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Aufsatz zum Themenschwerpunkt

Io sono foglia – Erzählen mit Bilderbüchern in mehrsprachigen Kontexten. Das Südtiroler Projekt IMAGO

Abstract

Die Studie IMAGO. Bilderbücher – mehrsprachig, gereimt und textlos – in Kindergärten und Grundschulen in Südtirol hat das Ziel, die Bedeutung von Bilderbüchern für den kindlichen Sprach- und Literaturerwerb in einer sprachlich-kulturell heterogenen Region zu beleuchten. Vor dem theoretischen Hintergrund von Narrativität, Materialität, Sozialökologie, Multilingualität und Multimodalität werden literale und literarische Praktiken mit unterschiedlich erzählenden Bilderbüchern in deutsch-, italienisch- und ladinischsprachigen Bildungseinrichtungen rekonstruiert. Neben der ethnografischen Beobachtung der Rezeptionssituationen werden fokussierte Interviews mit Kindern, Pädagog:innen und Lehrer:innen geführt. Dieser Beitrag präsentiert das Forschungsdesign der Studie und gibt Einblicke in die erste Erhebungsphase an einer deutschsprachigen Grundschule. Ausgewählte key incidents zeigen Potentiale von Bilderbüchern für sprachlich-literarisches Lernen im Italienisch als Zweitsprachenunterricht auf.

Io sono foglia – Storytelling with picture books in multilingual contexts. The South Tyrolean project IMAGO
The study IMAGO. Picturebooks – multilingual, rhymed and wordless – in kindergartens and primary schools in South Tyrol aims to shed light on the significance of picturebooks for children's language and literature acquisition in a linguistically and culturally heterogeneous region. Against the theoretical background of narrativity, materiality, social ecology, multilingualism and multimodality, literal and literary practices with differently narrated picturebooks in German-, Italian- and Ladin-language educational institutions are reconstructed. In addition to ethnographic observation of the reception situations, focused interviews are conducted with children, educators, and teachers. This article presents the research design of the study and provides insights into the first survey phase at a German-language primary school. Selected key incidents show the potential of picturebooks for language and literature learning in the teaching of Italian as a second language.

Io sono foglia – Raccontare storie con libri illustrati in contesti multilingui. Il progetto altoatesino IMAGO
Lo studio IMAGO. Libri illustrati – multilingue, in rima e senza testo – nelle scuole dell'infanzia e primarie dell'Alto Adige mira a far luce sul significato dei libri illustrati per l'acquisizione della lingua e della letteratura da parte dei bambini in una regione linguisticamente e culturalmente eterogenea. Sullo sfondo teorico della narratività, della materialità, dell'ecologia sociale, del multilinguismo e della multimodalità, vengono rico-struite le pratiche letterarie e letterarie con libri illustrati diversamente narrati nelle istituzioni scolastiche di lingua tedesca, italiana e ladina. Oltre all'osservazione etnografica delle situazioni di accoglienza, vengono condotte interviste mirate a bambini, educatori e insegnanti. Questo articolo presenta il disegno di ricerca dello studio e fornisce indicazioni sulla prima fase di indagine in una scuola primaria in lingua tedesca. Alcuni key incidents mostrano il potenziale dei libri illustrati per l'apprendimento linguistico-letterario nell'insegnamento dell'italiano come lingua seconda.

Keywords: Bilderbücher, Mehrsprachigkeit, Grundschule, picturebooks, multilingualism, primary education, libri illustrati, multilinguismo, educazione primaria, ricerca sulla ricezione., Rezeptionsforschung, story telling, reader engagement research, narrazione, Erzählen

How to Cite:

Hoffmann, Jeanette (2023): Io sono foglia – Erzählen mit Bilderbüchern in mehrsprachigen Kontexten.
Das Südtiroler Projekt IMAGO. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 28: 1, 57–85. https://doi.org/10.48694/zif.3603.

1 Einleitung

In den verschiedenen sozialen Kontexten der Familie, des Kindergartens und der Grundschule wachsen Kinder in unsere Gesellschaft hinein. Medien wie Bilderbücher bieten ihnen dabei symbolische Angebote, mit denen sie ihre handlungsleitenden Themen bearbeiten, und unterstützen sie bei der Aneignung von Selbst und Welt. Unterschiedliche Erzählformen, die sich in der Multimodalität und Materialität des Bilderbuchs manifestieren, wie das Zusammenspiel von Bild und Text, das Erzählen in mehreren Sprachen, in gereimter Sprache oder ausschließlich in Bildern ohne Text, rufen unterschiedliche Praktiken im Umgang mit Bilderbüchern in der frühpädagogischen und schulischen Handlungspraxis hervor. Diese zeigen sich etwa in Vorlese- und Bildrezeptionsgesprächen oder im Schreiben und Zeichnen zu Bilderbuchgeschichten. Vor diesem Hintergrund hat die Studie IMAGO, Bilderbücher – mehrsprachig, gereimt und textlos – in Kindergärten und Grundschulen in Südtirol (finanziert durch die Freie Universität Bozen, 2021–2024) das Ziel, die Bedeutung von Bilderbüchern in einer von sprachlich-kultureller Diversität geprägten Region in Bezug auf den kindlichen Sprach- und Literaturerwerb in unterschiedlichen Bildungskontexten zu beleuchten. Es werden bilderbuchbezogene Praktiken in der frühpädagogischen und schulischen Handlungspraxis rekonstruiert, um daraus Gelingensbedingungen sprachlich-literarischen Lernens im mehrsprachigen Kontext abzuleiten. Theoretische Ausgangspunkte sind Narrativität, Materialität, Sozialökologie, Multilingualität und Multimodalität. Methodologisch ist die Studie in der ethnografisch ausgerichteten rekonstruktiven Sozialforschung zu verorten. In dem Projekt werden bilderbuchbezogene Praktiken in Alltagssituationen im Umgang mit verschiedenen Erzählformen in deutsch-, italienisch- und ladinischsprachigen Kindergärten und Grundschulen beobachtet und videografiert. Zudem werden fokussierte Interviews mit Kindern, Pädagog:innen und Lehrer:innen geführt, um Einblicke in die Perspektiven der Beteiligten auf ihre Handlungspraxen zu erhalten. Forschungsleitend sind die Fragen, wie Kinder mehrsprachige, gereimte und textlose Bilderbücher im deutsch-italienisch-ladinischen Sprachkontext in Kindergarten und Grundschule rezipieren, wie Pädagog:innen oder Lehrer:innen sie dabei unterstützen und inwiefern die Bilderbücher sprachlich-literarische Lernprozesse anregen. In diesem Beitrag werden zunächst die theoretischen und empirischen Bezugspunkte skizziert, danach das Forschungsdesign der Studie vorgestellt. Anschließend geben empirische Analysen einen Einblick in erste Ergebnisse aus einer deutschsprachigen Grundschule, bevor im Fazit ein Ausblick formuliert wird.

2 Theoretische und empirische Bezugspunkte

Theoretische Ausgangspunkte der Studie IMAGO bilden Theorien der Narrativität (vgl. Fludernik 1996, 2008), Materialität (vgl. Kalthoff 2021), Sozialökologie (vgl. Baacke 2018a, 2018b), Multilingualität (vgl. Franceschini 2011) und Multimodalität (vgl. Serafini 2022). Empirische Bezugspunkte sind internationale Studien aus der Kinderliteratur-, der Rezeptions- und der Bildungsforschung, die im Kontext von Mehrsprachigkeit angesiedelt sind. Im Folgenden werden die theoretischen und empirischen Bezugspunkte skizziert.

2.1 Narrativität

Erzählen als kulturelle Praxis ist eine anthropologische Konstante (vgl. Gatti/Hoffmann demn.; Wulf 2019). Menschen erzählen einander Geschichten, reale und fiktionale, um ihre Erfahrungen zu strukturieren, sich ihrer selbst zu vergewissern und sich die Welt anzueignen (vgl. Nünning 2014). Dabei spielen sowohl die selbst erlebten, eigenen Erfahrungen eine bedeutende Rolle als auch die vorgestellten Erfahrungen räumlich und zeitlich entfernter bzw. fiktionaler Anderer (vgl. Schüler 2019).

Stories told and read by others, whether fictional or factual, offer children alternative experiences that they can apply to confirm or alter their models of the world, representing and evoking experientiality at the same time. Therefore, almost from the time a child first begins to talk, narrative serves as a mediator between “the canonical world of culture and the more idiosyncratic world of beliefs, desires, hopes” (Bruner 1990: 52) (Dehn/Merklinger/Schüler 2014: 490).

Kinder wachsen schon früh in eine Kultur des Erzählens hinein, angefangen mit körperlich erfahrbaren Fingerspielen, Kinderreimen, Liedern und Theaterstücken, über mediale Geschichten in Bilderbüchern, Hörspielen oder Filmen bis hin zu digitalen Bilderbuch-Apps oder narrativen Computerspielen (vgl. Correro/Real 2015; Dehn/Hoffmann/Lüth/Peters 2004; Näger 2017; Wieler/Brandt/Naujok/Petzold/Hoffmann 2008). Dabei ist jeweils der soziale Kontext der Rezeption und die interaktionale Einbindung der Kinder durch erwachsene Bezugspersonen entscheidend für die verstehens- und sprachfördernde Wirkung, wie etwa Studien zum familialen Vorlesen (vgl. Wieler 1997), zu Gesprächen über grafische Geschichten im Kindergarten (vgl. Hoffmann 2019) oder zum multimodalen Erzählen mit neu zugewanderten Kindern in der Grundschule (vgl. Naujok 2018) verdeutlichen. Didaktisch bedeutsam sind beim Erzählen die Herstellung von Erfahrungshaftigkeit und Erzählwürdigkeit sowie der Aufbau eines Geschichtenfundus (vgl. Dehn et al. 2014). Damit ist gemeint, dass die Geschichten einen Erfahrungsgehalt aufweisen, ihrem Erzählen Wert beigemessen wird und Kinder einen Geschichtenfundus an vorgestellten Erfahrungen aufbauen, aus dem sie fortan schöpfen können.

2.2 Materialität

Erzählt wird in der Literatur in unterschiedlichen Erzählformen, die sich in verschiedenen Materialitäten manifestieren: in der Studie IMAGO etwa in gedruckten Bilderbüchern, die Bilder und Texte enthalten, durch pagebreaks (Brüche zwischen den Doppelseiten) strukturiert sind, deren Typografie vom gewählten Material abhängt, die ein bestimmtes Buchformat (Größe und Gewicht) haben und deren Umschläge und Seiten aus bestimmten Materialien gefertigt sind (vgl. Heintz 2021: 5–11). Auch die Sprachen, in denen Bilderbücher erzählen, vergegenständlichen sich in den Schriften und Typografien, sind somit räumlich präsent und können im Vorlesen akustisch präsent werden. Gleichzeitig ist auch die Rezeption von Literatur sowie die Anschlusskommunikation über Literatur durch Materialität bestimmt: durch die gestalteten Räume der Rezeption (Klassenzimmer, Gruppenraum, Stuhlkreis, Teppich, Tischgruppe, Sitzecke, …), die Körper der Rezipierenden in Form von Blick, Stimme, Gestik, Mimik (der Kindergartenkinder, Grundschüler:innen, Pädagog:innen, Lehrer:innen, Integrationspädagog:innen, Praktikant:innen, Forscher:innen), die Materialien, die für die Anschlusskommunikationen herangezogen werden (Stifte, Farben, Papiere, Hefte, Fotokopien, Gegenstände, Figuren, Bastelmaterialien, …). So nimmt die Studie IMAGO das Materielle aus zwei Perspektiven in den Blick.

Mit einem Materialitätsbegriff, der sich nicht nur auf technische Artefakte bezieht, sondern ebenso Schriftzeichen (bspw. Formeln in der Mathematik), Substanzen (bspw. Stoffe in der Chemie und Pharmazie), physikalische Phänomene (bspw. Licht) und Materialien (bspw. Farbpigmente in der Kunst) konzeptionell einschliesst, wird eine Forschung möglich, die den Eigensinn, die Widerständigkeit und die Performativität des Materiellen ebenso in den Blick nehmen kann, wie das Zusammenspiel von Menschen und Dingen […]. (Kalthoff 2021: 2)

Dabei wird davon ausgegangen, dass die Materialität des Gegenstandes (des auf unterschiedliche Weise erzählenden Bilderbuchs) die Praktiken des Umgangs mit ihm im Bildungsalltag (die unterschiedlichen Rezeptionsweisen und Anschlusshandlungen von Kindern und Erwachsenen) prägt und mit hervorbringt (vgl. Kruse/Reichardt/Riegler 2021: 14). Insofern beabsichtigt die Studie IMAGO, die Beziehungen zwischen dem spezifischen Erzählen in Text und/oder Bildern und den literalen und literarischen Praktiken von Kindern und Pädagog:innen, von Schüler:innen und Lehrer:innen in den Blick zu nehmen und knüpft damit an aktuelle empirische und historische Studien zum Schriftspracherwerb im Kontext von Materialität an (vgl. Kruse et al. 2021; Leseforum Schweiz 2021; Reh/Wilde 2016) sowie an empirische und literaturwissenschaftliche Studien der Kinderliteraturforschung und -didaktik zum materialitätsbezogenen literarästhetischen Lernen (vgl. Campagnaro 2022, Heintz 2021).

2.3 Sozialökologie

Erzählen findet in sozialen Kontexten wie der Familie, dem Kindergarten, der Grundschule oder der Peergroup statt. In diesen Kontexten spielen Medien eine entscheidende Rolle für die symbolische Aneignung von Selbst und Welt.

Sozialökologische Ansätze untersuchen die Wechselbeziehungen zwischen sozialer Umwelt und sozialem Verhalten des Menschen. Sozialisation wird dabei verstanden als Folge aktiver Prozesse der Auseinandersetzung mit der symbolischen, sozialen und materiellen Umwelt sowie sich selbst. (Vollbrecht 2010: 93)

Die sozialökologische Medienforschung (vgl. Baacke 2018a, 2018b; Vollbrecht 2010) hat diese Kontexte eingeteilt in verschiedene sozialökologische Zonen: die ökologische Zone des Zentrums (wie Familie oder häusliches und familiäres Umfeld), die ökologische Zone des Nahraums (wie Nachbarschaft oder Wohnumgebung), die ökologische Zone der Ausschnitte (wie Kindergarten, Schule oder Sportverein) und die ökologische Zone der Peripherie (wie Urlaube, Ausflüge oder Klassenfahrten) (vgl. Vollbrecht 2010: 100–102; Wegener 2018: 153–154). Der Forschungsfokus dieser Studie konzentriert sich mit dem Fokus auf 3–6- und 6–9-jährige Kinder auf die ökologische Zone der Ausschnitte und die damit verbundenen handlungsleitenden Themen und Medienumgangsformen von Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter. Dass der soziale Kontext und die Art der Einbindung der Lektüren in Gesprächs-, Schreib- und Gestaltungssituationen einen bedeutenden Einfluss auf das (zweit-)sprachliche und literarästhetische Lernen sowie auf die Identitätsbildung von Kindern haben, wird in der internationalen Rezeptionsforschung hervorgehoben (vgl. Arizpe/Colomer/Martínez-Roldán 2014; Evans 2015; Hoffmann 2018; Pellegrini/Galda 2018; Wieler 2015). Die Studien konzentrieren sich vor allem auf die Grundschule, der Kindergarten wird bislang seltener in den Blick genommen (vgl. Filliettaz/Zogmal 2017; Hoffmann 2019; Zettl 2019). Diesem Desiderat soll in dieser Studie, die sich auf beide Bildungseinrichtungen bezieht, begegnet werden.

2.4 Multilingualität

Der Forschungskontext der Studie ist die Autonome Provinz Bozen – Südtirol in Italien, die sich durch ihre äußere und innere, historische und migrationsbedingte Mehrsprachigkeit auszeichnet (vgl. Glück/Leonardi/Riehl 2019; Wandruszka 1979). Neben der äußeren Mehrsprachigkeit durch die drei Landessprachen Deutsch, Italienisch und (im Grödner- und im Gadertal) Ladinisch ist auf die innere Mehrsprachigkeit durch verschiedene Tiroler Dialekte und Varietäten des Standarddeutschen hinzuweisen. Darüber hinaus erweitern insbesondere die Familiensprachen (vgl. Jeuk 2018) der neu zugewanderten Kinder aus dem europäischen und außereuropäischen Raum das Sprachenspektrum um ein Vielfaches (vgl. Medda-Windischer/Membretti 2020: 18–19). Diese komplexe gesellschaftliche Mehrsprachigkeit wird als sprachlich-kulturelle Ressource (vgl. Gogolin 2018; Franceschini/Saxalber 2016; Fürstenau 2011) dieser Region betrachtet.

Multilingualism conveys the ability of societies, institutions, groups, and individuals to have regular use of more than one language in their everyday lives over space and time. Language is impartially understood as a variety that a group admits to using as a habitual communication code (regional language and dialects are also included, such as sign languages). (Franceschini 2011: 346)

Diese sprachlich-kulturelle Ressource wird im Forschungsdesign aufgegriffen, indem deutsch-, italienisch- und ladinischsprachige Kindergärten und Grundschulen eingebunden und deutsch-, italienisch- und ladinischsprachige Bilderbücher ausgewählt werden. Mehrsprachigkeitsforschung und -didaktik sind insgesamt stärker pädagogisch oder linguistisch geprägt, literaturdidaktische Ansätze prägen aber zunehmend die Diskussion (vgl. Belke 2019; Bland 2018; Conrad/Michalak/Winter 2021; Eder/Dirim 2017; Hélot/Sneddon/Daly 2014; Hoffmann 2008; Rösch 2011; Wieler 2018).

2.5 Multimodalität

Neben der Multimodalität des Erzählens in der Literatur in Form von Schrift, Bild und Ton (vgl. Kagelmann/Knopp/Krichel/Meteling/Münschke 2020) und deren Zusammenspiel in Texten, Bilderbüchern, Hörspielen, Hörbüchern, Liedern, Filmen, Theaterinszenierungen etc. ist auf die Multimodalität der literarischen Anschlusskommunikation in Form des Sprechens, Schreibens, Zeichnens, Malens, Inszenierens etc. hinzuweisen.

Conceptualizations of multimodal phenomena have moved beyond a focus on language as the primary semiotic resource for representation and communication. Jewitt (2014) has suggested that theories of multimodality are based on the assumption that modes of representation and communication drawn on a multiplicity of modes have the potential to contribute in different ways to acts of meaning-making. (Serafini 2022: 26)

Insgesamt geht es dabei immer um unterschiedliche, sich aber gegenseitig ergänzende und bereichernde Formen bzw. Modi der Bedeutungskonstruktion, die ihre eigene Berechtigung haben, miteinander verbunden sind und unterschiedlich auftreten können:

  1. Modi haben je eigene «Affordances» (vgl. Kress 2009 […]), d.h. verschiedene Potenziale und Qualitäten, um Sachverhalte darzustellen. Dabei ist keinem Modus situationsübergreifend der Vorrang zu geben […].

  2. Modi treten im Verbund mit anderen auf, in dieser simultanen Multimodalität stellen sie im sequenziellen Verlauf situationsspezifische Bedeutungen her.

  3. Ein Modus kann in verschiedenen Medien vorkommen, wobei das Medium die Erscheinungsform des Modus mitprägt […] (Wiesner 2017: 3).

Bei Bilderbüchern ist das Zusammenspiel zwischen Bild und Text beim Erzählen sehr komplex und auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden (vgl. Dammers/Krichel/Staiger 2022; Kurwinkel 2020; Staiger 2022; Thiele 2003). In der Studie IMAGO stehen unterschiedliche Formen des Erzählens im Bilderbuch im Vordergrund, die sich auf die Varianten des Texts oder die Narration der Bilder beziehen: mehrsprachige, gereimte und textlose Erzählformen. Von den unterschiedlichen Spielarten mehrsprachiger Bilderbücher (vgl. Kümmerling-Meibauer 2013: 52–54) werden im Kontext der Studie zweisprachige, parallel erzählende Bilderbücher in deutscher und italienischer oder italienischer und ladinischer Sprache herangezogen. Diese Bilderbücher sind häufig zunächst in einer Sprache erschienen, wurden anschließend übersetzt und als zweisprachige Ausgaben veröffentlicht. Die gereimten Bilderbücher erzählen ihre Geschichten in Versform und verleihen damit der Sprache und auch der sprachlichen Performanz bei der Rezeption einen gewissen Rhythmus. Die (fast) textlosen Bilderbücher (silent books oder wordless picturebooks) erzählen ihre Geschichten ohne Worte auf ausschließlich visueller Ebene monoszenisch, pluriszenisch oder in Form von Bildfolgen (vgl. Staiger 2012: 45–49) und sind daher für eine Rezeption in allen Sprachen zugänglich. All diesen Erzählformen im Bilderbuch werden in der internationalen Kinderliteraturforschung Potenziale sprachlichen sowie literarästhetischen Lernens, insbesondere im mehrsprachigen Kontext, zugeschrieben (vgl. Ballis/Pecher/Schuler 2018; Belke 2019; Gawlitzek/Kümmerling-Meibauer 2013; Hoffmann 2019; Merklinger/Wittmer 2018; Mourão 2022; Trisciuzzi 2017), die verschiedenen Erzählformen wurden bislang jedoch noch nicht komparativ betrachtet. Auch ist wenig bekannt über die Praktiken des (multimodalen) Umgangs mit mehrsprachigen, gereimten und textlosen Bilderbüchern in alltäglichen Bildungssituationen in Kindergarten und Grundschule.

3 Forschungsdesign

Die Studie IMAGO, Bilderbücher – mehrsprachig, gereimt und textlos – in Kindergärten und Grundschulen in Südtirol unter der Leitung von Jeanette Hoffmann ist angesiedelt an der Fakultät für Bildungswissenschaft an der Freien Universität Bozen (Italien), wird als Start-up-Projekt intern finanziert und hat eine Laufzeit von drei Jahren (2021–2024). Vor dem Hintergrund der skizzierten theoretischen und empirischen Bezugspunkte zeichnet sich die Anlage der Studie durch ihr ethnografisches Prinzip und die rekonstruktive Haltung aus. Ausgehend von der Zielsetzung und den Forschungsfragen werden im Folgenden das Sample, die Projektbeschreibung, die Datenerhebung und -auswertung sowie die Literaturauswahl vorgestellt.

3.1 Zielsetzung und Forschungsfrage

Die Studie IMAGO hat das Ziel, die Bedeutung von vielfältig erzählenden Bilderbüchern in einer sprachlich-kulturell heterogenen Region für den kindlichen Sprach- und Literaturerwerb in verschiedenen Bildungseinrichtungen aufzuzeigen. Hierzu werden literale und literarische Praktiken bei der Bilderbuchrezeption in Kindergarten und Grundschule rekonstruiert, um daraus Gelingensbedingungen sprachlich-literarischen Lernens im mehrsprachigen Kontext abzuleiten. Die Forschungsfragen lauten:

  • Wie rezipieren Kinder mehrsprachige, gereimte und textlose Bilderbücher im deutsch-italienisch-ladinischen Sprachkontext in Kindergarten und Grundschule?

  • Wie werden sie dabei durch Pädagog:innen oder Lehrer:innen unterstützt?

  • Inwiefern regen die Bilderbücher bei ihnen sprachlich-literarische Lernprozesse an?

3.2 Sample

Das Sample der Studie umfasst einen deutsch-, einen italienisch- und einen ladinischsprachigen Kindergarten sowie eine deutsch-, eine italienisch- und eine ladinischsprachige Grundschule in Südtirol. In den Kindergärten nehmen jeweils eine jahrgangsübergreifende Lerngruppe von 3–6 Jahren, an den Grundschulen jeweils eine jahrgangsübergreifende Lerngruppe von 6–9 Jahren oder eine zweite bzw. dritte Klasse mit Kindern von 7–8 bzw. 8–9 Jahren teil. Es wird davon ausgegangen, dass sich die Gruppen mehrsprachig zusammensetzen und insbesondere vor dem Hintergrund aktueller Migrationsbewegungen neben Deutsch, Italienisch oder Ladinisch weitere Familiensprachen vorhanden sind.

Tab. 1: Sample der Studie IMAGO

3.3 Projektbeschreibung

Das Forschungsdesign ist zwar fachdidaktisch motiviert, grundsätzlich aber ethnografisch angelegt. Damit folgt es einer Forschungstradition in der Literaturdidaktik, die sich von programmatisch-didaktischen Studien dahingehend unterscheidet, dass sie an den literalen und literarischen Praktiken in der alltäglichen Handlungspraxis der Beteiligten im Umgang mit Literatur und Sprache interessiert ist (vgl. Hoffmann 2011; Wieler et al. 2008). Die Lehrer:innen und die Pädagog:innen erhalten eine Bücherkiste mit jeweils vier bis sechs Bilderbüchern zu jeder Erzählform (mehrsprachig, gereimt, textlos) und können je Erzählform ein Bilderbuch für ihre Lerngruppe auswählen. Zu diesen bereiten sie ein didaktisches Arrangement vor, das sie an jeweils einem Tag im Abstand von ca. einer Woche mit den Kindern umsetzen. In der Gestaltung dieses Arrangements sind sie frei. Die einzige Vorgabe ist, dass die Rezeption der Bilderbücher von Gesprächs-, Schreib- oder Gestaltungsprozessen begleitet wird, die den Kindern Gelegenheiten zum Erzählen geben und somit verschiedene Möglichkeiten des Ausdrucks (mündlich, schriftlich oder gestalterisch) eröffnen. An den Tagen, an denen die didaktischen Arrangements angeboten werden, sind die Forscher:innen vor Ort und nehmen beobachtend und videografierend an der Situation teil. Zur Rekonstruktion der Perspektiven der Beteiligten werden vor Beginn des Projekts bei der Überreichung der Bücherkiste und im Anschluss an das Projekt nach der letzten Beobachtung fokussierte Interviews (vgl. Hopf 2015) mit den teilnehmenden Kindergartenkindern und den Pädagog:innen sowie den Grundschulkindern und Lehrer:innen geführt.

3.4 Datenerhebung und -auswertung

Die Datenerhebung und -auswertung erfolgt im Sinne der Interpretativen Unterrichtsforschung (vgl. Krummheuer/Naujok 1999) rekonstruktiv und komparativ. Die ethnografischen Beobachtungen (vgl. Lüders 2015) sowie die fokussierten Interviews (vgl. Hopf 2015) werden durch Videografie und Tonaufnahmen unterstützt sowie in Feldnotizen dokumentiert. Die Feldnotizen geben einen Gesamteindruck von den didaktischen Situationen und den Interviewgesprächen und dienen zur Strukturierung des Datenmaterials. Anschließend werden die Tonaufnahmen der Interviews und die Videoaufnahmen der Interaktionen mit dem Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem GAT 2 (vgl. Selting et al. 2009) transkribiert. Anhand der narrativen und fiktionalen Herausforderungen durch die Geschichte (vgl. Wieler 1997: 136) sowie der interaktiv und metaphorisch dichten Stellen in den Gesprächs- und Interaktionstranskripten (vgl. Bohnsack 2021: 127) werden key incidents (vgl. Kroon/Sturm 2007) aus dem Datenmaterial ausgewählt und mit der ethnografischen Gesprächsanalyse (vgl. Deppermann 2000) analysiert. Über die audiovisuellen Daten hinaus werden Kinderzeichnungen und -texte dokumentiert und bild- und texthermeneutisch analysiert (vgl. Dehn 2005; Glas 2019; Ritter 2009; Uhlig 2022).

Die den Analyseprozess abschließende Komparation der Daten wird entlang verschiedener Vergleichshorizonte vorgenommen: entlang der Sprachen (Deutsch – Italienisch – Ladinisch), der Bildungsinstitutionen (Kindergarten – Grundschule), der Erzählformen der Bilderbücher (mehrsprachig – gereimt – textlos), der Medialität der Rezeption (mündlich – schriftlich) und der methodischen Zugänge (Interaktionen – Interviews). Aus diesen vergleichenden Analysen werden schließlich literale und literarische Praktiken des Umgangs mit unterschiedlich erzählenden Bilderbüchern in Kindergärten und Grundschulen in verschiedensprachigen Umgebungen in der alltäglichen Handlungspraxis rekonstruiert und daraus Gelingensbedingungen sprachlich-literarischen Lernens mit Bilderbüchern in mehrsprachigen Bildungskontexten abgeleitet.

3.5 Literaturauswahl

Die Literaturauswahl für die Studie umfasst vier bis sechs Bilderbücher jeder der Erzählformen (mehrsprachig, gereimt, textlos), damit die teilnehmenden Kindergärten und Schulen eine Auswahl treffen und sich so bewusst für ihre eigenen Lektüren entscheiden können. Die Bücherkiste ist so zusammengestellt, dass sie die Leseinteressen jüngerer und älterer Kinder, von Mädchen und Jungen und von Kindern unterschiedlicher sprachlich-kultureller Kontexte aufgreift, sowie Verstehenshorizonte und handlungsleitende Themen von Kindergarten- und Grundschulkindern berücksichtigt. Dabei muss das Spannungsfeld zwischen literarästhetischem Anspruch und der Bedeutsamkeit der Geschichten für die Kinder austariert werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen und unter Zuhilfenahme von Empfehlungen durch Kinderliteraturpreise wie etwa dem Deutschen Jugendliteraturpreis des Arbeitskreises für Jugendliteratur (AKJ) oder dem Hans Christian Anderson Preis des International Board on Books for Young People (IBBY) wurden für die Studie die folgenden Bilderbücher ausgewählt (s. Tab. 2):

Tab. 2: Literaturauswahl der Studie IMAGO

Bilderbücher
mehrsprachig
gereimt
textlos

Die ausgewählten Geschichten zeichnen sich durch ihre Erfahrungshaftigkeit (vgl. Fludernik 1996) aus: Sie erzählen vom Erfinden und Entdecken, vom Verschiedensein und der Gemeinschaft, von Einsamkeit und Geborgenheit. Es geht um das Imaginieren der Zukunft, um ein Kaleidoskop an Stimmungen, das Hilfesuchen, eine starke Sehnsucht oder um die Nacht. Schließlich spielen das Verlorengehen und Gefundenwerden, Natur und Weite, imaginierte Figurenwelten und das Zusammenspiel von Schein und Sein eine Rolle.

4 Empirische Analysen – Sprachliches und literarisches Lernen

Bilderbücher als Gesprächs-, Erzähl- und Schreibanlass bieten ein großes Potential, sprachliche und literarische Lernprozesse im mehrsprachigen Kontext anzuregen. Sprachliches und literarisches Lernen sind dabei eng miteinander verbunden. Die Texte und Bilder des Bilderbuchs ergänzen sich gegenseitig und können bei der Interpretation für ein vertieftes Verständnis fruchtbar gemacht werden. In der Praxis des zweit- bzw. fremdsprachlichen Unterrichts werden Bilderbücher erst vereinzelt eingebunden, obwohl die Forschung deren bedeutendes Lernpotenzial betont (vgl. Bland 2018; Ommundsen/Haaland/Kümmerling-Meibauer 2022). Im Folgenden wird ein Einblick gegeben in zwei key incidents aus dem Italienischunterricht an einer deutschsprachigen Grundschule mit dem Bilderbuch Io sono foglia (Mozzillo/Balducci 2020), in denen sich die enge Verbindung sprachlicher und literarischer Lernprozesse zeigt. Zunächst werden das Bilderbuch und die Lerngruppe vorgestellt, im Anschluss die Analysen der beiden key incidents.

4.1 Das gereimte Bilderbuch Io sono foglia

Das Bilderbuch Io sono foglia von Angelo Mozzillo und Marianna Balducci ist in gereimter Form und italienischer Sprache 2020 erschienen und wurde 2021 mit dem internationalen Hans Christian Andersen Preis ausgezeichnet. Es erzählt am Beispiel eines kleinen Jungen und mit der Bildmetaphorik herabfallender Herbstblätter von den unterschiedlichen, ganz gegensätzlichen Stimmungen, in denen sich (nicht nur) Kinder von Tag zu Tag befinden können. Auf jeder Doppelseite wird (in der Regel) ein Gegensatzpaar an Stimmungen dargestellt und sprachlich auf metaphorische Weise sowie durch sparsame Worte in einer immer ähnlichen Satzstruktur ausgedrückt, wie die erste Doppelseite beispielhaft zeigt, s. Abb. 1: „Un giorno sono vento / Un giorno sono spento“ (Einen Tag bin ich Wind / Einen Tag bin ich erloschen):

Abb. 1: Io sono foglia (Mozzillo/Balducci 2020): Erste Doppelseite “Un giorno sono vento”

Ergänzt wird der Text durch die parallel erzählenden Bilder: Auf der einen Seite ein durch die Luft wirbelndes Blatt und der Junge im schnellen Lauf mit nach hinten ausgebreiteten Armen, als wolle er die Blätter aufwirbeln – auf der anderen Seite die auf einer imaginären Fläche liegenden Blätter und der auf dem Boden zusammengekauerte Junge. Die metaphorische Art des Erzählens im komplexen Zusammenspiel von Text und Bild stellt hohe Verstehensanforderungen an Kinder im Grundschulalter, insbesondere an diejenigen, die Italienisch als Zweit- oder Fremdsprache erwerben.

4.2 Zur Lerngruppe und dem Italienischunterricht an einer deutschsprachigen Grundschule

Die Daten stammen aus unserer ersten Erhebungsphase an einer reformpädagogischen deutschsprachigen Grundschule in Südtirol, in der wir eine jahrgangsgemischte Klasse mit den Jahrgängen 1–3 beobachtet haben. Insgesamt 21 Kinder besuchen die Klasse, jeweils sieben Kinder in einem Jahrgang, davon insgesamt elf Mädchen und zehn Jungen. Die Klasse zeichnet sich durch Heterogenität in vielerlei Hinsicht aus (Alter, Geschlecht, Sprachen, Förderschwerpunkte, usw.). Neben der äußeren Mehrsprachigkeit (Deutsch, Italienisch, Ungarisch, Portugiesisch) zeichnet sich die Klasse durch eine innere Mehrsprachigkeit (Standarddeutsche Varianten, Tiroler Dialekte) aus, und viele der Kinder wachsen in ihren Familien mehrsprachig auf. Alle Kinder gemeinsam haben zwei Stunden Italienisch pro Woche, die Zweit- und Drittklässler zusätzlich weitere zwei. Die Familiensprache eines Kindes ist Italienisch, sechs Kinder wachsen in mehrsprachigen deutsch-italienischen Familien auf, einige Kinder haben einen italienischsprachigen Kindergarten besucht und ein Kind ist erst kurz zuvor durch Zuzug in die Region mit der italienischen Sprache in Berührung gekommen, bei zwei Kindern wird in der Familie ein Tiroler Dialekt und Standarddeutsch gesprochen. Der neben der Deutschlehrerin am Projekt teilnehmende Italienischlehrer unterrichtet in der Klasse „Italienisch [als] Zweite Sprache“ (vgl. Deutsche Bildungsdirektion 2021: 45), wie es offiziell in den Rahmenrichtlinien heißt, was für einige Kinder eher „Italienisch als Fremdsprache“ ist, für einzelne wiederum „Italienisch als Erstsprache“. Unterstützt wird er dabei von einer weiteren Italienischlehrerin. Er hat sich aus der Bücherkiste das gereimte Bilderbuch Io sono foglia ausgesucht, dazu eine Vorlesesituation gestaltet und im Anschluss daran die Kinder dazu zeichnen und schreiben lassen. Im Folgenden werden zwei key incidents vorgestellt, zunächst einer aus dem Anschlussgespräch an die Bilderbuchlektüre, anschließend einer aus den darauf folgenden Gesprächen während der Schreibprozesse.

4.3 “Un giorno sono curvo / Un giorno sono retto“

Das erste ausgewählte key incident ereignet sich während des Anschlussgesprächs an die Vorlesesituation im Sitzkreis. Der Lehrer lässt einzelne Kinder zu einem vor ihm ausgebreiteten Teppich in der Kreismitte kommen, wo sie sich aus dem Bilderbuch eine Doppelseite aussuchen können, die ihnen gefallen hat. Die Kinder lesen den Satz auf der Seite vor und bestimmen mit Unterstützung des Lehrers die Wortarten mithilfe von Symbolen aus der Montessoripädagogik. Während dieses sprachstrukturellen Zugangs zum Bilderbuch initiiert der Lehrer ein Gespräch über die literarische Bedeutung des ausgewählten Verses „Un giorno sono curvo / Un giorno sono retto“ (Einen Tag bin ich gebogen / Einen Tag bin ich gerade) (s. Abb. 2).

Abb. 2: Io sono foglia (Mozzillo/Balducci 2020): Doppelseite „Un giorno sono curvo”

Die inneren Zustände des sich gebogen, kurvig oder geneigt Fühlens auf der einen, des gerade, standhaft oder aufrecht Seins auf der anderen Seite werden visuell durch ein gebogenes Blatt und den seine Arme und seinen Oberkörper zur Seite neigenden Jungen dargestellt sowie durch ein gerades Blatt neben dem die Arme nach oben emporstreckenden und auf Zehenspitzen stehenden Jungen, den man jeweils nur von hinten sieht, so dass allein seine Körperhaltung spricht. Über diese gegensätzlichen, sowohl auf Bild- als auch auf Textebene metaphorisch ausgedrückten Stimmungen entsteht ein kurzes Gespräch (in italienischer Sprache) zwischen dem Italienischlehrer und Roberta (Pseudonym), einem Mädchen des 1. Jahrgangs mit italienischer Familiensprache.

Key incident “cosa vuole dire curvo” (was bedeutet gebogen)

In dem Gesprächsausschnitt zeigt sich, wie im Zweit- bzw. Fremdsprachenunterricht Italienisch die Bedeutungen der Wörter zunächst auf begrifflicher Ebene geklärt und anschließend im Kontext des literarischen Texts erarbeitet werden – hier durch Unterstützung einer Schülerin mit Italienisch als Familiensprache. Das Mädchen antwortet zunächst mit Gesten auf die Fragen des Lehrers, was „curvo“ und was „retto“ bedeute (04 und 06). Sie zeigt damit, dass sie die Wörter im Italienischen kennt und um ihre Bedeutung (gebogen, gerade) weiß, vermutlich fehlen ihr aber noch die entsprechenden Begriffe in der deutschen Sprache, weswegen sie gestisch mit einer gebogenen und einer gerade ausgestreckten Hand antwortet. Der Lehrer greift diese nonverbalen Erklärungen auf und demonstriert sie noch einmal für alle Kinder sichtbar, indem er den Papierstreifen, auf dem er zuvor den Vers geschrieben hatte, einmal biegt und einmal gerade hält (05 und 07). Auch er übersetzt die Wörter nicht ins Deutsche, sondern lässt die Materialität des Papierstreifens sprechen. Über die wörtliche Bedeutung der Begriffe hinaus geht er dann anschließend auf die metaphorische Bedeutung im Rahmen des Bilderbuchs ein und bedient sich auch hier multimodaler Ausdrucksmöglichkeiten, indem er sowohl verbal („curvo perché magari sono triste […] retto perché magari sono allegro“, gebogen weil ich vielleicht traurig bin […] gerade weil ich vielleicht fröhlich bin (07)) als auch mit seinem Körper und seiner Mimik (gebeugt oder aufrecht in der Hocke sitzend, mit traurigem oder fröhlichem Gesicht (07)) den Bilderbuchvers deutet. Dabei verwendet er mit „posso essere“ (ich kann sein), „un po“ (ein bisschen) und „magari“ (vielleicht) (07) Fiktionalitätssignale (vgl. Dehn 2019, Hoffmann 2019), mit denen er den Möglichkeitsentwurf der Fiktion verdeutlicht. Roberta greift die Deutung der Stimmungen der Jungenfigur in der fiktionalen Geschichte auf und überträgt sie auf ihre eigene Erfahrungswelt, sie sei „triste“ (traurig) (08), was den Lehrer veranlasst zu fragen, wie dies komme. Ihre Erläuterung, dass sie nicht in die Schule gehe, weil sie für einige Tage auf die Insel Capri fahre, nimmt der Italienischlehrer zum Anlass, die Ambivalenz der Gefühle aus dem Bilderbuch aufzugreifen, die Freude darüber, an einen anderen Ort zu fahren, und die gleichzeige Traurigkeit, deshalb nicht in die Schule gehen zu können (13). Diese Ambivalenz greift das Mädchen schließlich auf: „sì sono un po contenta () c_è anche un po triste“ (ja ich bin ein bisschen glücklich () es ist auch ein bisschen traurig) (14), wiederum relativierende Fiktionalitätssignale wie „un po“ (ein bisschen) benutzend. Hier zeigt sich der gegenseitige Verweischarakter von realen und literarischen Erfahrungen (vgl. Hoffmann 2011; Wieler 2018).

4.4 “Un giorno solleone / Un giorno l’acquazzone“

Das zweite ausgewählte key incident ist ein Gesprächsausschnitt während der anschließenden Schreibphase. Die Kinder sind aufgefordert, sich einzelne Doppelseiten aus dem Buch auszusuchen, die ihnen gefallen, und daraus ein eigenes Büchlein zu erstellen, indem sie den Text abschreiben, etwas dazu zeichnen und (dies gilt für die älteren Jahrgänge) die Wortarten durch die Montessorisymbole bestimmen. An einem Gruppentisch mit fünf Jungen (zweiter und dritter Jahrgang) entspinnt sich ein Gespräch über den Begriff „solleone“ (Sonnenschein), nachdem sich Leon (Pseudonym), ein Junge des dritten Jahrgangs, für die Doppelseite „Un giorno solleone / Un giorno l’acquazzone“ (Einen Tag Sonnenschein / Einen Tag Regenschauer) (s. Abb. 3) entschieden hat.

Abb. 3: Io sono foglia (Mozzillo/Balducci 2020): Doppelseite „Un giorno solleone”

Sonnenschein und Regenschauer1 – diese begriffliche Gegenüberstellung ist hier collagenartig ins Bild gesetzt, indem die Fotos von Herbstblättern in die Zeichnungen integriert wurden, zum einen als Hängematte, zum anderen als Regenschirm. Der Bildhintergrund ist auf der einen Seite in seinem unbestimmten Weiß belassen, auf der anderen durch graue Schraffuren strömenden Regens ausgefüllt. Der Junge liegt auf der einen Seite entspannt in der Hängematte, sein Gesicht der Sonne entgegengestreckt, auf der anderen steht er vor dem Wasser geschützt unter seinem Regenschirm, jedoch eher bedrückt oder missmutig die Betrachtenden anblickend. Was auf Wort- und Bildebene konkret dargestellt wird, verleiht – wie bereits die Doppelseite des vorherigen key incidents – metaphorisch so gegensätzlichen Stimmungen Ausdruck wie Freude und Traurigkeit, Gelassenheit und Anspannung, Sorglosigkeit und Ängstlichkeit oder Entspannung und Bedrücktheit. Diese Doppelseite war sehr beliebt und wurde (neben anderen) von insgesamt 16 Kindern gewählt. Leon, dessen Familiensprache ein Tiroler Dialekt ist, arbeitet zusammen mit vier anderen Jungen an einem Gruppentisch. Der Begriff „solleone“ ist Ausgangspunkt für ein Gespräch mit der den Italienischlehrer unterstützenden Italienischlehrerin, hier Sofia genannt.

Key incident “saleone wos hoaßt sel” (sanenschein was heißt das)

Leon fragt sich, was das Wort „solleone“ bedeuten könne, wobei er es „saleone“ (01) ausspricht. Vermutlich wendet er sich, weil niemand am Gruppentisch reagiert, der Italienischlehrerin zu, die von Tisch zu Tisch geht und bei Bedarf die Kinder in ihren Schreib- und Wortbestimmungsprozessen unterstützt. Sie gibt Leon Erläuterungen auf phonetischer, semantischer und lexikalischer Ebene, indem sie das Wort korrekt und betont ausspricht, seine Bedeutung umschreibt und die Wortart benennt: „SOLleone è quando c_è un sole SPLENdente quindi in questo caso sempre un nome“ (SONnenschein ist wenn es eine STRAHlende sonne gibt also in diesem fall immer ein nomen) (02). Letzteres führt bei dem Jungen zu Irritationen, denn er hatte mit einem Verb gerechnet, vermutlich aufgrund des in der Klasse erarbeiteten Wissens, dass jeder Satz ein Verb enthält. Die Lehrerin verweist auf das vorhergehende Kreisgespräch, in dem auch über die poetische Sprache des Bilderbuchs gesprochen wurde, die zum Teil elliptische Formen (wie auf dieser Doppelseite) annimmt. Zur Bedeutung des Wortes hat Leon zwar keine Frage, doch kommt die Lehrerin kurz danach selbst noch einmal hierauf zu sprechen und umschreibt den Sonnenschein, „quando il sole splende nel cielo un SOLleone un sole belLISsimo un sole granDISsimo“ (wenn die sonne am himmel strahlt ein SONnenschein eine WUNDderschöne sonne eine GROßartige sonne) (09), den Rhythmus der italienischen Sprache betonend und gestisch untermalend. Ein anderer Junge greift diesen Rhythmus auf und wiederholt ihre Worte, „granDISsimo belLISsimo“ (GROßartig WUNderschön) (10) leise vor sich hinsprechend. Die Steigerungsformen der Adjektive kommen hier lautmalerisch zur Geltung und betonen die Strahlkraft der Sonne. Schließlich knüpft die Lehrerin lachend eine Verbindung zwischen dem außerordentlichen Sonnenschein im Buch und der aktuellen Wetterlage, die diesem sehr gegensätzlich zu sein scheint: „oggi non c_è il solleone“ (heute gibt es keinen sonnenschein) (11). Mit dieser Verbindung zwischen fiktionaler und realer Erfahrungswelt greift sie einen Moment literarischen Lernens auf, bleibt hierbei jedoch auf der konkreten Ebene des Erlebens von Wetter und geht nicht auf die metaphorische Bedeutungsebene der Stimmungen ein.

5 Fazit

Aus den vorgestellten key incidents wird ersichtlich, welche Lernpotentiale gereimte Bilderbücher, ihre Erfahrungshaftigkeit (vgl. Fludernik 1996) und ihr Zusammenspiel von Bild und Text (vgl. Staiger 2022) im Zweit- bzw. Fremdsprachunterricht haben können. Hinsichtlich des sprachlichen Lernens geben sie Anlass, sich mit phonologischen, semantischen, lexikalischen und syntaktischen Aspekten der Sprache auseinanderzusetzen. In Bezug auf das literarische Lernen ermöglichen sie, metaphorische Sprache kennenzulernen und im Austausch miteinander zu deuten sowie Beziehungen zwischen Realität und Fiktion, zwischen realen und fiktionalen Erfahrungswelten herzustellen. Gereimte, in Versform geschriebene Literatur mit ihrer poetischen Sprache, ihren Sprachbildern, Ellipsen und ihren wenigen Worten bietet einen anderen, einen ästhetischen Zugang zu einer Zweit- oder Fremdsprache, für den es im lehrgangsorientierten und an ein Lehrbuch gebundenen Unterricht oft nur wenig Raum gibt (vgl. Bland 2018; Campagnaro 2022; Wieler 2018).

Für einen ästhetischen Zugang ist Multimodalität zentral, sowohl das multimodale Zusammenspiel von Text und Bild, das sich materiell in Bilderbüchern manifestiert (vgl. Heintz 2021), als auch die multimodale Form des Austausches über die Bilderbücher in Form von Worten, Gesten und Mimik (vgl. Naujok 2018) oder mithilfe von Materialien wie etwa einem formbaren Papierstreifen. Die Multimodalität der Bilder eröffnet erweiterte Verstehensmöglichkeiten. So kann etwa die gerade oder gebogene Form der Blätter („curvo“ – „retto“) mit unterschiedlichen Stimmungen assoziiert oder der entspannt in der Hängematte liegende Junge mit dem strahlenden Sonnenschein („solleone“) in Verbindung gebracht und erinnert werden. Auch die Multimodalität der Verständigung über Literatur vertieft das Verstehen. Über die Sprache hinaus ermöglichen Körperhaltung, Gestik, Mimik und Klang erweiterte, leibliche Zugänge zu Literatur und Sprache. So helfen gestische Ausdrucksmöglichkeiten Kindern, ihr Wissen und Können in einer Sprache zu zeigen, wenn ihnen eine andere noch unvertraut ist (die gebogene Hand für „curvo“, die gerade ausgestreckte Hand für „retto“). Lehrer:innen können durch Materialien (der gebogene und der gestreckte Streifen Papier), durch Körperhaltung und Mimik (der gebeugte Körper verbunden mit einem traurigen Gesichtsausdruck für „triste“, traurig, der gestreckte Körper mit einem fröhlichen Gesichtsausdruck für „allegro“, fröhlich), durch Gestik (die ausgebreiteten Arme für „solleone“) oder durch Klang und Rhythmus („un sole SPLENdente“, „un sole belLISsimo“, „un sole granDISsimo“; eine STRAHlende, WUNderschöne, GROßartige Sonne) Kindern Sprache in ihrer konkreten und metaphorischen Bedeutung näher bringen und durch verschiedene Sinne (auditiv und visuell), in jedem Fall leiblich, erfahrbar werden lassen. Materialität, Multimodalität und Leiblichkeit in einem sozialen Kontext spielen hier eine zentrale Rolle (vgl. Kalthoff 2021).

Gereimte Bilderbücher mit ihren poetischen und metaphorischen Texten und Bildern sind jedoch nicht leicht, einfach oder schnell zugänglich – im Gegenteil. Sie fordern Kinder im Erwerb einer Erst-, Zweit- oder Fremdsprache in besonderem Maße heraus und bedürfen sprachlich und literarisch erfahrener Erwachsener und eines interaktiven Austausches. Gleichzeitig ermöglichen sie Erfahrungen mit Sprache in einer besonderen Form, wie hier etwa das Kennenlernen metaphorischer Sprachbilder („Un giorno sono curvo“, Einen Tag bin ich gebogen) oder elliptischer Satzstrukturen („Un giorno solleone“, Einen Tag Sonnenschein).

Nicht zuletzt begegnen Kinder für sie bedeutsamen Erfahrungen in ihrer sozialökologischen Zone der Ausschnitte (aber auch darüber hinaus): bei der Auseinandersetzung mit dem Bilderbuch Io sono foglia etwa unterschiedlichen, wie Blätter im Herbst durcheinanderwirbelnden Stimmungen, wie Freude und Traurigkeit, Gelassenheit und Anspannung, Langeweile und Lust, Verzagtheit und Wagemut. Sie können diese vorgestellten Erfahrungen (vgl. Schüler 2019) mit ihren eigenen ambivalenten, manchmal widersprüchlichen Erfahrungen in Verbindung bringen, wie der Freude über den Aufenthalt an einem anderen Ort verbunden mit der zeitgleichen Sehnsucht nach der vertrauten Umgebung.

Notes

  1. Das Kompositum solleone setzt sich aus den Worten „sole“ (Sonne) und „leo“ (Löwe) zusammen und bezieht sich in seinem Ursprung auf den Zeitraum des Sternzeichens Löwe vom 23. Juli bis 23. August. Es kann auch mit Sommerhitze, sengende/brennende Sonne oder Hundstage übersetzt werden, die für diese Periode in Italien kennzeichnend sind. Ebenso kann der Ausdruck acquazzone auch mit Platzregen, Wolkenbruch oder Regenguss übersetzt werden. Im Zusammenhang mit den Bildern dieser Doppelseite und den zwar gegensätzlichen, jedoch jeweils nicht extremen Gesichtsausdrücken und Körperhaltungen der Hauptfigur, haben wir uns für die Übersetzung mit den (weniger drastischen) Begriffen Sonnenschein und Regenschauer entschieden. [^]

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Transkriptionskonventionen (in Anlehnung an GAT 2, Selting et al. 2009)

Kurzbio:

Prof. Dr. Jeanette Hoffmann (PhD) ist Professorin (Ordinaria) für Didaktik der Deutschen Literatur an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen (Italien). Sie promovierte an der Freien Universität Berlin (Deutschland) mit der mehrfach preisgekrönten Studie Literarische Gespräche im interkulturellen Kontext (Hoffmann 2011). Von 2013–2019 war sie Professorin für Grundschulpädagogik/Deutsch an der Technischen Universität Dresden (Deutschland). Ihre Forschungsinteressen sind Grafisches Erzählen, Literarisches Lernen und Sprachbildung, Kinder- und Jugendliteratur und ihre Didaktik, Lese- und Mediensozialisation, Interkulturelles Lernen und Mehrsprachigkeit, Empirische Rezeptions-, Unterrichts- und Professionsforschung.

Anschrift:

Prof. Dr. Jeanette Hoffmann

Freie Universität Bozen

Fakultät für Bildungswissenschaften

Regensburger Allee 16

39042 Brixen (BZ)

Italien

jeanette.hoffmann@unibz.it

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  • Jeanette Hoffmann orcid logo (Freie Universität Bozen)

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  • Themenschwerpunkt: Erzählen in multilingualen und interkulturellen Kontexten

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