr gut geeignet waren; mit ihnen wurde den Schüler*innen etwas Außercurriculares angeboten, und trotzdem waren sie aktiv in ihrem Lernprozess und haben sich mit Sprachen beschäftigt.

3.5 Thema 4: Jugend- und Alltagssprache

Dieser Bereich widmet sich zum einen dem Phänomen der inneren Mehrsprachigkeit, im Besonderen den unterschiedlichen Registern in einer Sprache (vgl. Wandruszka 1979 nach Roche 2018: 67). Anhand der Aufgabenstellung in Abb. 11 reflektieren die Schüler*innen den Sprachgebrauch in vier Situationen: im Unterricht, mit Großeltern, mit Freundinnen und Freunden, beim Besuch an einem Arbeitsplatz.

Abb. 11: Auszug aus dem Arbeitsblatt Jugendsprache

Diese Aufgabe soll die unterschiedlichen Register bewusstmachen und auch wertschätzen. Der Begriff Sprachvarietäten wird dabei in einem schülerorientierten Kontext eingeführt: Es sind Situationen ausgewählt, denen die Schüler*innen in ihrem Lebensalltag begegnen. Mit dieser Aufgabe nähert man sich der Aktion des Jugendwortes (vgl. Langenscheidt o.J.), die im deutschsprachigen Raum eine bereits längere Tradition hat, in vielen anderen Ländern aber gar nicht bekannt ist. Nachdem die Schüler*innen die Aktion und die Jugendwörter der letzten Jahre aus den deutschsprachigen Ländern kennengelernt haben, können sie in Anlehnung an das deutschsprachige Verfahren für ein Jugendwort des Jahres in ihrer Klassengemeinschaft abstimmen. Die Idee ist dabei, die eingereichten ‚Kandidaten‘ für das Wort auf Deutsch zu präsentieren und die Wahl zu begründen. Sollte es schulübergreifende Partnerschaften geben, können die vorgeschlagenen Wörter und das Gewinnerwort auch der/den Partnerklasse/n präsentiert werden. Wie das erfolgen kann, bspw. in einem Online-Treffen oder per Videopräsentation, bleibt den Lehrkräften überlassen. Außerdem wäre es denkbar, alle Jugendwort-Kandidaten, die in einer Klassengemeinschaft gesammelt worden sind, auch einer Partnerklasse zuzuschicken, um dann die Abstimmungsergebnisse in beiden Klassengemeinschaften zu vergleichen. Auf unserem Arbeitsblatt empfehlen wir in einer Aufgabe, die Wörter, die jeweils auf den ersten drei Plätzen gewählt worden sind, auf einer gemeinsamen Plattform samt Erläuterungen auf Deutsch zu sammeln. Man kann dann die Ergebnisse in unterschiedlichen Klassen oder Ländern vergleichen oder gar am Ende ein gemeinsames Jugendwort wählen.

Zum anderen geht es in diesem Themenbereich um die Lieblingslieder der Klassengemeinschaft (vgl. Dobstadt/Riedner 2021: 407 zu Musik und Sprachmitteln). Angeleitet durch das Arbeitsblatt Unser Lied können die Schüler*innen ihr aktuelles Lieblingslied in der Landessprache auswählen und präsentieren; dabei müssen sie – wieder auf Deutsch – bestimmte Informationen zum Lied vorbereiten; diese werden in Form eines Quiz allmählich offengelegt, und die Mitschüler*innen können raten. Es handelt sich dabei um Fragen wie: Wer hat das Lied gemacht? Und wann? Wer singt es? Was für ein Lied ist das? Wie ist die Musik? Worum geht es in dem Lied? Warum gefällt euch das Lied? Nach der Raterunde werden alle Lieder samt Informationen auf Postern präsentiert und es wird wieder abgestimmt – man bestimmt das Lieblingslied der Klassengemeinschaft. Dieses Lied soll nun für die Präsentation für Partnerklassen aufgearbeitet werden, zum bereits angefertigten Steckbrief kommen einige Informationen hinzu, z.B. die Zusammenfassung des Liedtextes. Darüber hinaus sollen sie einen kurzen Werbetext zum Slogan: Deswegen ist das unser Lied! verfassen.

Für dieses Arbeitsblatt haben wir im Projektrahmen eine Padlet-Seite eingerichtet, auf der die teilnehmenden Klassengemeinschaften das ausgewählte Lied anderen teilnehmenden Klassen präsentieren konnten. Abb. 12 zeigt, wie ein litauisches Lied den anderen Klassengemeinschaften vorgestellt worden ist:

Abb. 12: Vorstellung eines litauischen Liedes im Rahmen der Aufgabe Unser Lied

Die auf dem Padlet eingereichten Lieder-Präsentationen zeigen ein Detail, das von den Autorinnen so nicht vorgesehen war, jedoch als sehr begrüßenswert anerkannt werden kann: Neben den Liedern aus den Ländern in den Landessprachen hat eine Klassengemeinschaft auch entschieden, ein ausländisches Lied zu präsentieren: Dabei handelte es sich um ein Lied der koreanischen Band BTS. Wir schätzen eine solche Auslegung der Originalaufgabe als sehr gelungen, denn die/der Schüler*in hat hier über etwas, das sie/ihn in ihrem/seinem Leben gerade sehr beschäftigt, auf Deutsch kommunizieren können.

So lautete beispielsweise die Angabe zu „Im Lied geht es um“ (s. Exzerpt 5):

    1. (5)
    1. Um jemanden den wir vermissen oder verloren haben. Um ewigen Winter und wenn wir das Mensch, der uns wichtig ist treffen, wird wieder Frühling.

Die Begründung „Darum ist es unser Lied“ lautete (s. Exzerpt 6):

    1. (6)
    1. Ich mag wie die Stimmen harmonisieren sich. Das diese Lied Emocionen vermittelt.

Des Weiteren sind auf dem Info-Blatt auch mehrere interessante Hintergrundinformationen zum Lied gesammelt – alles auf Deutsch!

Die vorgestellten Beispiele aus dem Projekt zeigen, dass es im Rahmen des Themenbereiches Mehrsprachigkeit zahlreiche interessante Aspekte gibt, die sich direkt auf die Lebensrealität der Schüler*innen beziehen und sich auf Deutsch, gemeinsam mit anderen zur Verfügung stehenden Sprachen, bearbeiten lassen.

3.6 Online-Schüler*innen-Begegnungen

Die Idee einer länderübergreifenden Schüler*innen-Begegnung war von den Auftraggebenden bereits in die Projektausschreibung aufgenommen. Die Ausgangsidee war dabei, dass diese Begegnung authentische Kommunikation auf Deutsch ermöglichen soll.

Die Aufgabe der Expertinnen bestand darin, den Online-Schüler*innen-Begegnungen einen organisatorischen Rahmen und die inhaltliche Ausgestaltung zu geben. Inhaltlich entschieden wir uns, einige der im Projekt erstellten Arbeitsblätter als Grundlage für die Begegnungen zu nutzen: Das Arbeitsblatt Farben bietet sich an, um Redewendungen mit Farben aus unterschiedlichen Sprachen zu vergleichen oder Situationen zu erklären, in denen man die Redewendungen benutzt. Beim Thema Sprachen in meinem Land können die Schüler*innen einander ihre Ergebnisse, insbesondere welche Sprachen welchen Status bei den Schüler*innen in der Klasse haben, präsentieren, um dann vergleichend zu besprechen, was ihnen besonders interessant erscheint. Beim Thema Sprachen in meinem Ort können die Schüler*innen Fotos der Linguistic Landscapes aus ihrem Ort vorstellen, um anschließend ein Lieblingsfoto aus dem jeweils anderen Ort auszuwählen.

Auch diese Begegnungen wurden in einem Workshop mit den Lehrkräften vorbereitet und die Hinweise in einem Arbeitsblatt zusammengestellt. Dabei ging es um die notwendigen Schritte bei der Vorbereitung der Online-Begegnungen unter den Lehrkräften, dann die Schritte der Vorbereitung der Schüler*innen auf die Online-Begegnung sowie ihre Durchführung je nach Wahl des Themas. Da die am Projekt teilnehmenden Lehrkräfte in den Klassen 7 bis 11 (13–17 Jahre alte Schüler*innen) unterrichteten, haben wir einen Vorschlag zur Aufteilung in die Partnerschaften gemacht, der sich an den folgenden drei Kriterien orientierte: Es sollten die Schüler*innen der gleichen Altersstufe zusammenarbeiten, wonach sich drei Gruppen ergaben: für die Klassenstufe 7–8, 8–9 und 10–11. Es sollten mindestens zwei Länder in einer Partnerschaft vertreten sein, damit die Verwendung der Fremdsprache Deutsch authentisch ist. In einer Partnerschaft sollten zwischen ca. 15 und 25 Schüler*innen zusammenarbeiten, damit sich Kleingruppen bilden können. Aber auch in Bezug auf diese Aktivität galt der Grundsatz: Alles kann, nichts muss.

Es war nicht allen Lehrkräften möglich, die Online-Schüler*innen-Begegnungen zu organisieren. Einige Lehrkräfte haben diese Möglichkeit, mit den Kolleg*innen im Projekt zusammenzuarbeiten, genutzt, und ihre Rückmeldungen waren stets ähnlich: Sie waren froh und zufrieden, es geschafft zu haben. Die Schüler*innen waren teilweise aufgeregt, da es für viele das erste Mal war, mit fremden Personen außerhalb des Deutschunterrichts Deutsch zu sprechen; sie waren stolz darauf, diese Situation gemeistert zu haben. Gleichzeitig haben die Lehrkräfte auch wichtige Einblicke in den Vorbereitungsprozess gegeben: Die größte Herausforderung war bereits die zeitliche Festlegung der Online-Begegnung: Neben dem Ausschließen von Zeiten wie Schulferien oder Feiertagen, die nicht in Frage kommen und das Zeitfenster für ein mögliches Treffen verringern, hing der Erfolg bedeutend auch von dem Verständnis und der Unterstützung des Kollegiums und der Schulleitungen ab. Treffen mit Beteiligung von nur zwei Lehrkräften waren einfacher zu gestalten als mit drei teilnehmenden Lehrkräften, denn der Zeitmangel und die unterschiedlichen terminlichen Verpflichtungen der Lehrkräfte in ihrem Schulalltag machten es schwierig, bspw. gemeinsame Vorbereitungstreffen zu vereinbaren. Dabei waren die Lehrkräfte sehr flexibel und kreativ und haben Planung und Vorbereitungen auch schriftlich online, z.B. in einem gemeinsamen Dokument vorgenommen. Besonders erwähnenswert ist auch die Selbstverständlichkeit, mit der die Lehrkräfte unterschiedliche Online-Plattformen verwendet haben, darunter Padlet, wo sich die Schüler*innen vor dem Online-Treffen vorgestellt haben, Aerpod, Canva, Jamboard, um interaktive Inhalte auszutauschen, oder Mentimeter, um Ergebnisse zusammenzufassen. Für die Schüler*innen ist eine solche Online-Begegnung eine spannende Abwechslung im Unterrichtsalltag, die auch eine authentische Situation schafft, die Fremdsprache zu verwenden. Man kann also davon ausgehen, dass der Lerneffekt bedeutend ist. Gleichzeitig sei auf den immensen Vorbereitungsaufwand für Lehrkräfte hingewiesen, der in den Lehr- oder Dienstplänen so gar nicht vorgesehen ist.

4 Unser Fazit zum Projekterfolg

Die Arbeitsinhalte in diesem Projekt können als ungewöhnlich beschrieben werden, die von den teilnehmenden Lehrkräften eine überdurchschnittliche Offenheit Neuem gegenüber verlangten. Außerdem muss daran erinnert werden, dass das Projekt während der Pandemie durchgeführt wurde, als sich die Regeln bzgl. des Schulbesuchs vs. Online-Unterrichts in den beteiligten Ländern teilweise wöchentlich und dabei nicht synchron veränderten. Das heißt, dass die Voraussetzungen für die Durchführung des Projekts, in dem unter anderem die länderübergreifende Kooperation unter den Lehrkräften eine wesentliche Rolle spielte, als eine zusätzliche Herausforderung betrachtet werden können. Dennoch war das Projekt dadurch gekennzeichnet, dass die Lehrkräfte durchgehend aktiv waren und neue Kooperationen entwickelt haben.

Auch wenn das Projektkonzept unsererseits bereits festgelegt war, wollten wir wissen, welche Erwartungen die Lehrkräfte mit der Teilnahme am Projekt verbinden. Daher führten wir noch vor dem Projektbeginn eine kurze Umfrage durch, auf deren Ergebnisse wir hier eingehen möchten. Die Antworten von 18 Lehrkräften ließen sich jeweils drei bis fünf Bereichen zuordnen. Die interessierten Lehrkräfte haben angegeben, dass sie mit ihren Schüler*innen im Projekt mitarbeiten möchten, um

  • etwas Neues auszuprobieren und neue Blickwinkel bzw. Inspiration zu bekommen; dazu gehört auch die Erkundung der sprachlichen Vielfalt im Ostseeraum,

  • bei Schüler*innen Interesse an Sprachen zu wecken und so Werbung für Deutsch zu machen,

  • einen sinnvolleren und interessanteren Unterricht anbieten zu können, in dem man Deutsch praktisch anwenden sowie Sprache neu erleben kann,

  • andere Lehrkräfte zu treffen und zusammenzuarbeiten.

Die Lehrkräfte verbanden mit dem Projekt den Wunsch, dass ihre Schüler*innen

  • Abwechslung im Unterricht bekommen, Spaß an dem Projekt haben sowie interessiert und aktiv teilnehmen,

  • motivierter werden und Vorteile erkennen, verschiedene Sprachen zu kennen,

  • ihre Deutschkenntnisse verbessern und auch merken, wie gut ihr Deutsch bereits ist,

  • ihre eigene Mehrsprachigkeit reflektieren, neue Erfahrungen bekommen, neue Einsichten gewinnen,

  • nicht zuletzt auch Kontakte knüpfen und neue Freunde finden.

Für sich selbst erhofften sich die Lehrkräfte durch die Teilnahme am Projekt

  • neue und nützliche Ideen für den Unterricht zu bekommen und den eigenen Schulalltag als abwechslungsreicher zu erleben,

  • neue Kenntnisse zu erwerben, z.B. Neues über andere Kulturen zu erfahren oder mehr über Mehrsprachigkeit zu lernen, und neue Erfahrungen zu sammeln,

  • neue Kontakte zu knüpfen und das eigene Netzwerk auszubauen.

Als Herausforderungen im Projekt vermuteten die Lehrkräfte:

  • Integration der Projektaktivitäten in den Lehrplan mit der geringen Stundenanzahl für Deutsch,

  • Motivation und Interesse der Schüler*innen,

  • Kooperation mit anderen Lehrkräften, aufgrund der Kulturunterschiede und der zur Verfügung stehenden Zeit.

Dass das Projekt zahlreiche der Erwartungen erfüllt hat, wird deutlich, wenn man auf die im Kap. 3 geschilderten Ergebnisse zurückblickt: Deutsch war Basis für das Erschließen neuer Sprachen und für die internationale Kommunikation, somit konnte die Sprache viel praktisch und als Ausgangs- und Kommunikationssprache im Unterricht angewendet werden. Die Schüler*innen haben zurückgemeldet, dass sie stolz waren, so viel Deutsch benutzt zu haben.

Wir gehen auch davon aus, dass die sprachaktivierenden Aufgaben gerade im L3-Unterricht einen Mehrwert mitbringen; mit Bezug auf das Faktorenmodell zum Mehrsprachenlernen von Hufeisen besitzt gerade die zweite Fremdsprache (L3) den besonderen Status, ein Ausgangspunkt für das weitere Sprachenlernen zu sein (vgl. Hufeisen 2020: 77–78) und so Sprachaufmerksamkeit zu entwickeln. Die Aktivitäten, die im Projekt im Rahmen der unterschiedlichen Themenbereiche angeboten wurden, erlaubten es den Schüler*innen, die Fremdsprache Deutsch beim Kennenlernen von anderen Sprachen einzusetzen, aber auch mit dem Vorwissen aus anderen Sprachen, z.B. ihrer Erstsprache und der Fremdsprache Englisch, zu kombinieren, um neue Sprachen zu erschließen. Damit entfalten die Schüler*innen ihr mehrsprachiges Bewusstsein: Darunter versteht man zum einen die Fähigkeit, „den Fokus von der Form auf die Bedeutung von sprachlichen Äußerungen zu richten und umgekehrt, oder Wörter und deren Funktion bestimmen zu können“, was Jessner-Schmid/Allgäuer-Hackl (2020: 82) als metalinguistisches Bewusstsein bezeichnen; zum anderen begreifen die Schüler*innen, wie die Sprachsysteme interagieren, und erkennen Ähnlichkeiten und Unterschiede, was als zwischensprachliches Bewusstsein bezeichnet wird (vgl. ebd.). Das mehrsprachige Bewusstsein wird mittlerweile mehr oder weniger explizit in den Lehrplänen für Fremdsprachenfächer bzw. in den Schulcurricula erwähnt und nimmt somit eine bedeutende Rolle in der Schulbildung ein. Das Projekt lieferte eine konkrete praktische Umsetzung für die Entwicklung des mehrsprachigen Bewusstseins. Bzgl. der Projektausrichtung als Fortbildung schätzten die Lehrkräfte laut mündlichen Rückmeldungen im abschließenden Fortbildungsseminar am meisten die Begleitung durch die Workshops, in denen sie die auch für sie selbst neuen Inhalte und Arbeitsmethoden ausprobieren konnten, die Hintergrundinformationen und die kleinschrittigen Anleitungen sowohl in den Lehrerhandreichungen als auch in den Arbeitsblättern und die Vernetzung, vor allem durch die Workshops und dann die gemeinsamen Online-Schüler*innen-Begegnungen.

Auch wenn das Lehr-Lernmaterial geographisch auf die Ostseestaaten und die entsprechenden Landessprachen begrenzt war, können die Grundprinzipien, die wir bei der Gestaltung von den Arbeitsblättern benutzt haben, auch für andere Sprachenkonstellationen übernommen werden. Gleichermaßen glauben wir, dass das vorliegende Material, das mittlerweile im Portal des Goethe-Instituts für DaF-Lehrkräfte „deutschstunde“ veröffentlicht ist (vgl. Kursiša/Richter-Vapaatalo 2022), auch direkt übernommen und weltweit im Deutschunterricht eingesetzt werden kann, um das mehrsprachige Bewusstsein zu wecken oder zu festigen.

Notes

  1. Alle Exzerpte werden im Original hier übernommen. [^]

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Kurzbio

Dr. Anta Kursiša ist senior lecturer an der Germanistischen Abteilung der Universität Stockholm. Arbeitsschwerpunkte: Didaktik und Methodik des DaF-Unterrichts, Mehrsprachigkeit und mehrsprachiges Lehren und Lernen. Aktuelle Projekte: Informelles Lernen im universitären Anfangsunterricht DaF und Einsatz von KI-Werkzeug bei der Entwicklung von schriftlicher Sprachfertigkeit im auslandsgermanistischen Studium.

Dr. Ulrike Richter-Vapaatalo ist freiberuflich als Sprachendozentin (Finnisch, Schwedisch) und DaF-Lehrkräfte-Fortbildnerin in Hamburg und Norddeutschland tätig. Von 1995 bis 2022 arbeitete sie als Lektorin in der Germanistik der Universität Helsinki, Finnland, mit den Schwerpunkten Sprachenvergleich, Mehrsprachigkeit, Grammatik, Übersetzen und Phraseologie.

Anschrift:

anta.kursisa@tyska.su.se

ulrikerichterfi@gmail.com

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  • Anta Kursiša
  • Ulrike Richter-Vapaatalo

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