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Stellungnahmen

Fremdsprachenlernen in/und Europa – Eine europäisch-fremdsprachendidaktische Kritik an Philippe van Parijs’ Linguistic Justice

Abstract

In diesem Beitrag werden die Hauptthesen des Buches Linguistic Justice von Philippe Van Parijs einerseits hinsichtlich einer europäischen Identität und andererseits in Hinblick auf das Fremdsprachenlernen in Europa diskutiert. Es wird argumentiert, dass die Forderung nach einer dominanten Durchsetzung des Englischen als lingua franca nicht mit dem Erhalt und der Pflege der sprachlich-kulturellen Vielfalt in Einklang gebracht werden kann. Dahingegen wird gerade das Fremdsprachenlernen über das Englische hinaus als originär europäisches Identifikationsmoment bestimmt.

Foreign Language Learning in/and Europe – A critique on Philippe Van Parijs’s Linguistic Justice
The article presents the main theses of Linguistic Justice from the Belgian philosopher and economist Philippe Van Parijs. The critique on Philippe Van Parijs’s position is centered on European identity and the learning of foreign languages. From the point of view of this article the idea of English as a European lingua franca is in contradiction with the importance of linguistic and cultural diversity in Europe. In addition to English as a foreign language, from a European perspective learning other languages than English can be considered as a constitutive moment of European identification.

Keywords: Europa, Sprachen, Fremdsprachenlernen, Philippe van Parijs, Europe, Languages, Foreign language learning

How to Cite:

Inal, Benjamin (2022):
Fremdsprachenlernen in/und Europa – Eine europäisch-fremdsprachendidaktische Kritik an Philippe Van Parijs’ Linguistic Justice.
Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 27: 2, 285–305.
https://doi.org/10.48694/zif.3407

Ich, der keine Sprache mehr hat, aber den mehrere quälen oder der mitunter aus mehreren Gewinn zieht, ich habe Gefühle, die je nach den von mir verwendeten Worten variieren.

(Héctor Bianciotti: Das extreme Leben einer unscheinbaren Frau)

Europa und der Fremdsprachenunterricht stecken in der Krise. Die beiden Teile dieser Aussage scheinen zunächst keinen wesentlichen und unmittelbaren Bezug zueinander zu haben. Die europäische Krise kann beispielsweise mit dem ‚Brexit‘ in Verbindung gebracht werden oder mit den Wahlerfolgen von europaskeptischen bzw. -feindlichen Parteien (vgl. Castells et al. 2018). Auch dass Europa nicht ‚mit einer Stimme’ spricht, etwa in außenpolitischen, zum Beispiel migrationsbezogenen Fragen, verweist auf eine Krisenhaftigkeit wie auch auf die Vielfalt an Sprachen und Sichtweisen, die in Europa existieren. Auf einem gänzlich anderen Feld ist die Krise des Fremdsprachenunterrichts angesiedelt, die etwa mit dem Kompetenzniveau der Lernenden (vgl. Bürgel 2020; Bürgel/Siepmann 2010) oder mit dem generellen Bedeutungsverlust der Fremdsprachen (außer Englisch) im Kanon der Fächer in Verbindung gebracht werden kann (vgl. Caspari 2021).

Der vorliegende Beitrag verfolgt das Ziel, einen Zusammenhang zwischen diesen beiden ‚Krisen‘, die zunächst gar keinen wesentlichen und unmittelbaren Bezug zueinander zu haben scheinen, herzustellen.1 Am Ende dieser Auseinandersetzung – so viel kann hier schon gesagt werden – steht das Plädoyer, dass das Fremdsprachenlernen als ein elementarer Teil Europas und des Seins der Europäerinnen und Europäer in Europa betrachtet werden muss. Die Argumentation geht dabei von einer Auseinandersetzung mit der Monographie Linguistic Justice for Europe and for the World (nachfolgend LJ) des Belgiers Philippe Van Parijs (2011) aus. Diese Referenzpublikation hat einen vieldiskutierten Vorschlag unterbreitet, wie Sprachenlernen und Europa zusammen zu denken sind. Dabei wurde sie als „landmark publication for linguistic justice theory“ (De Schutter/Robichaud 2015: 87) und als das „derzeit wichtigste Buch über die Zukunft der Sprachen Europas und der Welt“ (Trabant 2014: 205) hervorgehoben. Gleichzeitig wurde im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Buch Kritik aus verschiedenen Richtungen und mit verschiedenen Akzentuierungen laut. Auf diese Diskussion verweist der Zusatz ‚Kritik an Philippe Van Parijs‘ im Titel, denn in der Vergangenheit wurden bereits mehrere Beiträge so oder ähnlich tituliert (vgl. Ferguson 2018; Kruse 2016 sowie die Beiträge in dem von De Schutter und Robichaud herausgegebenen Themenschwerpunkt „Linguistic Justice. Van Parijs and His Critics“, der 2015 in der Zeitschrift Critical Review of International Social and Political Philosophy veröffentlicht wurde). Was die Diskussion um die Thesen von Van Parijs betrifft, erstaunt es, dass in vielen Beiträgen die Bedeutung des Fremdsprachenlernens für Europa – insbesondere des schulischen Fremdsprachenunterrichts jenseits des Englischen – bisher wenig in Augenschein genommen wurde. Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es folglich, diese Aspekte im Rahmen einer weiteren ‚Kritik an Philippe Van Parijs‘ stärker in die Diskussion einzubringen. Dafür werde ich nachfolgend zunächst die zentralen Argumente aus Linguistic Justice for Europe and for the World (LJ) rekapitulieren, daraufhin relevante Kritikpunkte im Überblick darstellen und schließlich das fremdsprachliche Lehren und Lernen und die Frage nach europäischer Identität in den Fokus rücken.

1 Philippe Van Parijs’ ‚Sprachengerechtigkeit für Europa und die Welt‘: Englisch als lingua franca

Die grundlegenden Aussagen des Buches konzentrieren sich auf zwei Punkte. Zum einen prognostiziert der Autor, dass sich Englisch sowohl in Europa als auch in der Welt weiter durchsetzen wird. Dabei relationiert er Gerechtigkeit mit der kompetenten Teilhabe an dieser immer umfassenderen lingua franca.2 Zum anderen geht es um das Problem, dass das zunehmende Erlernen und der zunehmende Gebrauch des Englischen mit dem Beharren auf Existenz und Status der anderen Sprachen in Konflikt geraten kann. Van Parijs erkennt hier die identifikatorische Bedeutung und das soziale Kohäsionsvermögen von Sprachen an und schlägt vor, dass in entsprechenden Gebieten, in denen eine andere Sprache als das Englische eine entsprechende identifikatorische Stellung besitzt, diese Sprache als offizielle Sprache des jeweiligen Gebiets festgesetzt wird und in der Verwaltung, dem Bildungssystem, den Medien usw. Verwendung findet. Führt man beide Aspekte unter dem Aspekt der Gerechtigkeit zusammen, dann lässt sich Van Parijs’ Vorschlag so verstehen, dass Gerechtigkeit dann in maximaler Weise hergestellt wird, wenn einerseits das Englische massiv ausgebaut wird, sodass irgendwann potenziell alle Menschen ‚barrierefrei‘ (in der Logik von Van Parijs gesprochen) miteinander kommunizieren können, und wenn andererseits eine andere Sprache aktiv gefördert wird, sofern sich die Menschen in einer entsprechenden politisch-territorialen Einheit darauf einigen können, dass diese Sprache zu fördern und zu bewahren sei. Dieses Spannungsverhältnis zwischen dem Englischen als lingua franca und der Bedeutung anderer Sprachen ist – so wird in Kap. 3 ausführlich dargelegt – für die europäische Frage nach Sprachenpolitik und sprachlich-kultureller Vielfalt von eminenter Relevanz. Nachfolgend soll die Argumentation von Van Parijs genauer beleuchtet werden, sodass die daran anschließende Kritik besser nachvollziehbar wird.

Im ersten Kapitel zeichnet der Autor den historisch singulären Aufstieg des Englischen zu einer weltweiten lingua franca nach und sagt eine Fortsetzung dieses Trends voraus, wobei er sich auf zwei Annahmen stützt: probability-driven language learning und maxi-min use (vgl. Van Parijs 2011: 11–17). Ersteres besagt, dass Menschen diejenige Fremdsprache lernen bzw. zum Erlernen derjenigen Fremdsprache am meisten motiviert sind, die sie am wahrscheinlichsten später einmal gebrauchen und einsetzen werden können, für die also der „expected communicative benefit“ (12) am größten ist. Maxi-min use bedeutet, dass in einer Kommunikationssituation mit mehreren Teilnehmenden, die unterschiedliche Sprachen sprechen, mit großer Wahrscheinlichkeit diejenige Sprache zur Verständigung genutzt wird, in der die Gesprächsteilnehmenden im Durchschnitt am kompetentesten sind, „the language of maximal minimal competence“ (14). Van Parijs gründet seine Annahme, allein Englisch könne sich als globale lingua franca durchsetzen, darauf, dass die Dominanz des Englischen vor dem Hintergrund der beiden genannten Mechanismen zu einer Selbstbeschleunigung, zu einem „explosive process“ (15) führe: Je häufiger Englisch Verwendung findet, desto größer die Bereitschaft Englisch zu erlernen; je größer die Bereitschaft Englisch zu erlernen, desto häufiger wird die Sprache Verwendung finden.

Der zweiten großen Frage, wie es um die anderen Sprachen bestellt ist, widmet Van Parijs in LJ ein Kapitel, in dem er für das Prinzip des „territorially differentiated coercive linguistic regime“ (136) plädiert. Der Vorschlag besagt, dass in einem bestimmten Territorium eine Sprache, der eine wichtige identifikatorische Bedeutung für ein entsprechendes Kollektiv zukommt, zur „queen“ (146) gekürt und solchermaßen institutionalisiert werden kann, dass ihr Gebrauch in den verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens bindend ist. „[O]ne should allow all language communities to ‘grab a territory’, that is to impose their language in public education and public communication within some territorial boundaries.“ (Van Parijs 2015: 224) Als Beispiele dafür können in der Gegenwart etwa das Dänische als sprachliche ‚Königin‘ in Dänemark gelten oder auch die vier Landessprachen in der Schweiz mit ihren jeweiligen Sprachgebieten. Van Parijs sieht dieses Modell als gerecht an, da jede Sprache potenziell in einem bestimmten Gebiet Königin sein könne (parity of esteem). Dieser Vorschlag stellt die entscheidende Reaktion in LJ darauf dar, dass die Sprachenvielfalt für gewöhnlich nicht unabhängig von individuellen und kollektiven Identifikationsprozessen zu sehen ist. Oder in anderen Worten: dass das Sprechen einer bestimmten Sprache oder mehrerer bestimmter Sprachen für Menschen wichtig ist und als Teil ihres individuellen/sozialen Seins empfunden wird. Aus diesem Grund schätzt Van Parijs das Aufzwängen einer Sprache entgegen dem Identitätsempfinden der Menschen als „counterproductive“ (Van Parijs 2011: 196) ein, sodass eine „preservation of some degree of linguistic diversity“ (185) aus identitätsbezogenen Gerechtigkeitsgründen – und eben nicht, da sprachliche Vielfalt für Van Parijs einen Mehrwert an sich darstellen würde (vgl. 206) – notwendig sei.

Anschließend an diesen Überblick über die zentralen Aussagen in LJ seien nachfolgend einige der Kritikpunkte aufgegriffen, die in der Auseinandersetzung mit dem Buch vorgebracht worden sind.

2 Sozial- und sprachwissenschaftliche Kritikpunkte an Philippe Van Parijs’ Position

Als Sozialphilosoph und Ökonom hat Van Parijs zweifelsohne eine spezifische, disziplinär geprägte Sicht auf die Sprachenfrage – wobei diese Feststellung hier nicht als Vorwurf zu verstehen ist. In LJ antizipiert er den Widerspruch beispielsweise von sprachwissenschaftlicher Seite und wendet sich gegen die sprachwissenschaftliche Wertschätzung für sprachliche Vielfalt, von der er ausgeht, in erstaunlicher Weise ganz unwissenschaftlich, indem er den Vorwurf vorbringt, es gehe den Verteidigern sprachlicher Vielfalt weniger um die Sprachen als vielmehr um ihre Forschungs- und Arbeitsfelder und somit um ihre eigenen Felle, die sie am Horizont der Einsprachigkeit davonschwimmen sähen3. Doch nicht nur positioniert er sich gegen etwaige sprachwissenschaftliche Perspektiven, auch bezieht er in seiner Studie die sprachwissenschaftliche, insbesondere die soziolinguistische Forschung kaum mit ein (vgl. May 2015: 133). Es überrascht somit nicht, dass die bisher umfänglichste Erwiderung auf LJ der Feder des romanistischen Sprachwissenschaftlers Jürgen Trabant entstammt, worauf nachfolgend einzugehen sein wird. Zunächst seien jedoch die kürzeren Zeitschriften- bzw. Buchbeiträge präsentiert, die mit größtenteils sozialwissenschaftlicher Prägung insbesondere den Aspekt der Gerechtigkeit diskutiert haben.

Ein Teil der Kritik beschäftigt sich mit dem zentralen Punkt des Englischen als lingua franca. Der Grundmechanismus des maxi-min use, der Van Parijs zufolge der Durchsetzung des Englischen unterliegt, wird von Kruse angezweifelt (vgl. Kruse 2016: 65–67). Dieser weist darauf hin, dass die Annahme nicht empirisch begründet werden könne und somit weniger deskriptiv als vielmehr normativ zu verstehen sei. Kruse stellt eine Vielzahl anderer Aspekte heraus, die bei der Sprachenwahl in einer sprachlich heterogenen Gruppe entscheidend seien, wie zum Beispiel Machtaspekte, Höflichkeit, Identifikation oder die Erstsprache des primären Adressaten. Dass nichtsdestotrotz Englisch häufig die Wahl der gemeinsamen Kommunikation ist, führt der Autor weniger auf das Prinzip maxi-min use zurück, als vielmehr auf eine kosmopolitische Identifikation, die sich durch das Englische ausdrücke, wobei er hierbei lediglich auf Grundlage seiner eigenen Erfahrungen argumentiert (vgl. 67). Geht man von einer weiteren Dominanz des Englischen als globale lingua franca aus, dann lässt sich mit Ferguson und May die Frage stellen, wie sich diese in den verschiedenen Erdteilen gesprochenen Varianten des Englischen mit Blick auf Gerechtigkeit ins Verhältnis mit dem muttersprachlichen Englischen britischer oder US-amerikanischer Prägung stellen. Ferguson (2018: 37) postuliert, die Sprachvariante(n) English as a lingua franca sei in diesem Zusammenhang „a lesser kind of English than the standard variety“. Und May (2015: 142; Hervorhebung im Original) attestiert LJ diesbezüglich eine „naïveté about the relationship between language varieties and access to power und opportunity“. Diese Kritik schließt an die Diskussion um Englisch als lingua franca an. Darunter seien Varianten des Englischen zu verstehen, die nicht einheitlich seien, sondern sich durch eine „multiplicity of voices“ auszeichneten, so House (2008: 67). Speziell für Europa wird in diesem Zusammenhang auch ein ‚Euro-Englisch‘ (Gnutzmann/Jakisch/Rabe 2014) diskutiert, also eine europäische Ausprägung des Englischen als gelernte Fremdsprache. Auch Van Parijs konstatiert, dass Englisch als lingua franca nicht gleichzusetzen ist mit erstsprachlichem Englisch. Seiner Meinung nach solle jede/r diejenige Variante des Englischen sprechen, wie er/sie sie gelernt hat (vgl. Van Parijs 2011: 33). Was das Verhältnis zum Standard-Englischen anbelangt, sieht er kein Problem der Überlegenheit, sondern eher einen Nachteil für diejenigen, die Englisch als Erstsprache gelernt haben. Sein Argument lautet, dass diese Menschen größere Schwierigkeiten damit haben könnten, sich GesprächspartnerInnen gegenüber adäquat verständlich zu machen. „The bulk of a worldwide audience consists of people who are not Anglophones. When addressing such an audience, it can be a serious handicap to use clever puns, sophisticated syntax, and wonderfully chosen idiomatic expressions.“ (34)

Noch stärker jedoch zielt die vorgebrachte Kritik auf Van Parijs’ Vorschlag zum Erhalt einer (eingeschränkten) sprachlichen Vielfalt aus Gründen der Gerechtigkeit. Als gewichtiges Argument wurde Van Parijs in diesem Zusammenhang vorgeworfen, er unterschätze grundsätzlich die identifikatorische Bedeutung von Sprachen (vgl. May 2015: 137). Mit Blick auf den identifikatorischen Stellenwert von (Minderheiten-)Sprachen sei es angesichts der sprachlichen Heterogenität in vielen Ländern und Regionen problematisch und auch nicht gerecht, eine Sprache zu oktroyieren (Bauböck 2015: 219; Ferguson 2018: 44). Aus dieser Sicht könne nur eine Sprachenpolitik gerecht genannt werden, die einem vielsprachigen Ansatz folgt (vgl. Stilz 2015: 189) bzw. die Minderheitensprachen in anderer Weise einbezieht, als dies in Van Parijs’ Modell vorgesehen ist (vgl. Bauböck 2015: 219–220).

Bezogen auf den Umgang mit sprachlicher Vielfalt erstaunt es, dass in den behandelten Publikationen kaum in den Blick genommen wurde, was Sprachen und Mehrsprachigkeit für Europa bedeuten.4 Trabant (2014) hat sich dieser Frage unter anderem in seinem Buch Globalesisch, oder was? Ein Plädoyer für Europas Sprachen gestellt. Die Publikation hebt sich durch ihre sprachwissenschaftliche Fundierung von den vorstehend behandelten Beiträgen ab. Überblickt man zunächst, worin sich Van Parijs und Trabant einig sind, dann ist hier die gegenwärtige Dominanz des Englischen und die Annahme, dass diese in Zukunft weiter zunehmen wird, zu nennen. „Es wird genau so kommen, wie dieses Buch [gemeint ist LJ; BI] es vorhersagt“, schreibt Trabant (2014: 205) am Ende seiner Studie mit einem hörbar desillusionierten Unterton. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass Van Parijs dafür wirbt, diesen Prozess zu beschleunigen – auch auf Kosten anderer Sprachen –, um kommunikative Hindernisse zu überwinden und Gerechtigkeit herzustellen. Dahingegen plädiert Trabant für eine Verlangsamung und für eine Eingrenzung dieses Prozesses. Van Parijs (2011: 192) schwebt letztendlich eine „linguistically homogeneous world“ vor. Trabant hingegen will das Englische neben „gleichzeitiger Pflege der alten Nationalsprachen“ (Trabant 2014: 64) für bestimmte Belange der internationalen Kommunikation ‚funktional eingeschränkt‘ (vgl. ebd.) wissen. Van Parijs ist bereit, auf dem Weg zur englischen Einsprachigkeit Gebiete der Zweisprachigkeit zu akzeptieren, während Trabant dieser transitorischen Logik des ‚aus mehr mach zwei mach eins‘ die gezielte Förderung und Aufrechterhaltung von Mehrsprachigkeit entgegensetzt.

Beide Autoren unterscheiden sich durch eine optimistische bzw. pessimistische Sicht auf den zukünftigen Status der unterschiedlichen Sprachen, die nicht Englisch sind. Van Parijs lässt wiederholt anklingen, mit Englisch als dominanter lingua franca seien auch die sprachlich-identitären Partikularinteressen vereinbar. „Europe’s many official languages will be safe.“ (Van Parijs 2011: 174) Demnach lasse seine Position „space for the equal (pro tanto) recognition of all native languages present in a territory while asserting the legitimacy of constraints favoring the locally dominant language.“ (Van Parijs 2015: 236) An anderer Stelle heißt es sogar, die Menschen, die sich ihre Zwei- oder Mehrprachigkeit bewahrten, seien den einsprachig Englischsprechenden gegenüber im Vorteil (vgl. Van Parijs 2011: 115). Dieser optimistischen Version widersprechen verschiedene Autoren, die davon ausgehen, dass mit der sich ausbauenden Dominanz des Englischen ein fortschreitender Bedeutungsverlust der anderen Sprachen einhergehen wird (vgl. May 2015: 139). Insbesondere Trabant (vgl. 2014: 58; 63–64; 92) stellt Van Parijs eine pessimistische Prognose entgegen, indem er von einer ‚Re-Vernakularisierung‘ der Nationalsprachen ausgeht, d.h. dass sich diese Sprachen immer weiter auf bestimmte Bereiche zum Beispiel des privaten Lebens zurückziehen und ihren Status als ‚ausgebaute Sprachen‘ (vgl. Kloss 1978: 28–30) Stück für Stück verlieren würden. Käme es dann im Zuge dieses Abbauprozesses zu einer vollständigen Aufgabe der Sprache durch die Sprechenden, wäre das aus Sicht von Van Parijs keine Ungerechtigkeit, denn niemand hätte sie ja direkt dazu gezwungen.

Da die Frage nach dem zukünftigen Status der verschiedenen Sprachen hochgradig spekulativ ist, soll sie hier nicht weiter verfolgt werden. Welche Positionen vertreten hingegen Van Parijs und Trabant in Bezug auf die gegenwärtige sprachliche Vielfalt? Van Parijs erkennt der sprachlichen Vielfalt keinen besonderen Wert zu und ist gewissermaßen ‚zähneknirschend‘ bereit, sie für den Moment zu akzeptieren. Der Verlust von sprachlicher Vielfalt stellt für ihn prinzipiell nichts Negatives dar (vgl. Van Parijs 2011: 168; 172). In diesem entscheidenden Punkt widerspricht Trabant energisch. Der Autor betont die irreduzibel sprachliche Gebundenheit von Kultur (vgl. Trabant 2014: 28–29). Unter Rückgriff auf Reflexionen über Sprache unter anderem von Wilhelm von Humboldt macht er deutlich, dass an jede Sprache eine „Weltansicht“ (27) gekoppelt sei, eine spezifische Weise des Denkens, des Seins in der Welt und des Zugriffs auf Welt. Und folglich habe der Verlust an sprachlicher Vielfalt hohe Kosten, denn: „Wenn eine Sprache verschwindet, so verschwindet nicht die Möglichkeit, über die Welt alles sagen zu können, das kann jede Sprache. Es verschwindet aber die Möglichkeit, es auf diese je besondere Weise zu denken und zu sagen. Und darin liegt ihr Reichtum.“ (203; Hervorhebung im Original)

Mit dieser Überzeugung vom Reichtum, den eine jede Sprache in sich birgt, ist das entscheidende Argument von Trabant vorgebracht. Dieses Argument gilt für Sprachen im Allgemeinen. Nichtsdestotrotz wendet Trabant diese Frage auf den spezifischen Kontext Europas, wie ja bereits der Titel Ein Plädoyer für Europas Sprachen verdeutlicht. Im folgenden Kapitel wird die Bedeutung der Mehrsprachigkeit für Europa vertieft und die Frage gestellt, was die behandelten unterschiedlichen Positionen für das Fremdsprachenlernen in Europa bedeuten und was das Fremdsprachenlernen für Europa bedeutet.

3 Fremdsprachenlehren und -lernen und die Bedeutung der Mehrsprachigkeit für Europa

Wie bereits dargelegt erstaunt es, dass die behandelten Beiträge zwar das Sprechen von Sprachen und damit zusammenhängende Konzepte wie zum Beispiel ‚Gerechtigkeit‘ fokussieren, kaum aber auf das Erlernen von (Fremd-)Sprachen jenseits des Englischen konkret eingehen. Lediglich Trabant hat sich hierzu geäußert, wobei das Thema keine zentrale Stellung in seinem Buch einnimmt5. Zunächst soll jedoch in Bezug auf LJ die Frage gestellt werden, welche Vorstellungen von zukünftigem Fremdsprachenunterricht im Buch entwickelt werden. Zur Verbreitung des Englischen propagiert Van Parijs die Immersion der Lernenden in ein englisches ‚Sprachbad‘ von Kindesbeinen an, u.a. durch das Erteilen von Sachfachunterricht auf Englisch sowie durch englischsprachige Medienangebote im Internet. Zum anderen fordert der Autor die Abschaffung der Synchronisation englischsprachiger Filmproduktionen zugunsten der Untertitelung (vgl. Van Parijs 2011: 103). „Distributive justice will (…) be best served (…) by democratizing proficiency in the lingua franca throughout the world as quickly and thoroughly as possible, using for this purpose the modern media’s powerful and cheap learning tools at least as much as formal schooling.“ (208) Zum Lehren und Lernen von anderen Fremdsprachen, sofern in einem bestimmten Territorium keine größere Sprachgemeinschaft die sprachlichen Interessen einer betreffenden Sprache vertritt, macht LJ schlichtweg keine Aussage. Es muss somit davon ausgegangen werden, dass in der Vision von Van Parijs Englisch als Fremdsprache gelernt wird, darüber hinaus ggf. eine lokale Sprache als offizielle Sprache vor Ort Verwendung findet und daneben keine weiteren Fremdsprachen gelehrt und gelernt werden. Für Europa würde das bedeuten: Wenn alle Englisch lernen, dann gibt es dem nicht zuletzt ökonomisch begründeten Kalkül Van Parijs’ nach keinen vernünftigen Grund mehr, warum sich in Deutschland jemand die Mühe machen sollte Tschechisch zu lernen, oder in Schweden Spanisch zu lernen, oder in Belgien Italienisch zu lernen usw. Dieser Perspektive entsprechend würden bestimmte Menschen allenfalls zufallsbedingt (zum Beispiel durch Migration, durch familiäre Konstellationen, durch ein besonderes Interesse für Fremdsprachen etc.) noch mehr als zwei Sprachen beherrschen, normativ ist dies in der Van Parijs’schen Planung jedoch nicht mehr vorgesehen. Ob solch eine Sprachenpolitik politisch umsetzbar wäre und ob dadurch zum Beispiel einer weiteren nationalistischen ‚Einkapselung‘ Vorschub geleistet (vgl. Meißner 2013: 203) und das Narrativ ‚Brüssel diktiert‘ (vgl. Bauböck 2015: 217) bedient würde, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben.

Auch an dieser Stelle werden fundamentale Unterschiede zwischen dem Vorschlag deutlich, wie er in LJ vorgebracht wird, und beispielsweise der Position Trabants. In Hinblick auf das Fremdsprachenlernen muss deutlich gesagt werden: Van Parijs spricht an keiner Stelle seines Buches von fremdsprachlichem Unterricht, der eine andere Sprache als das Englische zum Ziel und Gegenstand hat. Betrachtet man diese Nicht-Thematisierung zusammen mit der konstanten Argumentation zugunsten des Englischen, dann erscheint es folgerichtig davon zu sprechen, dass Van Parijs’ Vorschlag die Abschaffung des Fremdsprachenunterrichts, abgesehen vom Englischunterricht, beinhaltet. Trabant hingegen ist der Überzeugung, dass die „Frage der dritten Sprache (…) das Zentrum des Problems der Europäität der Sprachenkonstellation Europas aus[macht]“ (Trabant 2014: 33). Dieser entscheidende Punkt, der dem Unterrichten mehrerer Sprachen über das Englische hinaus in Europa eine wichtige identifikatorische Bedeutung auf europäischer Ebene zuerkennt, soll nun erläutert und vertieft werden.

Als Ausgang dient die Unterscheidung zwischen einer kommunikativen und einer identitären Funktion von Sprache. Im einführenden Beitrag in das bereits genannte Themenheft „Linguistic Justice. Van Parijs and His Critics” differenzieren die Autor/innen in eben dieser Hinsicht: „[L]anguages are not only bearers of identity, they can also serve interests not related to identity. For example, sharing a language helps people to understand each other better. Language is then an instrument of communication rather than of identity.“ (De Schutter/Robichaud 2015: 93) Daran anschließend wird LJ von De Schutter und Robichaud als ‚hybrider‘ Ansatz bestimmt, der kommunikative und identitäre Funktionen von Sprache berücksichtige (vgl. 95; 97). Diese Grenzziehung kritisiert May grundsätzlich (vgl. May 2015: 138) und in Auseinandersetzung mit LJ macht Trabant deutlich, dass Van Parijs’ Überlegungen allein von der Frage nach Kommunikation geleitet werden und der Belgier gerade nicht die identifikatorische Bedeutung von Sprachen ausreichend berücksichtige (vgl. Trabant 2014: 205–206).

Ich greife an dieser Stelle die Unterscheidung einer kommunikativen von einer identitären Sprachfunktion deshalb auf, weil sich mit ihr verdeutlichen lässt, was ‚Fremdsprachenunterricht in/und Europa‘ bedeutet. Aus fremdsprachendidaktischer Sicht ist es nicht möglich, die identifikatorische und die kommunikative Ebene beim ‚Fremdsprachenlernen‘ (vgl. Tödter 2019) unabhängig voneinander zu sehen.6 Nicht nur impliziert Sprachenlernen notwendig eine Identifikation bzw. eine Auseinandersetzung mit dem ‚Anderen‘, sondern auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst. „Fremd- und Selbstverstehen gehören zusammen als ein- und derselbe Prozess, in dem sich beides dynamisch aus der Erfahrung der Entfremdung entwickelt.“ (Bonnet/Breidbach 2007: 260) Auch die Sprachkontakte über Sprach- und Landesgrenzen hinweg, die durch das Fremdsprachenlernen ermöglicht werden, können nicht rein kommunikativ und unabhängig von identifikatorischen Aspekten betrachtet werden. Denn in einer Fremdsprache kommunizierend begibt man sich auf schwankenden Grund, da man Bedeutung in sprachlicher Interaktion mit einem Gegenüber aushandeln und hierbei unterschiedliche kulturell geprägte Hintergründe in Einklang bringen muss. Dieser Prozess impliziert das Involviertsein der Sprechenden als ganze Person, als kulturelle Akteure. Sprachkontakt in diesem Sinne kann nicht auf die Logik reiner Kommunikation und Informationsübertragung reduziert werden.

Diese Feststellung und diese Kritik an einer scharfen Trennlinie zwischen kommunikativer und identifikatorischer sprachlicher Dimension in Bezug auf das Fremdsprachenlernen ist wichtig, und sie ist wichtig für Europa. Warum? Gehen wir dafür zunächst von Philippe Van Parijs’ Werben für Englisch als europäische lingua franca aus. Für den Autor geht es an vorderster Stelle um die Ermöglichung von Kommunikation, was insbesondere wirtschaftliche, administrative und andere Vorteile mit sich bringt, wie Van Parijs an vielen Stellen betont. Daneben hat seine Vision eine identifikatorische Dimension, denn wenn Menschen miteinander kommunizieren können, sich miteinander ins Verhältnis setzen können, dann ermöglicht das auch Identifikation – in welcher Form und in welcher Hinsicht auch immer. Die europabezogene Frage an Van Parijs aber lautet: Welche Vorstellung von Europa impliziert sein Plädoyer? Schließlich geht es dem Autor entsprechend dem Titel des Buches zuallererst um Europa (und dann auch um die Welt): „[T]he European Union (…) is LJ’s primary focus.“ (Van Parijs 2015: 229) Das Englische dominant zu setzen – die Landessprache Großbritanniens, das heute nicht mehr Teil der EU ist, die Landessprache der USA, die Sprache der globalen Verständigung etc. – liefert jedoch keine genuin europäische Antwort. Das Werben um funktionale Perfektionierung von Kommunikation auf der Basis des Englischen erscheint weniger als ein spezifisch europäisches denn vielmehr als ein globales Modell.

Während Van Parijs demnach für Europa eine ‚flüssigere Kommunikation‘ anzubieten hat, wird von offizieller europäischer Seite die identifikatorische Bedeutung von Sprache bzw. von sprachlicher Vielfalt betont, getreu dem europäischen Motto ‚In Vielfalt geeint‘. Das heißt, die EU nimmt ausgehend von der Überzeugung, dass die Sprachen Europas mehr sind als nur Ermöglichung von Kommunikation, bewusst eine Erschwerung von Kommunikation in Kauf, indem sie je nach Kontext verschiedene europäische Sprachen als Gebrauchssprachen akzeptiert bzw. aktiv fördert. Auch die EU geht somit von einer Untrennbarkeit von kommunikativen und identifikatorischen Dimensionen von Sprachen aus:

Die harmonische Koexistenz vieler Sprachen in Europa ist ein kraftvolles Symbol für das Streben der Europäischen Union nach Einheit in der Vielfalt, einem der Eckpfeiler des europäischen Aufbauwerks. Sprachen sind Merkmal der persönlichen Identität, aber auch Teil des gemeinsamen Erbes. Sie können als Brücke zu anderen Menschen dienen und öffnen den Zugang zu anderen Ländern und Kulturen, fördern also das gegenseitige Verständnis. (Europäische Kommission 2008: o.S.)

Im Folgenden soll aus einer fremdsprachendidaktischen Perspektive vertieft werden, inwiefern das Lernen von Fremdsprachen jenseits des Englischen für Europa wichtig ist.

Zunächst ist festzuhalten, dass Sprachen und Kollektividentitäten eng miteinander verbunden sind.7 Für Europa gilt in dieser Hinsicht, dass es keine gemeinsame, identitätsstiftende Sprache besitzt wie etwa ein Land wie Frankreich das Französische oder eine Region wie Katalonien das Katalanische. Deshalb muss man jedoch noch lange nicht zu dem Schluss kommen, es gäbe auf europäischer Ebene keine Identifikationsprozesse. Europa erinnert gemeinsam an die (Schrecken der) Vergangenheit; der Holocaust kann diesbezüglich als „negativer Gründungsmythos“ (Leggewie 2010: 31) Europas gefasst werden. Vor allem jedoch basiert Europa nicht nur auf der Vergewisserung seiner Herkunft. Das berühmte Diktum Invention of Tradition hat die Bedeutung der Erfindung einer ‚nationalen Herkunft‘ als wichtiges Element nationalstaatlicher Identitätskonstitution populär gemacht (vgl. Hobsbawm/Ranger 1988). Neben dieser retrospektiven Frage nach der (gemeinsamen) Vergangenheit ist für Kollektividentitäten jedoch auch die prospektive Frage ‚Wo geht es für uns gemeinsam hin?‘ von zentraler Relevanz. Ein ‚Projekt‘, das der Zukunft einen Weg zeichnet, ist beispielsweise von Bottici/Challand (2013: 37) als wichtige Dimension einer europäischen Identifikation hervorgehoben worden. Und Beck/Grande heben hervor, dass dieser zukunftsoffene Konstruktionsprozess, der in permanenter Aushandlung begriffen ist und solchermaßen konträr zur monolithischen Vorstellung einer unveränderlichen ‚Tradition‘ steht, nicht als Defizit Europas zu werten ist, sondern gerade „die Wirklichkeit der Europäisierung ausmacht.“ (Beck/Grande 2007: 17) Die Erzählung, auf der das europäische Projekt gründet, lässt sich unter anderem so fassen, dass in Europa die verschiedenen Perspektiven, Länder, Regionen, Geschichten und Erfahrungen in einem gemeinsamen, friedlichen Rahmen zusammengebracht werden, ohne dass einzelne Perspektiven unterdrückt werden. Dies spiegelt sich im zitierten europäischen Motto wider und bedeutet – gemäß dem sogenannten Vertrag von Lissabon aus dem Jahre 2007 – für Sprachen und Kulturen: „Sie [die EU; BI] wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas.“ (EU 2007, Artikel 2 (3))

Den offiziellen europäischen Verlautbarungen nach sind die kulturelle und sprachliche Vielfalt Teil der DNA der Europäischen Union und folglich ist die Bewahrung dieser Vielfalt – und gerade nicht ihre Überwindung – identitätskonstitutiv für Europa. Die „Vielsprachigkeit europäisiert Europa“ (Beck/Grande 2007: 158). Der fundamentale Unterschied zur Vision von Van Parijs in Bezug auf das Fremdsprachenlernen ist, dass sprachliche Vielfalt nicht nur in den entsprechenden Ländern bzw. Regionen erhalten bleibt, wo diese Sprachen gesprochen werden und verwurzelt sind, sondern dass die Europäerinnen und Europäer Fremdsprachen lernen, Englisch, aber eben auch andere (europäische) Sprachen. Der Idee nach rückt Europa über das Sprachenlernen zusammen, wird Interesse und Respekt für die jeweiligen Kulturen ausgedrückt und werden Begegnungssituationen wahrscheinlich gemacht, in denen die Kenntnisse in der Landessprache des Gegenübers Akzeptanz und Anerkennung bedeuten. Darüber hinaus gehen mit den sprachlichen Zielsetzungen auch ökonomische Aspekte einher, insofern als „Fremdsprachenkenntnisse nicht nur dazu beitragen, das gegenseitige Verständnis der Völker zu fördern, sondern auch eine Voraussetzung für mobile Arbeitskräfte darstellen und der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Europäischen Union zugute kommen“ (EU 2006: 2). In diesem Zusammenhang spielen Sprachen wie Englisch, Französisch oder Deutsch eine gewichtigere Rolle als andere europäische Sprachen wie beispielsweise Slowenisch oder Finnisch, etwa was die Anzahl der SprecherInnen, die Verwendung der Sprachen in den unterschiedlichen europäischen Institutionen oder die Stellung der jeweiligen Sprachen als Schulfremdsprachen betrifft – worauf nachfolgend noch eingegangen wird. Unabhängig jedoch von der jeweiligen Stellung einer einzelnen Landes- oder Regionalsprache wertet die EU-Sprachenpolitik, die in der 2002 beschlossenen Formel ‚Erstsprache(n) plus 2‘ festgehalten ist, das Erlernen von Fremdsprachen fundamental auf. Ausgang des ‚plus 2‘ ist, dass Europäerinnen und Europäer über Sprachkenntnisse im Zuge des Erstsprachenerwerbs verfügen. Es handelt sich hierbei um diejenigen Sprachen, die ‚von Haus aus‘ erlernt werden, was beispielsweise in mehrsprachigen Gebieten oder im Falle migrationsbedingter Mehrsprachigkeit auch zwei oder mehr Sprachen sein können. Daran anschließend wird mit ‚plus 2‘ das Ziel ausgegeben, möglichst frühzeitig mindestens zwei weitere Sprachen aktiv zu erlernen. Im schulischen Fremdsprachenerwerb ist unter diesen Sprachen zumeist Englisch vertreten, um an die transnationale Kommunikation in der lingua franca innerhalb wie außerhalb Europas anzuschließen. Darüber hinaus sollen der Zielsetzung der ‚plus 2‘-Logik nach Europäerinnen und Europäer eine oder mehrere weitere europäische Fremdsprachen erlernen und dadurch spezifische Verbindungen zu bestimmten (Sprach-)Kulturen herstellen. Das eminent Europäische an diesem Modell ist das Erlernen weiterer Fremdsprachen, das über das Erlernen des Englischen hinausgeht. Die europäische Vision als Gegenmodell zu Van Parijs’ Entwurf ist, dass weiterhin und möglichst noch intensiver als bisher neben dem Englischen Menschen in Deutschland auch Russisch lernen, Menschen in Schweden auch Finnisch lernen, Menschen in Finnland auch Französisch lernen, Menschen in Ungarn auch Polnisch lernen usw. Diese Sprachenpolitik begründet sich eben nicht ausschließlich kommunikativ, sondern fußt eminent auf der Überzeugung, dass Sprache, Sprachverwendung und Identifikationsprozesse untrennbar miteinander verbunden sind. Demnach ist es im Sinne der Anerkennung und im Sinne des Erlebens sprachlich-kultureller Vielfalt für Europa wichtig, dass zum Beispiel Menschen in Europa auch Niederländisch lernen, selbst wenn mit den meisten Niederländischsprechenden die Kommunikation auch auf Englisch möglich wäre. Neben der per se existierenden Mehrsprachigkeit in bestimmten Regionen und Ländern Europas ist es somit gerade das gezielte Erlernen weiterer europäischer Sprachen, das als ein aktiver Identifikationsprozess auf europäischer Ebene anzusehen ist.

Dieses Modell spiegelt sich im europäischen Motto oder im ‚Europäischen Tag der Sprachen‘ (26. September) wider. Doch wie gestaltet sich der Gebrauch und das Erlernen von Fremdsprachen in Europa in der Realität? Grundlegend kann gesagt werden, dass die Stellung des Englischen in allen Bereichen an Dominanz gewinnt und dass zwischen den sprachenpolitischen Zielsetzungen der EU und den tatsächlichen Fremdsprachenkenntnissen wie auch dem Gebrauch der verschiedenen Sprachen eine Kluft zu konstatieren ist. Blickt man auf die konkrete Sprachverwendung in der EU, so werden offiziell alle aktuell 24 Amtssprachen in der EU „gleichermaßen [als] Arbeitssprachen der Institutionen“ (Europäische Kommission o.J.) ausgewiesen, jedoch ist beispielsweise die Arbeitssprache in der Europäischen Zentralbank lediglich Englisch; die Sprachen der Europäischen Kommission in Brüssel sind Englisch, Französisch und Deutsch (vgl. Kruse/Ammon 2018: 45). Was die Europäische Kommission anbelangt, so weisen Kruse/Ammon ferner darauf hin, dass immer mehr Dokumente auf Englisch verfasst werden, um am Ende ihres Beitrags zu bilanzieren: „[T]he development towards a monolingual structure of the EU institutions is continuing.“ (54)

Neben der Sprachverwendung auf der Ebene der EU-Institutionen kann das Fremdsprachenlernen innerhalb der EU vermittels des europäischen Netzwerks ‚Eurydice‘ überblickt werden, das seit 2005 regelmäßig die sogenannten ‚Schlüsselzahlen zum Sprachenlernen an den Schulen in Europa‘ vorstellt (vgl. Eurydice 2005; 2008; 2012; 2017). Die Zahlen für das Jahr 2017 (vgl. Eurydice 2017: 71–81) zeigen, dass Englisch an den Schulen in der EU die mit Abstand meistgelernte Sprache ist (85 % in der Sek II), die auch als erste Fremdsprache zumeist früher und somit auch länger als andere Fremdsprachen gelernt wird. Als weitere Fremdsprachen neben dem Englischen wird primär Französisch (23 % in der Sek II), Deutsch (19 % in der Sek II) und Spanisch (19 % in der Sek II) unterrichtet. In vielen Ländern hat allein Englisch unter den Fremdsprachen den Status eines Pflichtfaches. Darüber hinaus zeigt sich diachron, dass im 10-Jahresvergleich die Zahl der Englischlernenden weiter gestiegen ist, während beispielsweise die Zahl der Französischlernenden kleiner und die der Spanischlernenden insbesondere in der Sekundarstufe II größer geworden ist. Anschließend daran lässt sich mit dem ‚First European Survey on Language Competences‘, im Zuge dessen die fremdsprachlichen Lese-, Schreib- und Hörverstehenskompetenzen von Schülerinnen und Schülern am Ende der Sekundarstufe I bzw. am Anfang der Sekundarstufe II in 14 europäischen Ländern getestet wurden, zu dem Ergebnis eines „overall low level of competences in both first and second foreign languages tested“ (Europäische Kommission 2012b: 5) kommen. Dabei sind die Kompetenzen in der ersten Fremdsprache, die zumeist Englisch ist, deutlich höher als in der zweiten Fremdsprache (vgl. ebd.). Und was den Fortschritt in den sprachlichen Kompetenzen anbelangt, kommt das Eurobarometer 386 ‚Europeans and their Languages‘ zu dem Schluss: „[T]here are no signs that multilingualism is on the increase.“ (Europäische Kommission 2012a: 142)

Es besteht somit eine gewisse Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Betrachtet man die genannten Punkte unter dem Aspekt der Mehrsprachigkeit, dann zeigen sowohl die unterschiedliche Sprachverwendung in den verschiedenen Institutionen der EU als auch die Zahlen zum Fremdsprachenlernen in der EU, dass die Förderung von Mehrsprachigkeit im EU-Kontext nie bedeutet hat, dass alle Sprachen die gleiche Förderung oder das gleiche Maß an Nutzung genießen.8 Auch für den vorliegenden Beitrag wird Mehrsprachigkeit bzw. das Erlernen weiterer Fremdsprachen neben dem Englischen nicht so verstanden, dass alle Sprachen in gleicher Weise zu fördern wären, beispielsweise Estnisch oder Friesisch in gleicher Weise wie Französisch. Pragmatismus und Relevanz können auch für eine Sprachenpolitik, die nicht der Van Parijs’schen Ökonomie folgt, insofern als leitend gelten, als es zum Beispiel für kaum eine normalgroße weiterführende Schule sinnvoll und zu bewerkstelligen wäre, Fremdsprachenunterricht in mehr als zwei, drei oder vier Fremdsprachen anzubieten. Und was die Relevanz betrifft, so ist das Erlernen des Tschechischen für Menschen in Portugal möglicherweise weniger relevant als für Menschen, die an der deutsch-tschechischen Grenze leben. Gleichwohl bleibt das Argument bestehen, dass es aus Sicht der europäischen Sprachenpolitik nicht genügen kann, wenn in Portugal aus Pragmatismus- und Relevanzgründen niemand andere Sprachen erlernen würde als Englisch (und ggf. noch die Nachbarsprache Spanisch).

Neben den Aspekten des Fremdsprachenunterrichts und der Bildungspolitik kann sich in Hinblick auf eine europäische Identität jede/r Einzelne in Europa die Frage zu stellen: Wie stellen wir uns das europäische Projekt vor? Welche Schritte wollen wir in welche europäische Zukunft gehen? Wie bewerten wir sprachlich-kulturelle Vielfalt? Welche Rolle sollen Sprachen spielen? Es ist davon auszugehen, dass die Bedeutung des Englischen als Schulfremdsprache und als globale lingua franca dominant bleiben wird. Und es ist evident, dass Fremdsprachenlernen eine zuweilen lebenslange Anstrengung bedeutet, die viel Mühe und auch Geld kostet. Ob wir uns schneller in eine Zukunft im Sinne von Van Parijs oder im Sinne von Trabant entwickeln, wird unter anderem von individuellen Entscheidungen wie auch von bildungspolitischen Entscheidungen abhängen. Wird der Gebrauch des Englischen in immer mehr Sprachkontaktsituationen zur Norm? Verliert der Fremdsprachenunterricht außer Englisch weiter an Bedeutung, zum Beispiel weil er nicht abiturrelevant ist und (obgleich später begonnen) früher abgewählt wird? Werden aus vier Schulstunden Spanisch- oder Russischunterricht drei Schulstunden und dann irgendwann zwei Schulstunden? Es deutet vieles darauf hin, dass dies der Weg ist, der eingeschlagen wird. Nimmt man jedoch die Bedeutung des Fremdsprachenlernens jenseits des Englischen für Europa ernst, dann ist die von Caspari (2021) konstatierte ‚Krise der Schulfremdsprachen außer Englisch‘ besorgniserregend. Dann wäre zu überlegen, nicht nur wie man den keinesfalls zufriedenstellenden status quo der Schulfremdsprachen außer Englisch halten kann, sondern wie deren Bedeutung aufgewertet werden kann. Im Sinne der Argumentation dieses Beitrags wäre ein Mehr an Fremdsprachen die notwendige europäische Antwort, nicht ein Weniger.

Setzen sich jedoch die beobachtbaren Tendenzen fort bzw. setzen sich Modelle durch wie dasjenige, das Van Parijs propagiert, dann lautet die Frage: Was wird Europa verloren gegangen sein, wenn sich die Kulturen Europas für die Europäerinnen und Europäer nur noch auf Englisch und in englischer Übersetzung erschließen lassen? Der vorliegende Beitrag hat sich in dieser Hinsicht kritisch mit der Position von Van Parijs auseinandergesetzt, die sowohl akademisch als auch im Feuilleton in den vergangenen Jahren intensiv diskutiert worden ist. In Hinblick auf das ‚Fremdsprachenlernen in/und Europa‘ lautet die Replik an LJ und die Antwort auf die Frage, warum man eigentlich noch andere Fremdsprachen außer Englisch lernen sollte: Wenn Europa mehr als ein gemeinsamer Wirtschaftsraum sein möchte, dann müssen sich die Menschen „in ihrem sprachlichen Verhalten ernsthaft aufeinander einlassen und sich aufrichtig umeinander bemühen“, wie Weinrich (1988: 312) es vor Jahrzehnten ausgedrückt hat. Dann gehören die Perspektivenübernahme über Grenzen hinweg und das sprachliche Eintauchen in die Sichtweisen und das kulturelle Erbe der ‚Anderen‘ fundamental zu Europa. Dies ist aus europäischer Sicht nicht allein über Kompetenzen im Englischen zu bewerkstelligen, sondern nur durch ein Bemühen um und Erlernen von mehreren Sprachen im Sinne der sprachenpolitischen ‚plus 2‘-Formel. Dazu zählt natürlich an prominenter Stelle das Englische, mit oder ohne Großbritannien als EU-Mitglied.9

Es lässt sich somit mit Bezug auf die Position von Van Parijs resümieren, dass für das Erlernen von Fremdsprachen eine zweifache identifikatorische Bedeutung für Europa postuliert werden kann: Englisch als die im schulischen Fremdsprachenunterricht am häufigsten und am längsten gelernte Fremdsprache fördert die Kommunikation über sprachliche Grenzen hinweg, ganz im Sinne von Van Parijs. In vielen Sprachkontaktsituationen auf europäischer Ebene ist dieser kommunikativ-funktionale Gebrauch des Englischen möglicherweise nicht angebunden an einen die Kommunikationssituation umgebenden Sprachkulturraum, sondern das Englisch fungiert hier als Ersatzsprache, um Kommunikation sicherzustellen, die sonst möglicherweise nicht oder nur schwerlich stattfinden könnte. Daneben gewährt das Erlernen zahlreicher anderer europäischer Sprachen Menschen in Europa die Möglichkeit, sich über Englisch hinausgehend mit anderen Sprachen und Kulturen zu beschäftigen, Interesse zu entwickeln und Identifikationspotenziale zu eröffnen. Dieser eminent europäische Aspekt, der den sprachpolitischen Zielsetzungen der EU entspricht und der in fundamentalem Gegensatz zu Van Parijs steht, geht über rein sprachliche Funktionalität weit hinaus. Angesichts der ‚Krise des Fremdsprachenunterrichts‘ ist diese europäisch-identifikatorische Bedeutung des Fremdsprachenunterrichts hervorzuheben. Und gleichwohl kann das Fremdsprachenlernen als eine Antwort gegeben werden, wenn es um die Krise Europas im Sinne eines Mangels an innereuropäischem Zusammenhalt geht.

Trabant richtet am Ende seines Buches den Blick von der Gegenwart aus zurück und beklagt das letzte Ertönen des Bretonischen in Liedern als letzte Artikulation vor einem endgültigen Verklingen:

Diese Sprache ist in ihrem Land verklungen. Die neue Sprache des Paradieses – in diesem Fall Französisch – hat die alte Babelsprache verdrängt. Aber wenn beim Hochzeitsmahl, in der Nacht, alle betrunken sind, erschallen plötzlich noch die alten Lieder in der verklungenen Sprache. Das Gespenst der alten Sprache rumpelt also noch im Keller des kollektiven Unbewussten der Sprecher der Sprache des Neuen Paradieses, es kündet vom Verlust, von der großen Ungerechtigkeit des Verstummens der Sprachen. (Trabant 2014: 208)

Auch ich möchte abschließend ein Beispiel aus der Musik anführen, jedoch den Blick vom hier aus nicht zurück, sondern nach vorne richten. Anders als Trabant blicke ich hier nicht auf das Verschwinden von Sprachen. Ich prophezeie nicht den bevorstehenden Niedergang des Spanischen, sodass niemand mehr das Lied „Letras“ der spanischen Band elbicho sprachlich zu verstehen vermochte. Aus der Sicht von Van Parijs haben genügend Kollektive das Spanische zu ihrer ‚Königin‘ erhoben, sodass ihr Fortbestehen gesichert scheint. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es ein Verlust für die europäischen Kulturen wäre, wenn aufgrund mangelnder sprachlich-kultureller Kenntnisse kaum mehr jemand außerhalb Spaniens dieses Lied verstehen würde. Was ginge verloren, wenn sich dieses Lied und seine kulturelle Bedeutung lediglich in englischer Übersetzung erschließen ließe? Und was ist mit den Bereichen des kulturellen Lebens, die sich nicht sprachlich übersetzen lassen, etwa das spontane kollektive ‚Geschehen‘ einer Gitarre, einiger Singender und vieler klatschender Hände auf irgendeinem Platz, in irgendeiner Nacht im Albaicín? Wären die nunmehr nur noch Englisch sprechenden Europäer nicht allesamt als sprachlich und kulturell unverbundene innocent bystander zu begreifen? Die europäische Vision ist meines Erachtens nicht so zu verstehen, dass jede/r Europäer/in auf diesem Platz im Albaicín alles verstehen können und sprachlich-kulturell mit dem Geschehen verbunden sein soll. Sie bedeutet vielmehr, dass es für möglichst viele Europäer/innen mindestens einen solchen Platz des sprachlich-kulturellen Verbundenseins irgendwo in Europa geben sollte.

Notes

  1. Angesichts der inflationären Verwendung des Krisenbegriffs, die als solche zum Symptom für die Komplexität (post-)moderner Lebenswelten geworden ist (vgl. Nassehi 2017: 122), wird auf den Begriff im weiteren Verlauf des Beitrags weitestgehend verzichtet. [^]
  2. Van Parijs konzipiert in seinem Buch den Begriff der Sprachengerechtigkeit in verschiedener Hinsicht, vgl. hierzu die entsprechenden Kapitel „Linguistic justice as fair cooperation“ (Van Parijs 2011: 50–86), „Linguistic justice as equal opportunity“ (87–116) und „Linguistic justice as parity of esteem“ (117–132). [^]
  3. Vgl. hierzu ausführlicher Van Parijs (2011: 189): „[M]ost professional linguists are understandably not keen to see the bulk of the world’s languages wither away […]. But most of them are probably also reasonable enough to admit, when pressed, that it would be unfair to attempt to induce some people to keep learning, talking, and teaching a language they would otherwise abandon, for the sole purpose of enabling a small bunch of inquisitive scholars to indulge their intellectual curiosity or to advance their careers by writing erudite pieces in academic journals.“ [^]
  4. Da es hier um die vor allem sprachenpolitische Frage um Mehrsprachigkeit in Europa geht, wird der fremdsprachendidaktische Diskurs zu Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigkeitsdidaktik hier nicht einbezogen. [^]
  5. Es sei hier angemerkt, dass die Frage, wie Fremdsprachen zu vermitteln seien, von Trabant in einer Weise behandelt wird, die sich fremdsprachendidaktisch in die Diskussion um ein ‚Bildungs- vs. Nützlichkeitsprinzip‘ (vgl. Rössler 2007: 9) einordnen lässt. In groben Zügen lässt sich sagen, dass Trabant die kommunikative Ausrichtung des modernen Fremdsprachenunterrichts insofern kritisch sieht, als sich seiner Meinung nach der „Bildungsgedanke zunehmend (…) verflüchtigt [und] die geforderte Sprachkompetenz immer anspruchsvoller“ (Trabant 2014: 102) wird. Da es jedoch nicht um die konzeptionelle Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts in diesem Beitrag geht, bleibt dieser Aspekt im Folgenden unberücksichtigt. [^]
  6. Vgl. hierzu exemplarisch die vielen Beiträge zu ‚Identität und Fremdsprachenlernen‘ in Burwitz-Melzer/Königs/Riemer (2013). Identität ist ein sozial- und kulturwissenschaftlich hochgradig aufgeladener und vielschichtiger Begriff (vgl. Niethammer 2000). Die terminologische Fachdiskussion kann hier aus Platzgründen nicht aufgegriffen werden, sodass von einem alltagssprachlichen Verständnis von Identität bzw. Identifikation ausgegangen wird. [^]
  7. Beispielsweise hebt die einflussreiche konstruktivistische Identitätstheorie von Benedict Anderson für das Aufkommen nationalstaatlicher Kollektividentitäten die Vorstellungstätigkeit in Bezug auf eine Gemeinschaft hervor (,imagined communities‘), die Anderson zufolge eminent auf die Rezeption etwa von Presse und Rundfunk zurückzuführen ist, also auf sprachliche Prozesse (vgl. Anderson 1991). [^]
  8. Bei Van Parijs wird stellenweise der entgegengesetzte Eindruck vermittelt, beispielsweise wenn der Autor in Bezug auf das Übersetzen und Dolmetschen von „massive ways in which the daily operation of the EU institutions expresses the equality of all official EU languages“ schreibt. Mit ähnlicher Argumentation, aber diesbezüglich deutlich expliziter als Van Parijs spricht der Soziologe Jürgen Gerhards davon, dass die EU zur Förderung der fremdsprachlichen Kompetenzen „alle Sprachen der Mitgliedsländer und auch die Minderheitensprachen gleichbehandelt“ (Gerhards 2010: 148), „ungeachtet ihrer Verbreitung“ (Gerhards 2015: 159). Wenn sich jedoch ‚ein Deutscher und ein Pole begegnen‘, um ein Beispiel von Gerhards aufzugreifen, dann ist es am wahrscheinlichsten, dass sie über Englisch und/oder Deutsch miteinander kommunizieren können. Dahingegen schreibt Gerhards: „Ein Deutscher, der Flämisch gelernt hat, und ein Pole, der jetzt des Lettischen mächtig ist, haben jeweils ihre Fremdsprachenkompetenz erhöht, sie können sich deswegen aber zu zweit nicht miteinander verständigen.“ (Gerhards 2015: 161) Gerhards Beispiel insinuiert, die Wahrung sprachlicher Vielfalt laufe darauf hinaus, dass vor allem sogenannte ‚kleine Sprachen‘ wie Friesisch und Lettisch gelernt würden. Diese Vision steht im Gegensatz sowohl zur Realität des Fremdsprachenlernens in Europa als auch zu den Vorschlägen und Plädoyers zum Erhalt sprachlicher Vielfalt, die allesamt von einer (auch zukünftig) dominanten Stellung des Englischen ausgehen. [^]
  9. Während dieser Text entsteht, schaut Europa und die Welt gebannt an die ukrainisch-russische Grenze. Zum jetzigen Zeitpunkt scheinen Panzer und schweres militärisches Gerät den Ausschlag über die Frage nach Krieg oder Frieden zu geben. Was aber wird morgen und übermorgen über Annäherung oder Eskalation entscheiden? Sollte Europa politisch weiter auseinanderbrechen und die Identifikation auf europäischer Ebene eine weitere Zerstückelung und Marginalisierung erfahren, dann ist das kein Argument gegen die Zielsetzung der Mehrsprachigkeit. Denn auch dann wäre ein vielsprachiges Europa, in dem viele Menschen europäische Sprachen sprechen, die nationalen und regionalen Besonderheiten ihrer Nachbarn kennen, sich für sie interessieren und sich mit ihnen identifizieren, die bessere Grundlage für Verständigung und Frieden. [^]

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Kurzbio

Benjamin Inal arbeitet nach abgeschlossener Promotion in hispanistischer Literaturwissenschaft sowie mehrjähriger Tätigkeit als gymnasialer Spanischlehrer als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich der Fachdidaktik des Französischen und Spanischen an der Universität Paderborn.

Anschrift:

benjamin.inal@uni-paderborn.de

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  • Benjamin Inal (Universität Paderborn)

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